Wilhelm Raabe
Die Leute aus dem Walde
Wilhelm Raabe

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Fünfunddreissigstes Kapitel

Es gewinnt den Anschein, daß die Sterne auch ihren Willen durchsetzen werden

Ausführlich und in allen Einzelheiten teilte das Freifräulein dem Polizeischreiber alle Vorgänge der letzten vierundzwanzig Stunden mit, wenn auch nicht auf dieselbe Weise, wie wir sie unsern Lesern erzählt haben. Gesenkten Hauptes ging Helene Wienand neben den beiden Alten; aber sie trug so schwer an den eigenen Kümmernissen, daß sie nur mit halbem Ohr auf die traurige Geschichte vom Ende des Hauses Poppen horchen konnte. Ihre Seele war gefangen auf dem Turme des Sternsehers Heinrich Ulex. Dort saß der kranke Vater neben dem weisen Freunde und Lehrer des verschollenen Geliebten; nur dort gab es Ruhe für sie, nur dort fand sie Trost. Die Worte des ehrwürdigen Greises hatten denselben schmerzstillenden Einfluß auf sie, dessen Macht Robert Wolf vor Jahren so sehr empfunden hatte. Verhältnismäßig heiter konnte sie nur dann sein, wenn sie im Giebelzimmer des Nikolausklosters saß, die unruhige Hand des Vaters in ihren Händen hielt, am Nachthimmel still die Sterne ihren Weg durch die Ewigkeit gingen und der Seher der kleinen ernsten Gemeinde feierlich die erhabenen Zeichen deutete, welche für alle betrübten, suchenden, zweifelnden Menschenseelen in dem unermeßlichen Raum des Weltalls geschrieben stehen.

Der Kreis um den Sternseher zog sich immer fester. Wenn in frühern Jahren die nächtlichen Zusammenkünfte der Alten aus dem Walde nur dann und wann stattgefunden hatten, so ging jetzt fast kein Abend vorüber, ohne daß man sich in dem Observatorium des Astronomen zusammenfand. Je tiefer der Lebensabend der drei Jugendgenossen aus Poppenhagen herabsank, desto mehr fiel alles Nichtige und Äußerliche von ihnen ab; das Freifräulein verschwand aus der Gesellschaft, Friedrich Fiebiger wurde nur noch sehr selten in seiner Stammkneipe gesehen. Lange nicht mehr so häufig wie sonst erging sich der Humorist in sarkastischen Bemerkungen über die Lebens- und Weltanschauung seines Freundes.

Es ist eigentlich ein bitter Ding, seine Ansicht deshalb aufgeben zu müssen, weil man zu sehr recht bekommt, weil einem das selbstaufgestellte Axiom von der lächerlichen Nichtigkeit aller irdischen Dinge an der eigenen Existenz zu klar demonstriert wird.

Der Polizeischreiber war aber der Mann, welcher sich drein finden konnte; – er verlor seinen Gleichmut nicht so sehr, daß er aus einem lachenden Philosophen ein grämelnder, weinerlicher Murrkopf wurde. Er warf seine Violine auch nicht ganz in den Winkel oder an die Wand; er musizierte weiter, wenn auch etwas dumpfer und melancholischer als sonst. »Eintönig unkte fort der Frosch sein elendig Sumpflied!« nannte er das mit freier Benutzung eines Verses Virgils. »Was soll die Kreatur auch anders tun; das Volk hat ganz recht, wenn es meint, der Mensch sei ein Amphibibichum, könne auf dem Trocknen nicht leben und müsse im Wasser umkommen«, fügte er dann wohl hinzu und – stopfte eine frische Pfeife.

Auch jetzt folgte er den beiden Frauen auf ihrem Wege zum Nikolauskloster, stieg mit ihnen die alte Wendeltreppe hinauf. Sie brauchten nicht mehr anzuklopfen. Heinrich Ulex öffnete seine Tür, ehe sie die oberste Stufe der Treppe erreicht hatten.

Alles unverändert in dem düstern Gemach! Jedes Bild, jedes Buch, jedes Instrument an seinem Platze! Aber in dem Schatten, welchen die grüne Studierlampe vergeblich zu verscheuchen strebte, suchte sich jemand zu verbergen, der beim Beginn unserer Geschichte nicht anders als mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen und mit bedauerndem Achselzucken über sein großes Hauptbuch weg, aus dem Fenster seines Kontors, drunten gegen Süden, zu diesem Klostergiebel emporgeblickt hatte. Ja, scheu vor jedem Fußtritt wich der Bankier Wienand in die Dunkelheit zurück und wagte sich nur dann hervor, wenn der Sternseher beruhigend sagte:

»Kommt, es sind Freunde! Kommt, ich will es!«

Nach dem Wort Julianes hatte der Kommerzienrat jetzt hier Schutz gesucht. In schrecklichster Weise war die warnende Drohung erfüllt. Verspottet hatte der große Kaufmann die Sterne und war den furchtbaren Mächten, den dunkeln Geistern der Erde anheimgefallen. Milde und voll Erbarmen sind die Sterne, die lichten himmlischen Kräfte; – zersprengt hatten sie die Fesseln des Unglücklichen und ihn wieder frei auf den Scheideweg gestellt. Nun hatte er zum zweiten Male im wilden Trotz die hohen Geister verachtet, und zum zweiten Male war er in die Gewalt der Dämonen gefallen. Auf Erden war keine Rettung mehr für den Bankier Wienand; zweimal ließen die Unterirdischen ihr Opfer nicht frei.

Helene eilte zu ihrem Vater und küßte ihm die Hand, diese Hand, welche noch immer die kindische Papierrolle hielt, von welcher der Polizeischreiber seinem Vorgesetzten erzählt hatte. Dem Sternseher berichtete das Freifräulein den Tod der Baronin Viktorine, und wie Fiebiger sprach auch Heinrich Ulex:

»Sie ist von einem traurigen Leben erlöst, Natur und Erziehung haben sie manchen Fehler begehen lassen; bittre Frucht hat sie aus dem Samen, welchen sie streute, geerntet. Arme Frau! Möge sie sanft ruhen.«

Nun saßen sie alle nach gewohnter Weise im Kreis, und dicht neben dem Sternseher kauerte der Irrsinnige und bewachte mit ruheloser Aufmerksamkeit jede Bewegung desselben.

Der eigentliche Gedankenaustausch über den Tod der Baronin von Poppen fand jetzt erst statt, wo jeder der drei Alten aus Poppenhagen seine Meinung darüber sagen konnte. Es konnte nicht fehlen, daß ein solches Ereignis die Jugenderinnerungen auf das lebendigste anregte. Sie erwachten auch, – traurig und freudig, trübe und lieblich stiegen sie empor. Das beschränkte, wunderlich vollgepfropfte Observatorium des Astronomen wurde zu dem großen Walde, aus dem die drei Alten stammten; nur von ihrer Jugend und dem, was daraus in den jetzigen Augenblick herüberklang, sprachen die drei Alten an diesem Abend.

Ohne Scheu und Scham konnten diese greisen Köpfe jedes Angedenken zurückrufen; vor keiner Stunde ihrer Jugend mußten sie erschrecken und errötend zurückweichen.

»Ich bin nun die Letzte meines Namens«, sagte das Freifräulein, »zugrunde geht das alte Geschlecht. Als man den letzten Herrn von Poppen tot in das Haus seiner Mutter trug, hat die Welt die Achseln gezuckt, und viele haben der Verachtung Spott hinzugefügt. Die närrische Mutter hat sich um den Sohn zu Tode gegrämt; aber, ihr Leute aus Poppenhagen, den grimmigsten Schmerz habe doch ich, ich allein, um den letzten Freiherrn von Poppen getragen. O es ist so schrecklich, so kläglich, das letzte Weib von einem Geschlecht zu sein, dessen letzten Männern der Hohn und der Spott in die Gruft folgte, denen die öffentliche Meinung den adligen ritterlichen Schild mit Lachen am Grabe zerschlug. Sie lachen! Sie lachen! Das ganze Volk lacht in seinen Häusern, auf seinen Märkten, in seinen Gerichtsstuben, in den Versammlungen seiner Abgeordneten und Vertreter. Weh, und es hat das Recht zu lachen; es kann, es darf nicht die Unschuldigen, Tapfern und Treuen von den Jämmerlichen und Erbärmlichen scheiden, wenn es ein starkes, mannhaftes Volk bleiben will. Ihr Männer von Poppenhagen, beklagt, beklagt das arme Freifräulein von Poppen, beklagt alle die, welche ihren Namen, ihr Geschlecht, ihren Wirkungskreis, alles, alles im Hohn des Volkes untergehen sehen und welche sich vor Gott und ihrem Gewissen auf die Seite der Spötter und Lacher stellen müssen.«

Die beiden Greise neigten sich gegen die alte Jungfer, wie sich einst stolze, tapfere, selbstbewußte Vasallen vor einer unglücklichen Lehnsherrin gebeugt haben würden.

»Fräulein von Poppen«, sagte der Schreiber, »in unserer Zeit, wo die bewegende Kraft in die Massen zurückfällt, wo selbst die Größten nur das wollen dürfen, was die Allgemeinheit will, in dieser Zeit steht der einzelne, der stets und mit aller Kraft das Edle und Gute gewollt hat, freier von Verantwortlichkeit für andere da als in irgendeiner andern Epoche. Geschlechter, Stände mögen im Lachen der Menge zugrunde gehen; der tadellose, fleckenreine Schild des einzelnen wird um so heller glänzen.«

»Juliane«, sagte Heinrich, »an dem Grabe des Sohnes der Baronin von Poppen zerbrach man nicht den Schild des alten Geschlechts; man zertrümmerte nur den Schild Leons von Poppen. Juliane von Poppen hat ihren eigenen Schild, und der wird ihr auf den Sarg gelegt werden, und niemand, niemand wird dabei lachen. Weinen wird man, recht von Herzen weinen, und nicht nach Ständen werden sich die Freunde um die Gruft drängen. Edelleute, Bürger und arme Proletarier werden der Geschiedenen Namen mit einer Stimme für recht edel erklären.«

»Ich danke euch, Freunde«, rief das Freifräulein durch Tränen lächelnd. »O es war doch damals eine schöne Zeit im Winzelwalde, als ich euch das Lesen lehrte! Wir haben uns gut durchgeschlagen und tapfer zu jeder Zeit zusammengehalten. Fast ein halbes Jahrhundert ist's her, seit die böse Mamsell Schnubbe unser Versteck im Eberkamp ausfindig machte und mein Vater mich halb tot schlug und ihr aus dem Winzelwalde davonlaufen mußtet, ihr armen Jungen. Nun sitzen wir hier, drei Grauköpfe, und sehen nach den Sternen –«

»Und die Sterne haben uns gut geführt«, sprach Ulex.

Fritze Fiebiger, der Polizeischreiber, nickte mit dem Kopfe.

»Zwei Hagestolze und ein – altes Fräulein. Die Sterne haben uns wirklich so gut als möglich geführt.«

Noch vieles sprachen Heinrich, Friedrich und Juliane von ihrer Jugend und den Sternen; der Kranke neben dem Sessel des Sternsehers schlief fest, wenn auch unruhig. Aus den Betrachtungen des Todes gelangten die drei Alten aus dem Walde allmählich immer mehr in die freundliche Helle des Lebens zurück; auch von Robert Wolf sprachen sie, von dem Jüngling aus dem Walde, und lichte Glut flog nun über Helenes bleiches, abgehärmtes Gesicht. Bis jetzt hatte sie auf das Gespräch der Greise nur halb horchen können. Die eigenen Gedanken ließen sie nicht los, und wie sie sich auch abmühte, den Geist auf das Nächste zu richten, ihn in dem Kreise der Freunde, an der Seite des unglücklichen Vaters festzubannen: immer von neuem wurde ihre Seele widerstandslos entführt, hinausgewirbelt in die Weite, auf unbekannte Pfade, über fremde Wildnisse, über unermeßliche Wüsteneien von Land und Wasser. Das Brausen und Sausen um den alten Klostergiebel, jedes stärkere Anschwellen des Windes nach kurzer Ruhepause erhöhte dieses ahnungsvolle, bange, ruhelos suchende Gefühl. Ach, die Alten, welche mit dem Leben abgeschlossen hatten, hatten gut die Sterne loben!

Jetzt aber ahnte der feinfühlende Gelehrte, was im Herzen des jungen Mädchens vorging. Sanft nahm er die Hand desselben und sprach:

»Du liebes Kind, fasse Mut! Für jeden, jeden kommt die Stunde, wo er die Sterne preist – früher oder später, hier oder dort oben. Keiner bleibt ewig ausgeschlossen; für jeden, jeden kommt der Augenblick, wo alles ausgeglichen, alles gut ist. Keiner bleibt trotzend oder mit verhülltem Angesicht im Winkel stehen, während die andern vom liebenden Arm der Mutter warm umschlungen werden. Hoffe, hoffe, liebes Kind; du darfst es; die Hoffnung der Jugend liegt noch vor dem Grabe. Gib den Sternen die Deutung der Jugend, solange du jung bist. Ja, horche nur auf den Fußtritt des Glückes. In jedem Augenblick kann es kommen, dich in ein neues helles Dasein zu führen.«

Und während der Alte auf dem Turme so sprach, schritt ein Wanderer schnell durch die Gassen der Stadt. Der letzte Eisenbahnzug, der von Norden her die Stadt erreicht, hatte diesen Wanderer herübergeführt; es war Robert Wolf. Ein Wundarzt, welcher den letzten Teil der Reise mit ihm zusammen machte, hatte ihm mit aller Gewalt zur Ader lassen wollen, weil er eine Gehirnentzündung oder dergleichen bei dem jungen aufgeregten Passagier im Anzug glaubte. Eine Reisetasche mit den Buchstaben R. W. figurierte später im Verzeichnis der in den Wagen vergessenen Gegenstände.

Mit einem Satze aus dem Coupé und vorüber an den mißtrauischen Helfershelfern des Polizeischreibers Fiebiger! Mit einem Sprung aus der Halle in die Gassen! O wie die Pulse klopften, wie es vor den Augen flimmerte, wie die Gaslichterreihen tanzten!

Es ist ein weiter Weg vom Hamburger Bahnhof bis in die Mitte der Stadt, bis zur Musikantengasse, bis zum Nikolauskloster; aber keine Prämiendroschke hätte ihn schneller zurückgelegt als Robert Wolf. Erst an der Ecke der Kronenstraße mäßigte er seine Schritte; zwischen der einstigen Wohnung des Bankiers Wienand und dem von Poppenschen Hause stand er einen Augenblick ganz still. Der holde Baptiste war nicht mehr beauftragt, ihn zu überwachen; – dunkel waren die Fenster zu beiden Seiten der Häuser, zwei derselben in der Nummer fünfzig waren geöffnet, und der Wind hatte die weißen Gardinen hervorgerissen und warf sie gespenstisch hin und her. Die Straße war nicht sehr belebt, alle Vorübergehenden hätte Robert Wolf fragen mögen, ob sie nichts wüßten von den beiden dunkeln Häusern und ihren Bewohnern. Endlich riß er sich los von der Stelle, die ihn so gewalttätig bannte; weiter schritt er durch die bekannten Gassen, durch das Labyrinth, welches ihn vor Jahren so sehr geängstet hatte. Jetzt schreckten die aufgetürmten Steine, das Drängen des Volkes den Mann nicht mehr, der das Kap Hoorn umschifft hatte, der über die großen Prärien geritten war.

Noch eine Ecke und da – da war die Musikantengasse, da war das Haus Nummer zwölf. Ein Heimchen zirpte laut unter der Schwelle; aber nur das mittlere Stockwerk, in welchem jetzt ein Beamter wohnte, war erleuchtet. Weiter oben war alles dunkel, der Partikulier Mäuseler befand sich im Roten Bock; der Gatte der liebenswürdigen Angelika gähnte wahrscheinlich eben auf der andern Seite der Erdkugel den jungen amerikanischen Tag an. Wo der Polizeischreiber Fiebiger sich befand, wußte Robert Wolf, und so trat er nicht ein in das Haus, sondern grüßte nur ernst und gerührt nach den höchsten Fenstern desselben hinauf.

Da war das dunkle Gäßchen und das Fenster der Kammer, in welcher der Meister Johannes Tellering gestorben war! Da war die niedere Pforte, welche in den gerümpelvollen Hof des Nikolausklosters führte, da war die steile Wendeltreppe, der Schleichweg der Mönche, wo der Schüler des Sternsehers sonst drei Tritte für einen genommen hatte! Heute stieg er Tritt für Tritt empor und hielt sich krampfhaft an dem baufälligen, knackenden Geländer; gleich einem Trunkenen schwankte er. Alle Ecken und Winkel am rechten Fleck! Auch die Ecke, an welcher man sich so leicht das Schienbein zerstieß! Tüchtig rannte Robert Wolf dagegen, aber er hatte kein Gefühl für den Schmerz.

Und im Giebelzimmer des Sternsehers sagte eben Juliane von Poppen: »Es ist Zeit zu scheiden; wir müssen gehen, Helene!« Da richtete sich Ulex horchend auf, und Fiebiger sprang empor.

Welch ein Schritt draußen?!

Lautlos, regungslos horchte der kleine Kreis, und dann klopfte es an der Tür, und die Tür öffnete sich. Der Polizeischreiber stieß einen ganz unpolizeimäßigen Schrei aus, der Gelehrte hob die Hände; Helene Wienand erhob sich geisterbleich, zitternd an allen Gliedern, und das Freifräulein ließ den Krückstock fallen.

In den Armen hielt Friedrich Fiebiger den Pflegesohn:

»Da bist du! Da bist du! O jetzt lobe ich auch ohne Vorbehalt die Sterne. Junge, Junge, mein lieber Junge, da bist du endlich.«

Er ließ ihn nur los, um ihn dem Sternseher hinzuschieben:

»Da hast du ihn auch! Da habt ihr alle ihn! Er ist es! Die Kannibalen haben ihn nicht gefressen. Gepriesen seien die Sterne!«

»Gesegnet sei dein Eingang, liebes Kind!« rief Ulex mit hochbewegter Stimme. »Wir haben dich mit Sehnsucht erwartet, aber ich wußte wohl, daß du zu rechter Stunde kommen würdest.«

Sprachlos, mit überströmenden Augen, blickte Robert umher, er sah auch Helene und wollte auf sie zu; doch das Freifräulein trat jetzt heran, dicht heran an den heimgekehrten Wanderer. Sie hatte die Lampe vom Tisch genommen und ließ den Schein derselben ihm voll ins Gesicht fallen und sah ihm aufmerksam und prüfend in die Augen. Sie sah in das mannhafte Gesicht und sah die hellen Tränen an den Wimpern hängen, sie setzte die Lampe nieder, reichte dem Jüngling die Hand und sprach:

»Du hast dich gut gehalten; – sei willkommen!«

Seine hohe Gestalt beugte Robert, um der alten Dame die Hand zu küssen; aber sie faßte ihn um den Hals und küßte ihn auf die Stirn. Dann warf sie in ihrer alten Weise den Kopf zurück und sagte mit vollständig verändertem Ton und Ausdruck:

»Nun, junger Herr, wollen Sie meinem Kinde hier kein Wort sagen? Komm her, Helene; komm aus dem Schatten, Liebchen; die Sonne will wieder in dein Leben scheinen.«

Einen Schritt trat Robert vor, doch dann blieb er stehen, wie eingewurzelt; aber Helene Wienand breitete die Arme aus, und – nun war alles gut. Der Sternseher Heinrich Ulex leitete sanft den irrsinnigen Vater zu den beiden Kindern und legte die Hand desselben auf die verbundenen Hände Roberts und Helenes. Der Bankier sah nur den Astronomen an, und als dieser das Haupt neigte, nickte er auch wohl hundertmal hintereinander und lächelte scheu blinzelnd, als freue er sich, daß er etwas tue, was dem weisen Mann gefalle.

»Seid glücklich in eurer Liebe, Kinder!« sagte der Sternseher. »Wenn in diesem Augenblick der Schleier von der Seele dieses Armen fiele, so würde er nicht mehr trennend zwischen euch treten. Preise die Sterne, Sohn; sie haben dir ein gutes Teil gegeben, und ein hohes Glück hast du gewonnen; nun halte es fest und laß es dir durch nichts rauben. Du aber, Tochter, erinnere jenen immer, wenn es not ist, daß auch hinter der Entsagung das Glück liegen kann; – und deine Kinder lehre auch, nach den Sternen zu blicken; viel schwerer als den Müttern wird es jedem andern spätern Lehrer.«

Wir sind durch alles, was nun noch an diesem Abend auf dem Giebel des Nikolausklosters besprochen wurde, selbst geschritten. Sie hatten alle im kleinen Kreise viel erlebt und wohl auch viel erduldet. Viel besser ließ sich das, was in Briefen, die auf der Fahrt ums Kap Hoorn verloren gegangen waren, gestanden hatte, mündlich sagen. Sie gaben nun ausführlich einander Bericht und verschwiegen nichts. Die beiden, welche lieber im stürmenden Meer als in einem hübschen Teich voll Wasserrosen und flüsternden Schilfs versinken wollten, schwebten durch den Raum, und alle im Kreise bis auf den Kranken grüßten in gedankenvoller Trauer die Schatten von Friedrich und Eva Wolf.

Als Robert die Erzählung seiner Abenteuer und Schicksale beendet hatte, sprach der Polizeischreiber dem König Salomo die Worte nach, welche wir diesem Buche vorangesetzt haben: »Ein Messer wetzet das andere und ein Mann den andern.« Mit einem schlauen Blick auf Helene jedoch fügte er hinzu: »Die Weiber aber wetzen tüchtig mit; – wenn die Sterne ihren Segen geben, so müssen wir am Ende wohl scharf werden.«

Von den Plänen, die Robert Wolf schon auf seiner Überfahrt von New-Orleans nach Hamburg in Hinsicht auf den Poppenhof gefaßt hatte, sprach er auf dem Turm des Sternsehers nicht. Erst als er mit dem Polizeischreiber in dem alten verräucherten Gemach in der Musikantengasse allein war, teilte er sie dem Pflegevater mit, und nachdem dieser den »jungen Kapitalisten«, den »Glückspilz« aus Poppenhagen beglückwünscht hatte, fand er den Plan »räsonabel«, und man beschloß, an Otto Krokisius zu schreiben. »Ja, kaufe das alte Junkernest«, sagte der Schreiber. »Es liegt eine eigentümliche Gerechtigkeit darin. Führe dein junges Weib als Herrin an den Ort, welchen der letzte Freiherr von Poppen nicht behaupten konnte; erhalte dem letzten Fräulein von Poppen die Heimat. Wahrlich, die Bauern haben diesmal den Rittern das Spiel abgewonnen!« Der Morgen dämmerte über den Dächern – der Tabaksqualm war undurchdringlich. Man beschloß, gar nicht mehr zu Bett zu gehen, und Robert kochte, unendlich glücklich und hoffnungsreich, in alter Weise den vortrefflichen Kaffee, dessen Bereitung ihn einst der alte Heimatsgenosse gelehrt hatte.


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