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Bewegungskräfte und Erscheinungsformen des Staaten-Wachstums

Das Volk wächst, indem es seine Zahl vermehrt, das Land, indem es seinen Boden vergrößert, und da das wachsende Volk für seine Zunahme neuen Boden nötig hat, so wächst das Volk über das Land hin. Zunächst macht es im Inneren sich und dem Staat Boden dienstbar, der bisher unbesetzt gewesen war: Innere Kolonisation . Genügt dieser nicht mehr, so treibt das Wachstum nach außen, wobei alle Formen räumlichen Wachstums durch die Erweiterung des Horizontes, den Handel und Verkehr, die religiöse und nationale Ausbreitung endlich notwendig zum Landerwerb führen: Äußere Kolonisation . Das kriegerische Vordringen, die Eroberung , ist oft eng mit ihr verbunden. Das wechselseitige Zusammenwirken der einzelnen bei der Kolonisation, wobei einer den andern unterstützt, macht für sich allein keinen Staat) die dadurch entstehenden Arbeitsleistungen wechseln auf Nachfrage und Angebot und erzeugen das kaleidoskopisch wechselnde Bild sehr veränderlicher Beziehungen: das ist nur die Gesellschaft . Der Staat entsteht erst, wo die Gesamtheit zu Zwecken vereinigt wird, die nur Zwecke der Gesamtheit sind und nur durch gemeinsame Anstrengungen von einer gewissen Dauer erreicht werden können. Im Staat wird der Vorteil des Ganzen unmittelbar gefördert, in der Gesellschaft mittelbar. Die beiden Arten des Zusammenwirkens sind also wohl zu unterscheiden.

 

Die Voraussetzungen der Kolonienbildung sind dreifach: Land, um die Kolonie anzupflanzen; Volk, das mit diesem Lande sich zur Kolonie verbindet; Bewegungen, die das neue Land mit dem alten in Verbindung sehen und ihre Vereinigung aufrechterhalten. Diese drei Voraussetzungen sind darin sehr verschieden, daß die erste nach der Natur unserer Erde nur beschränkt sein kann, während die beiden anderen unbeschränkt sind. Das verfügbare Land bleibt immer dasselbe, wählend die Menschen sich erneuern und vermehren und damit auch die expansiven Bewegungen wachsen machen. Kolonisation ist damit längst Verdrängung geworden.

 

Die Unterbringung ihrer Auswanderer ist für alle rasch wachsenden Völker eine Lebensfrage und wird der Anlaß zu politischen Schwierigkeiten für die, denen keine großen Kolonien zur Verfügung stehen.

Auf neuem Boden arbeiten Völker kulturlich wie politisch unter viel günstigeren Bedingungen als auf altem. Die weiten Räume wirken auf Seele und Geist. Auf dem weiteren Raum findet das wirtschaftliche Gedeihen einen neuen, vielfach besseren Boden, aber es findet auch die anspornenden Aufgaben einer gewaltigen inneren Kulturarbeit. Im Anfang kostet diese Arbeit viele Opfer, alle Anfänge der Kolonisation haben einen heroischen Zug , zugleich wächst aber auch die natürliche Vermehrung und damit die Widerstandskraft des Ganzen.

Kein besseres Zeugnis für die Tüchtigkeit eines Volkes, als wenn es sich in der Kolonisation bewährt. Koloniengründung und Kolonienerhaltung, das sind in der Tat Prüfsteine für ein Volk. Welche Gefahr liegt allein in den rein materiellen Bestrebungen, auf die im Anfang jeder Besiedelung die Umstände den Menschen hindrängen! In dem oft jahrelangen Entbehren aller geistigen Nahrung! In dem Zusammenströmen mehr als catilinarischer Existenzen nach diesen Grenzstrichen der Kultur, das, vom alten Rom bis Kalifornien und Colorado herab, sich immer mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit wiederholt hat! Der Leiden und Gefahren der Wildnis gar nicht zu gedenken! Da ist es gerade wie mit einem Menschen, bei unversehrt aus der Prüfungszeit einer schweren Krankheit hervorgegangen ist. Man faßt Vertrauen zu dieser gesunden Natur, die ungeschädigt so viel überstanden hat, und baut für die Zukunft auf sie.

Die gewaltige Veränderlichkeit des Kolonialbesitzes ist das sprechendste Zeugnis seiner Jugendlichkeit.

 

Die Geographie legt das Hauptgewicht auf die Eigenschaften des Gebietes, die aus dem Leben des Staatsorganismus hervorgehen. Der lebendige Staat läßt sich nie vollständig in die toten Grenzen eines abgemessenen Flächenraums bannen. Das Vorrücken oder Zurückgehen der eigentlichen Grenze gehört zu diesen Lebenszeichen.

Jedes Staatsgebiet ist als ein Stück Erdboden auch ein natürliches Gebiet.

Jedes Volk richtet auf sein Gebiet alle seine Kräfte und Fähigkeiten, um für seine kulturliche und politische Entwicklung daraus den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Seine Entwicklung ist ein Kampf mit seinem Wohngebiet, in dem für die politische Organisation die Vorteile gewonnen werden, deren dieser Boden fähig ist. Je mehr das Gebiet solche Vorteile hat, desto leichter lebt das Volk in sein Gebiet sich ein. Das Volksganze will ein Naturganzes werden , will ebendeswegen ein geschlossenes oder doch übereinstimmend geartetes Gebiet für sich haben.

 

An geographische Selbständigkeit schließt sich politische an. Deshalb ist die Frage nach der geographischen Selbständigkeit für die politische Geographie immer eine der wichtigsten. Die geographische Selbständigkeit einer Landschaft liegt in der Behauptung ihrer Eigenart gegen die Umgebung. Die Größe kann sie darin unterstützen, gehört aber nicht wesentlich dazu. Geographische Vorstellungen, religiöse und nationale Ideen sind von jeher von stärkstem Einfluß auf das Staatenwachstum gewesen. Die Erweiterung des geographischen Horizontes, eine Frucht der geistigen und körperlichen Anstrengungen zahlloser Geschlechter, stellte dem räumlichen Wachstum der Völker immer neue Gebiete zur Verfügung, und wie die geistige Umfassung der Erde fortschritt, fand jede neue Stufe ihren politischen Ausdruck.

Diese wachsenden Räume jedesmal politisch zu bewältigen, sie zu verschmelzen und zusammenzuhalten, verlangte indessen Kräfte, die nur mit der Kultur und durch die Kultur sich langsam entwickeln konnten.

Wir sehen sehr oft der politischen Expansion die religiöse voranschielten, aber noch größer ist die Wirkung des Verkehrs, den wir auf alle Expansionsbetriebe wie ein mächtiges Schwungrad belebend einwirken sehen.

Das Wachstum der Staaten folgt Wachstumserscheinungen der Völker, die ihm notwendig vorausgehen. Das Wachstum der Staaten ist nur eine von den Formen der politischen Raumbeherrschung. Es gibt andere Ausbreitungen, die rascher fortschreiten als der Staat, daher ihm vorauseilen und den Boden bereiten. Ohne eigenen politischen Zweck, treten sie mit dem Leben der Staaten in die engste Verbindung, hören aber deshalb nicht auf, über die Staaten hinauszustreben. Dieses Leben liegt in den Ideen und Gütern, die von Volk zu Volk nach Austausch streben. Vom gleichen Ausbreitungstriebe beseelt und gleiche Wege wandernd, finden Ideen und Waren, Missionare und Kaufleute sich oft zusammen, beide nähern die Völker einander, machen sie ähnlich, bereiten damit den Boden für politische Annäherungen und Vereinigungen. Tempel- und Kanalbauten, theokratische und Verkehrsbestrebungen, gehen als staatserhaltende Mächte nebeneinander her.

Von Cäsars Versuch der Eroberung Britanniens, der ein Land entschleierte, das für Virgil »jenseits der Grenzen der Welt lag«, bis auf die Gegenwart herab sind die größten Erfolge der expansiven Politik durch die geographischen Entdeckungen vorbereitet worden.

Nachdem Deutschland und Italien in den letzten Jahrzehnten [d.h. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; d. Hrsg.] seltene Beispiele von politisch selbstloser Teilnahme an der Erforschung Afrikas gegeben hatten, wuchsen die politischen Ziele ihnen zuletzt doch ganz von selbst auf ihren Forschungsgebieten entgegen.

Dieser enge Zusammenhang der geographischen Entdeckungen mit der Erweiterung des politischen Schauplatzes verleiht der Geschichte der Geographie eine unmittelbare Beziehung zur politischen Geschichte.

Das geographische und ethnographische Wissen ist eine politische Kraft . Das politische Wachstum hat immer mehr geistige Elemente in Plan und Ausführung in sich aufgenommen. Darum wird man ihm auch immer weniger gerecht, wenn man es nur als die gewaltsame Vereinigung neuer Provinzen mit dem alten Besitz eines Landes auffaßt.

Viele halten die nationale Zusammenschließung für etwas Ursprüngliches, worauf die Weihe des Alters liegt. Dem ist gar nicht so. Unsere über weite Räume sich erstreckenden nationalen Bestrebungen kannte das Altertum nicht. Die alten Stammesgebiete waren eng, so wie die Menschenzahlen klein waren. Die Gebiete der Völker sind mit der Kultur ebenso gewachsen wie die der Staaten, und wenn sie heute so groß sind, daß sie über die größten Staatsgebiete noch hinausragen, wie das der Russen in Eurasien oder der Anglokelten in Nordamerika oder der Spanier in Südamerika, so ist diese Ausbreitung zum Teil eine Folge einer politischen, die vorangegangen war. So stammt das weite Gebiet der »lateinischen Rasse« in Europa von der einstigen Größe des Römischen Reiches. Aber heute wollen auch die Völker ihre Größe und Dauer auf möglichst breiten Raum gründen und glauben, ein Stamm sei stärker als ein Bündel Stäbe noch so stark verbunden.

Das Wachstum der Staaten empfängt in vielem seine Antriebe von der Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Die ersten Anregungen zum räumlichen Wachstum der Staaten werden von außen hineingetragen. Das sich selbst überlassene Wachstum eines einfachen politischen Körpers erneut und wiederholt diesen Körper immer neu, schafft aber aus sich selbst heraus keinen andern.

Woher stammt die Auffassung eines großräumigen Staates in kleinstaatlichen Gebieten? Ägypten und Mesopotamien, Syrien und Persien sind große, die Verdichtung der Bevölkerung auf einem engen Raum begünstigende Oasenländer; und sie sind rings von Gebieten umgeben, die ihre Bewohner zur Ausbreitung auffordern.

Daß das voreuropäische Amerika der Hirtenvölker entbehrt, die einst den größten Teil der Alten Welt beherrscht haben, nahm ihm ein nie ruhendes politisches Ferment. Und daher auch zum Teil die Schwäche seiner Staatenbildungen. Die Wirkung wandernder Hirtenvölker auf ansäßige Ackerbauer und Gewerbsleute zeigt indessen nur eine Seite eines tieferen Gegensatzes. Auch die Staatengründungen der seefahrenden Völker, der Phönizier, Normannen und Malayen und dann wieder die neuesten Kolonien der Europäer treffen auf die weltweit verbreitete Neigung der ansässigen und besonders der Ackerbauvölker, politisch zurückzutreten oder sich abzuschließen. Alle reine Ackerbaukolonisation neigt zur Erstarrung, ist mit politischer Schwerfälligkeit geschlagen, und der weltgeschichtliche Erfolg Roms liegt in der Befruchtung eines derben Bauernvolkes mit beweglicheren, weltkundigeren Elementen. Es ist ein Unterschied der geschichtlichen Bewegung, der sich durch die Menschheit zieht. Die einen beharren, die anderen dringen vor, und beides wird durch die Natur der Wohnplätze begünstigt, weswegen von Meeren und Steppen als Bewegungsgebieten aus die Staatenbildung in Wald- und Ackerländer als Beharrungsgebiete vordringt. In der Beharrung tritt Schwächung und Zerfall ein; das Vordringen fordert dagegen die dauernde Organisation der Völker.

 

Die allgemeine Richtung auf räumliche An- und Abgleichung pflanzt das Größenwachstum von Staat zu Staat fort und steigert es ununterbrochen. Es liegt im Wesen der Staaten, daß sie im Wettbewerb mit den Nachbarstaaten sich entwickeln, wobei die Kampfpreise zumeist in Gebietsteilen bestehen. Landerwerb wird das Ziel der politischen Entwicklung in dem Sinn, daß der größere Raum eines Staates den Nachbarstaat mit kleinerem Raum zu dem Streben bewegt, durch eigenen Raumerwerb den Unterschied auszugleichen, das »Gleichgewicht« herzustellen.

Im Grund ist es der räumliche Ausdruck eines abgleichenden oder anähnlichenden Strebens, das in allem Größenwachstum der Staaten als mächtiges Bildungsprinzip tätig ist.

Es liegt im Wesen des politischen Wachstums, daß, wenn die Nachbarstaaten einander ähnlich werden wollen und müssen, nicht bloß in der Größe sie sich anzugleichen suchen. Die Nachbarlage bedingt auch, daß sie sich in Vorteile der Lage oder Naturausstattung teilen, wodurch Gemeinsamkeit gewisser Interessen und Funktionen entsteht, die in manchen Fällen die Wettbewerbung bis zum Streben nach Verdrängung steigert.


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