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Gunst und Verhängnis der Lage

Die geographische Lage bezeichnet ein dem Erdboden angehöriges Beständige in der geschichtlichen Bewegung. Von einer bestimmten Erdstelle in immer gleichen Lage empfangen die Völker und Staaten immer denselben Eindruck, so wie ein Strom immer über derselben Stelle sich beruhigt oder aufwallt. Die Lage ist mehr als das Bleibende in der geschichtlichen Erscheinungen Flucht: sie stellt im Verlauf größerer geschichtlicher Prozesse gleichsam das Sammelbecken dar, in das die zur Ruhe strebenden Wellen nach raschem Aufwallen zurückeilen. Indem ein Voll seine Lage und damit sein Land erhält, erhält es sich selbst. Sein Land zu behalten und sich in seinen Grenzen auszuleben, sieht ein Volk als seinen nächsten Zweck an, zu dessen Verfolgung es aus den häufigen Versuchen zurückkehrt, sein Leben in einem fremden Berufe aufgehen zu lassen.

Die allgemeine Lage hält die wichtigsten Eigenschaften eines größeren Gebietes fest, ohne sie genau in denselben Grenzen zu umfassen. Ein Staat mag in ihr die Formen wechseln, ohne daß der politische Gehalt entsprechende Veränderungen erführe.

Die besondere Lage , d. h. die besondere, zu einer Zeit eingenommene Lage eines Landes kann und muß genauer bestimmt werden. Die Aufgabe ist leicht bei kleinen Räumen, wie Städte, Berge, Flußmündungen. Man kann sie auf Punkte zurückführen, die nach ihrer geographischen Breite und Länge bestimmt werden. Davon kann die politische Geographie der Länder wenig Gebrauch machen, die es in der Regel mit größeren und unregelmäßig gestalteten Räumen zu tun hat, deren Zurückführung auf einen Punkt der Erdoberfläche oft zu nichts anderem, als ganz unwahren, wertlosen Abstraktionen führen würde; sie muß vielmehr die Breiten- und Längengrade, die Meere, Gebirge, Flüsse bezeichnen, zwischen denen das Land gelegen ist.

Die natürliche Lage ist ein geographischer Begriff und kann rein geographisch gefaßt werden. Die politische Lage ist mindestens ein halbpolitischer Begriff.

Daß Vorteile der Lage früher und leichter erreicht werden als Vorteile des Raumes ist eine notwendige Folge der Wachstumsgesetze der Staaten.

Solange ein wachsendes Volk in derselben Zone bleibt, kann es seinen politischen Bau auf gleichartigem Boden aufrichten. Daher das Einfache und Natürliche eines solchen Wachstums verglichen mit dem Übergang in andere Zonen.

 

Was zuerst den einzelnen und dann die Völker beeinflußt, das übt auch seine Wirkung auf die Staaten. Den Staaten der kalten Länder verleiht die politische Energie, die geistige Kraft, die wirtschaftliche Tätigkeit ein entschiedenes Übergewicht über die der warmen. Die größten Staaten der Gegenwart: Großbritannien, Rußland, die Vereinigten Staaten, China haben ihren Ausgang aus kalten Ländern genommen; der Kern ihrer Macht liegt auch noch immer hoch im Norden: England, Schottland, das Großrussentum, Neuengland, Nordchina.

Sobald ein Staat aus einer Zone in eine andere sich ausdehnt, verändert er seine klimatischen Bedingungen. Der sich ausbreitende Teil seiner Bevölkerung muß sich dem Klima anpassen, sich akklimatisieren . Es gibt Organismen, die man starr nennen kann, und biegsame und schmiegsame, die fast allen klimatischen Bedingungen sich anpassen.

Die verschiedenen Rassen sind trotz aller Fortschritte in der Lebensweise und Hygiene noch immer in ganz verschiedenem Maße zur Ertragung fremder Klimate befähigt und ihrer Ausbreitung über die Erde sind damit deutliche Grenzen gezogen. Nicht selten wird durch die größere Akklimatisationsfähigkeit ein Weniger von anderen politischen und besonders kolonialpolitischen Fähigkeiten aufgewogen.

 

Das Mittelmeer , das Antillenmeer und das Meer Indonesiens sind Meere ähnlicher Lage zu den Erdteilen, die nördlich und südlich von ihnen liegen; sie sind auch ähnlichen Ursprungs und infolgedessen ähnlich in den Umriß- und Tiefenverhältnissen. Es sind Verbindungsmeere zwischen den Nord- und Süderdteilen und den sie bespülenden Ozeanen. Durch das eine führen die afrikanischen Beziehungen Europas und durch das andere die südamerikanischen Beziehungen Nordamerikas, durch das dritte die Verbindungen Europas und Asiens mit Australien. So mußte auch dem Suezkanal im Osten der Interozeanische Kanal im Westen entsprechen, der bestimmt ist, das amerikanische Mittelmeer mit dem äquatorialen Abschnitt des Stillen Ozeans zu verbinden.

 

Die Zugehörigkeit zu einem kleinen Erdteil wie Europa oder Australien gestattet den einzelnen Ländern eine größere Mannigfaltigkeit der Lage, deren natürliche Bedingungen sich nicht so oft wiederholen können, und eine ausgedehntere Teilnahme an der Peripherie; davor werden die zentralen Gebiete zurücktreten, so daß es in Europa ein zentrales Gebiet wie in Innerasien oder Innerafrika weder im natürlichen, noch im politischen Sinne gibt und in Australien jeder von den sechs Staaten am Meere gelegen ist. In dem kleinen, vielgegliederten Europa entwickelt sich kein so starker Gegensatz von Innen und Außen, daß ein Innereuropa abzusondern wäre. Sollte es geschehen, dann wäre dieses Kernland so nahe bei den Grenzen Asiens zu konstruieren, daß selbst Deutschland nur als sein westlicher Ausläufer zu betrachten wäre, und man erhielte ein Halbasien statt einem Innereuropa.

 

Die Randlage ist im Vergleich mit der Innenlage immer die bessere, weil sie die leichtesten Verbindungen gewährt.

Die zentrale oder Mittellage ist in der Stärke ebenso gewaltig wie in der Schwäche bedroht, fordert zum Angriff und zum Widerstand heraus. In ihrer Bedrohung und Kraft, aber auch in ihrer Schwäche, sind große Völker und geschichtliche Mächte erwachsen. Dazu wirkt das Zusammentreffen der verschiedensten Einflüsse im Mittelpunkt, um die Kraft der Neubildung zu steigern. Über den Mittelpunkt schüttet der zusammenstrahlende Verkehr gewissermaßen als Neben-Produkt den Verkehrsgewinn aus.

Für viele Vorteile nimmt die zentrale Lage immer den Nachteil der Gefährdung in Kauf. Es fehlen ihr natürliche Grenzen und sie erhält dadurch überhaupt etwas Unbestimmtes und Schwankendes. Wo die zentrale Lage zur Zusammendrängung wird, da kann die staatliche Einheit überhaupt verlorengehen, ohne daß das Volk den Vorteil seiner Lage in der regsten Wechselwirkung und Ausstrahlung auf kulturlichem Gebiet einbüßt.

Die Mittellage ist in der Regel auch eine geschlossene Lage , denn entweder ist der zentrale Staat zusammengedrängt oder er hat sich zum Schutz und zur Verteidigung zusammengezogen; dagegen haben die Staaten am Rand immer eine mehr oder weniger offene Lage, am meisten dort, wo die natürliche Gestalt der Länder das Meer tief eingreifen läßt oder Ausläufer in das Meer hinaussendet, die als Halbinseln auf drei Seiten vom Meere umgeben sind. Das Verhältnis der Peripherie zum Flächenraum bestimmt den Grad der Offenheit der Lage, der bei ozeanischen Inseln am größten ist.

Wenige Staaten haben nur die Natur zum Nachbar, die große Mehrzahl grenzt an andere Staaten und manche grenzen nur an andere Staaten: Ungarn, Schweiz. Dadurch entstehen Nachbarschaftsverhältnisse, deren Eigenschaften sich hauptsächlich nach denen der geschichtlichen Mächte bestimmen, die über ihren Gebieten walten. Nachbarn haben immer Ähnlichkeiten der Lage und des Bodens, die dazu beitragen, die Entwicklung in gleiche Wege zu drängen. Aber sie haben in höherem Maße die geschichtliche Ähnlichkeit, die auf dem unvermeidlichen Austausch der geschichtlichen Erfahrungen und Erwerbungen beruht. Denn jede Nachbarschaft ist eine Beziehung. Die Staaten liegen nicht tot nebeneinander, sondern sie müssen aufeinanderwirken und in dem Maße mehr, als sie einander näher sind.

 

Ein Land ist durch seine Lage oder Gestalt besonders geeignet, den Eintritt in ein dahinterliegendes zu erleichtern, es bildet gleichsam die Schwelle dazu. Der einfachste Fall sind die am Rande eines Landes gelegenen Inseln, die die Fußfassung auch durch ihre Kleinheit erleichtern.


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