Alexander Roda Roda
Von Bienen, Drohnen und Baronen
Alexander Roda Roda

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Contessa Mintschetitsch

In Wirklichkeit sind es noch nicht zwanzig Jahre, seit Carlo Mintschetitsch gestorben ist – erzählt wirds wie ein altes, gradezu vorgeschichtliches Ereignis. Er war immer auf dem Meer, die Jungen kannten ihn nicht – das ists; darum hört sichs wie ein Märchen an.

Carlo Mintschetitsch muß eine Art Kapitän gewesen sein, vielleicht auch erst Steuermann oder Schiffsoffizier, jedenfalls aber aus gutem Haus, alter Raguseer Patrizier, also ein Conte. Vermögen fand er keins vor oder brachte es in jungen Jahren durch – das ist nicht mehr festzustellen. Soviel ist sicher, daß er aus Not zur See ging. Man mag ihm lange Zeit Schwierigkeiten gemacht haben, seine Jugendliebe heimzuführen, denn er heiratete erst in recht späten Jahren und war so verbittert durch den schier endlosen Kampf mit den Schwägersleuten, daß er sich und seiner Frau ein Heim bereitete jenseits von allen menschlichen Ansiedlungen. An der Bucht von Lapad steht das Haus.

Acht Tage ließ ihm die Schiffsgesellschaft Zeit, sich einzurichten und seines mühsam erstrittenen Eheglücks zu freuen. Dann mußte er hinaus – mit dem Sergio, 3600 Registertonnen, Rosinen und Wolle nach Southampton. Dort löschte der 81 Sergio seine Ladung und nahm Glas, Walzeisen und einen Zirkus nach Buenos Aires. Auf der Höhe von Rio de Janeiro bekam Carlo Mintschetitsch das gelbe Fieber und starb.

Also wohnte im Haus an der Bucht eine Witwe, die kaum Frau gewesen war.

Zu ihren Verwandten nach Ragusa zurückzugehen – daran dachte sie keinen Augenblick. Die Einsamkeit war ihr eben recht. Doch auch dabei bliebs nicht, denn sie wurde Mutter. Wie eine Bärin gebar sie – ohne Beistand, in finstrer Nacht, bei brüllendem Sturm. Darum nannte sie ihr Mädchen Orsina.

Am Morgen nach der furchtbaren Nacht ging sie in den Garten, die Feigen und Oliven sammeln, die der Sturm abgeschüttelt hatte. Denn wer hätte es für sie getan? Sie konnte vor Schmerz und Krampf nur gebückt gehen; das erleichterte das Geschäft.

Der Pfarrer von Lapad erfuhr zufällig von der Geburt und verlangte, daß man ihm das Kind zur Taufe bringe. Sie ließ sagen, sie könne nicht gehen und habe das Kind auch schon selbst getauft. Der Pfarrer wollte das nicht anerkennen, befahl dem Küster, den Säugling zu holen, und schickte ihn nach einer Stunde wieder zurück. Nach dem Namen, den das Kind da erhalten hatte, fragte die Mutter garnicht.

Orsina hatte drei Spielgefährten: eine große graue Ziege und zwei kleine rötliche. Denen sah 82 sie mit blanken Kinderaugen zu und griff nach ihnen mit den Fäustchen. Als sie sich erst bewegen konnte, kroch sie ihnen langsam nach und faßte sie lachend an den Zitzen.

Spät, sehr spät lernte sie ein paar Wörter sprechen. Fremde kamen selten in die Gegend – kamen sie, so verbarg sie sich vor ihnen. Die Mutter aber tat stumm ihr Werk. Wenn die Kleine oben bei den Ziegen war, und die Mutter brauchte sie, so hieß es nicht: »Orsina, komm her!« – oder: »Wo steckst du, mein Mädchen?« sondern nur: »He!« Dann kam das Kind, die Mutter wies mit dem Finger nach den Milchtöpfen oder dem Stall, und Orsina wußte, was man von ihr verlangte.

Als sie im siebenten Jahr war, rief ein Polizist aus Gravosa die Mutter aus dem Haus und sagte, das Kind müsse zur Schule. Die Frau bedeutete Orsina, zu gehen – und verschwand. Die Kleine ließ sich vom Polizisten an der Hand fortführen. Als sie hundert Schritt weit waren, begann sie sich ängstlich umzusehen. Wieder hundert Schritte weiter riß sie sich los. Doch der Polizist nahm sie auf den Arm und hielt sie fest. Da gabs was zu sehen: allerlei Häuser und unerklärliche Dinge, Tiere und Gestalten. Auf diesem einen Weg zur Schule lernte sie mehr Neues kennen als einer, der um die Welt reist.

In ein Zimmer mitten unter Kinder setzte man Orsina nieder. Ein Fräulein streichelte sie und 83 fragte, wie sie heiße. Orsina verstand nicht und antwortete nicht. »Du heißt Philomena Contessa Mintschetitsch,« sagte das Fräulein. Orsina hörte es zum erstenmal und schwieg dazu.

Sie schwieg überhaupt zu allem. Sie nickte nicht einmal mit dem Kopf. Das Fräulein wurde nicht müde, sie immer wieder zu fragen – endlich gab sie es auf. »Die Arme ist taubstumm,« erklärte sie den andern Kindern. Als die Schulstunde um war, ging Orsina nach Haus – weit, weit – denselben Weg, den sie gekommen war, ganz allein, und verfehlte ihn nicht. Doch sie kam auch nie wieder.

Sie blieb bei der Mutter und den Ziegen. Morgens stand sie auf, lungerte den lieben langen Tag umher, und abends ging sie schlafen. Manchmal nahm die Mutter einen Korb voll Obst, trug ihn in die Stadt und holte Kaffee und Zucker und Leinwand oder sonst was. Einmal im Jahr führte sie zwei Ziegen fort und kam nur mit einer wieder, brachte aber Kleider und Fischzeug. Sie hatten auch Mais im Garten; den verkaufte die Mutter nicht, den aßen sie geschrotet. Polenta, Fische in Öl und Obst, das war ihre Nahrung.

Als Orsina der Mutter erst das Angeln abgeguckt hatte, tat sie nichts mehr lieber als das. Auf einem Felsblock saß sie, hielt die Augen versenkt ins grüne Meer und paßte. Täglich ging ihr ein Dental auf den Köder, eine Lizza oder 84 ein Branzino. Das war aufregend und hübsch. Wenn sie einen Fisch gefangen hatte, blieb sie müßig auf ihrem Stein und sah zu, wie die Wellen den Tang herausspülten. Manchmal kamen auch Fischerbarken mit lateinischen Segeln an der Bucht vorbei und fast täglich in der Dämmerung murmelnd der Cattarenser Passagierdampfer mit bunten Positionslaternen.

An einem bestimmten Tag, der immer wiederkehrte, hörte sie rhythmische ferne Klänge. Das waren die Glocken des Lapader Adeligen Friedhofs, und der Tag war der Sonntag. Sie wußte das alles aber nicht. Am Morgen darauf legte allemal ein Boot an, dicht vor der Bucht, an den Scoglien Pettini; zwei Männer erstiegen die Riffe, verschwanden – und an diesem Tag brannte das Leuchtfeuer heller als sonst. Orsina dachte jahrelang nach, wie das Läuten, die Ankunft der Männer und das stärkere Licht des Turms drüben zusammenhängen mögen. Einst sprach sie davon der Mutter, und die Mutter erklärte ihrs mürrisch, so gut es ging. Von nun an lernte Orsina bis sieben zählen und auch darüber und wußte, daß es Friedhöfe gibt, wo man tote Menschen beerdigt.

Wenn die Sonne abends hinter dem Blickfeuer von San Andrea besonders rot unterging, folgte regelmäßig ein Schirokkosturm. Orsina freute sich darauf – je toller es wurde, desto mehr. Dann trieb das Meer wütend seine ungeheuern Herden 85 in die Bucht, und die Meute des Sturms heulte hinterdrein.

So wuchs Orsina heran.

– – –

Otto Langerhans aus Berlin, ein Mann, der es nicht nötig hat, kam im vorigen Dezember nach Ragusa malen. Er schloß sich zunächst einigen Deutschen an vom Fach. Die malten aber zum Vergnügen andrer und nicht zu ihrem eignen und waren überdies Münchner. Sie aßen in Trattorien, die ihm nicht paßten, behandelten ihn nicht so, wie er behandelt sein wollte – und er zog sich wieder von ihnen zurück.

Otto Langerhans stellte seine Staffelei auf dem Großen Molo auf und pinselte die Zypressen der Villa Elisa – da kam Riki Kromar und verhöhnte ihn. Er packte zusammen, wanderte nach Pile und begann die Brandung am Fort San Lorenzo. Dort verhöhnte ihn Riki Kromars Bruder. Er übersiedelte nach dem Hafen von Plotsche – da kehrte eben der kleine König auf seinem Kutter von Lacroma zurück und gröhlte schon von ferne. Das wurde Otto Langerhans zu dumm. Er ging weit auf Lapad hinaus, wo es keine abonnierten Motive gibt, keine Kromars und kleinen Könige, und malte dort das Meer und die buckligen Pinien.

Lange sah ihm Orsina zu, ohne daß ers merkte. Als sie, am vierten Tag, herankam, sprach er sie 86 an, und sie lief davon. Aber er hatte ihre Schönheit geschaut, und Lapad war ihm nun noch lieber. Er erkundete ihren Namen und wußte bald mehr über sie, als sie selbst von sich wußte. Daß sie eine Contessa war, reizte seine Ausdauer. Und die hatte er, bei Gott, nötig. Ein Marder wäre zutraulicher als sie gewesen. Doch mit der Zähigkeit des Lebemanns und der Vorsicht des erfahrnen Jägers brachte er sie dennoch näher. Orsina tat, was sie noch nie getan hatte: eine Frage. Eine Frage im Naschki, der Sprache, die nicht kroatisch ist und noch weniger italienisch, sondern raguseisch. Otto Langerhans lachte und malte weiter. Das genügte ihr.

Nun saß sie neugierig vom Morgen bis zum Abend bei ihm, folgte den Blicken, die er von Zeit zu Zeit in die Landschaft sandte, und folgte den Strichen seines Pinsels. Er drückte aus der Tube Farbe auf die Palette. Sie sah ihm überrascht zu, lehnte sich an ihn und schob ihn fast weg, um ganz nahe dabei zu sein. Das kam ihm seltsam vor.

Sie lernten Wörter und Sätze von einander, begannen Gespräche in ihrem Welsch zu führen, und er verstand sie. Nur eins verstand er nicht: die Seele dieses sonderbaren Mädchens, das ein Kind war.

Einst küßte er sie. Sie ließ es teilnahmslos geschehen, weil sie nichts dabei empfand. Ihm aber hämmerte das Blut in den Adern.

87 Einmal fragte er:

»Orsina, liebst du mich?«

Sie lachte verständnislos, nahm ihm den Pinsel aus der Hand und schmierte ihm seine buckligen Pinien durcheinander.

»He!« rief eine Stimme über dem Hügel, und Orsina lief spornstreichs davon.

Otto Langerhans sah ihr mit verblüfften Augen nach.

Die Nacht darauf konnte er nicht schlafen. Er wälzte sich in seinem Bett, glühend vor Verlangen, und heckte einen Plan aus.

Als Orsina wieder an seine Staffelei kam, ließ er die Staffelei stehen und führte das Mädchen zu einem Wagen, der unten auf der Straße wartete. Er führte sie fort – so weit, wie sie noch nie zuvor gekommen war – an der Friedhofkapelle von Gravosa vorbei und an der Schule, gradeaus über den Stradun, wo die Damen umgingen und erstaunt stehen blieben – bis in seine Wohnung. Sie lachte.

Stundenlang besah sie die unbekannten Dinge: Koffer und Bürstchen, Teller und Buch; betastete und befühlte alles, wie eine Katze in fremden Räumen schnuppert. Durch kein Zureden ließ sie sich stören.

Endlich ward sie hungrig. Sie aß Speisen, die sie nie gekostet hatte – Fleisch, Bäckereien, Bonbons – und aß sie nur widerwillig, weil sie ihren 88 Hunger stillen wollte. Und trank roten, schweren Lissanerwein dazu.

Der Wein, zum erstenmal genossen im Durst eines Sommertages – er vollbrachte, was Otto Langerhans mit seinen Küssen nie vollbracht hätte: Orsina wurde erregt; anders als er sichs gedacht hatte: sie schlug lachend um sich; lachte unbändig, erschütternd – sie wälzte sich vor Lachen, als Otto Langerhans ihr das Leibchen aufknöpfte. Und von diesem Ausbruch bacchischer Heiterkeit erschöpft, betäubt, willenlos ließ sie alles mit sich geschehen.

Im Morgengrauen führte er sie zurück nach der Bucht von Lapad. Orsina schlief.

Als er sie aus dem Wagen hob, da fühlte er ihre Last so schwer in seinen Armen, daß er stöhnte.

Er legte Orsina auf den braunen Fels. Er wollte sie noch küssen, doch es hielt ihn etwas . . .

Ihre Mutter weckte sie mit hartem Schütteln.

Die Kleine schwieg.

Am Tag huschte sie wohl zehnmal auf den Platz, wo Langerhans gemalt hatte; suchte und fand ihn nicht.

Sie grübelte nicht darüber.

Eines Tags lief sie doch bis nach Ragusa und suchte in den Straßen – ihn, der längst Unter den Linden promenierte und sich gelegentlich des Abenteuers rühmte mit einer dalmatinischen Contessa; einer Jungfrau, bitte. Orsina hätte sich in 89 seinen Schilderungen nicht wiedererkannt – sie war eine prächtige Gräfin geworden.

Dann suchte sie ihn nicht mehr.

Sie wartete nur.

Eines Tages sah die Mutter Orsina an. Schärfer, kälter, als sie sie je angesehen hatte.

Und rang das Mädchen auf die Knie nieder und rang ihr die Worte aus der Kehle.

Sie bedachte sich einen Herzschlag lang – schleifte Orsina fort – hinaus auf die Punta und wies schweigend auf das Meer.

Orsina folgte dem Wink der hagern Hand.

Die alte Bärin strafte ihr armes, verwildertes Kind für seine Sünde.

Die wirklichen Bären sind nicht so grausam gegen ihre Jungen. 90

 


 << zurück weiter >>