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Unser aller Freund Wukaschin Weida – Gott hab ihn selig, aber er lebt noch – Wukaschin war von Kind an verschroben und voller Widersprüche.
Zum Beispiel, als er volljährig geworden war und alle felsenfest glaubten, nun würde er seine Schulden bezahlen – da rief er, so dumm sei er nicht, und nahm Abschied, um ins Wasser zu gehen.
»Gut,« antwortete man ihm, »wenn du dich ertränken willst, ist das eine Angelegenheit, die an deine Haut geht und an keine andre sonst; aber bezahl doch wenigstens vorher!«
»Nein,« sagte er, »wovon sollte ich dann weiterleben?«
Also schüttelten wir ihm die Hände, und er ging ins Wasser. Seinen Leichnam hat man nie gefunden. Natürlich – denn er lebt ja noch.
Indessen suchte einer von uns Herrn Deditsch auf, der Pferdehändler und sonst noch allerlei in der Unterstadt ist, und fragte ihn:
»Haben Sie Wukaschin Weida gekannt, Herr Nachbar?«
»Freilich hab ich ihn gekannt. Denken Sie nur: der Kerl ist mir durchgegangen.«
»Wieso, Herr Deditsch?«
109 »Eh, ganz einfach: er war mir 2340 Dinar schuldig, ohne die Zinsen vom letzten Verfallstag an – und statt mir das sauer verdiente Geld zurückzugeben, packt er sich zusammen und . . . und ist eben nicht da.«
»Hm. Und wo, glauben Sie, treibt er sich herum?«
»Weiß ichs? Die einen sagen das und die andern jenes – die dritten gar, er wäre dort oben über den Sternen.«
»Ja, ja,«« seufzte unser Freund, »dort ist er auch, Herr Deditsch. Hören Sie nur, wie schrecklich: gestern hat man den Armen bei Wischnitza aus der Donau gezogen, ganz mausetot und kaum mehr zu erkennen vor Verwesung.«
»Was Sie nicht sagen,« rief Deditsch erschrocken. »Also wirklich? Wer wird mir nun die 2340 Dinar bezahlen?«
»Der Herr im Himmel, der da lohnt und straft, Herr Deditsch. Ich fürchte aber, er wird Ihnen große Abzüge an den Zinsen machen.«
»Warum – weswegen?«
»Tun Sie nur nicht grün! Sie haben den armen Wukaschin gehörig geschunden. Wenn ich nachdenke, was ihn am ehesten zu dem verzweifelten Schritt veranlaßt haben mag – meiner Ehr, Sie haben einiges an ihm gutzumachen, Herr Deditsch. Heut um vier Uhr ist Parastos für Wukaschins Seelenheil in der Kathedrale – da werden Sie doch nicht fehlen wollen?«
110 »Gewiß nicht, gewiß nicht,« versicherte Deditsch, im Innersten bewegt, und kam pünktlich um vier Uhr in die Kathedrale. Dort wurde zwar ein Parastos gelesen – einer nach der ersten Klasse sogar, mit großer Assistenz und Chor – bloß nicht für Wukaschin, sondern für einen gewissen Achatius Posawatz, der in Saloniki gestorben war.
Herrn Deditsch focht der kleine Widerspruch nicht weiter an – wie hätte er ihn auch merken sollen? Und daß buchstäblich er den armen Wukaschin in den Tod getrieben hätte, war ein Gedanke, der ihn garnicht mehr losließ.
»Wie ist denn das Unglück eigentlich geschehen?« fragte er einen Mann, der zufällig neben ihm stand. »Weiß man nichts Näheres?«
»Mein Gott, bei alten Leuten . . .« erwiderte der Fremde achselzuckend – denn er meinte Achatius Posawatz aus Saloniki.
»Alt? Erlauben Sie? Der Arme war doch nicht alt?«
»Herr Pate,« sagte der Fremde, »alt und auch nicht – wie mans nimmt. Wenn man hienieden seine Rechnung abgeschlossen hat, ruft einen Gott hinüber.«
Deditsch fühlte sich durch Erwähnung der abgeschlossenen Rechnung getroffen, schwieg beschämt und hörte um so zerknirschter dem feierlichen Gesang zu. »Gospodin pomiluj« – Gnad ihm Gott,« seufzte auch er mit tiefer Inbrunst.
111 Um fünf Uhr war die Sache zu Ende. Deditsch ging heim und getraute sich seitdem vor lauter Gewissensbissen nicht mehr vor die Tür.
Als man ihn nun so lange nicht sah, munkelte man, er wäre krank, und als sein Onkel, der alte Deditsch aus Ripanj, starb, verwechselte man die beiden und sagte den Pferdehändler Deditsch tot.
Unterdessen hatte Wukaschin Weida, der strebsame Junge, in Budapest die verschiedenartigsten Geschäfte begonnen. Er hatte eine Agentur der Englischen Bibelgesellschaft eröffnet, verkaufte zwei Gattungen von Strickmaschinen auf Raten und betrieb nebenbei eine Kollektur der Klassenlotterie. Einmal lieh sich ein serbischer Landsmann, seines Zeichens Klavierstimmer, von Wukaschin eine Krone aus und ließ seine Instrumente als Pfand zurück – da wurde Wukaschin auch Klavierstimmer, was für einen völlig unmusikalischen Menschen wie ihn gewiß ein Zeichen von großem Erwerbseifer ist.
Dennoch – er brachte es auf keinen grünen Zweig.
Da war es ihm eine wahre Erlösung, als er hörte, sein ärgster Gläubiger, Deditsch, sei verschieden. Er zögerte keinen Augenblick, bezahlte die Klassenlose mit Strickmaschinen, gab der Bibelgesellschaft die Instrumente, dem Landsmann ein paar Bibeln und fuhr nach dieser – für seine Verhältnisse sehr ordentlichen – Austragung der schwebenden Verpflichtungen schnurstracks nach Haus.
112 Einer der ersten Menschen, denen er auf dem Kai begegnete, war . . . Deditsch.
Herr Deditsch hatte einige Wochen Einkehr in sich gehalten und gefunden, daß er an Wukaschins Selbstmord eigentlich nicht soviel Schuld trage, wie er sich anfangs beigemessen hatte. Und er beschloß, die peinliche Geschichte im Trubel des Belgrader Hafenlebens vergessen zu wollen. So ging er denn, immer noch mit Wukaschin und den 2340 Dinar im Kopf, über den Kalimegdan hinunter zur Donau – und einer der ersten Menschen, denen er begegnete, war . . . Wukaschin.
Herr Deditsch meinte zuerst, er sei wahnsinnig. Er griff mit den Händen in die Luft und dann nach seinem Bart, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Sein zweiter Gedanke war: der Teufel. »Alle guten Geister, steht mir bei!« stammelte er und schlug hastig ein Kreuz. Denn es ist doch wahrlich nichts Alltägliches, einem Menschen leibhaft gegenüberzustehen, bei dessen Parastos man vor einigen Wochen gewesen ist.
Wukaschin Weida fand zuerst die Sprache wieder.
»Herr Deditsch,« rief er, »lassen Sie mir fünfzig Prozent nach, oder ich gehe wirklich ins Wasser – so wahr mir der heilige Peter helfe.«
»Ja, mein Söhnchen, ja. Ich laß dir fünfzig Prozent nach. Nur bleib auf dem Land. Zweimal möchte ich den Kummer deinetwegen nicht durchmachen.«
113 Und dabei blieb es.
Wirklich, es blieb dabei. Herr Deditsch hat die eine Hälfte seiner Forderung nachgelassen, und die andre Hälfte ist ihm Wukaschin noch heute schuldig. 114