Alexander Roda Roda
Von Bienen, Drohnen und Baronen
Alexander Roda Roda

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Der Moslem

Was ich da erzählen will, hat sich am 9. oder 10. August 1902 abgespielt. Ich war bei meinem Bruder zum Besuch, in Bjeli-Scheher, Bosnien. Mein Bruder ist dort Arzt, schon seit vielen Jahren. Bjeli-Scheher ist eine Stadt des Islams. Drei Viertel der Bevölkerung sind Moslim. Mein Bruder gilt bei ihnen viel, fast so viel, als wär er ihresgleichen.

An jenem Morgen saß ich mit ein paar Herren auf der Veranda, lauter Beamten, Österreichern – da kam ein junger Moslem vor unser Gartengitter, Edhem-Beg hieß er, und lud mich ein, ihm zu folgen. Er war beritten und führte ein andres, lediges Pferd an der Hand.

Ich war zum Reiten nicht gekleidet, noch weniger gelaunt – und lehnte ab. Er aber bat dringend, in seinen Worten war Ernst. Ich merkte, Edhem-Beg wollte mir mehr sagen, doch nicht hier vor den Herren.

Ich trabte mit ihm davon. Trabte eine viertel, eine halbe Stunde, eine Stunde auf der staubigen Landstraße und wußte nicht, wohin, und wußte nicht, warum. Edhem-Beg schwieg.

Da fragte ich ihn endlich um unser Ziel.

»Nach der Kula meines Vaters,« sagte er.

Kula, Turm, nennen die Moslim ihre Sommervillen. Sie sind auch turmartig erbaut – noch 184 von der Zeit her, wo man sie verteidigen mußte. Ich war noch nie aus dem Turm des alten Hadji Hafis gewesen – wie weit mags dahin sein? Doch Edhem schonte die Pferde nicht – da dachte ich mir die Strecke kurz.

Wir trabten drei geschlagene Stunden. Dann wies Edhem-Beg auf ein Haus im Grünen – ich fiel in Schritt und ließ Edhem-Beg voraus: denn es konnten Weiber im Hof sein, die sich vor mir, dem Fremden, erst verbergen mußten.

Im ersten Stockwerk des Turms fand ich den alten Hadji, Edhem-Begs Vater. Drei oder vier ebenso alte, ebenso langbärtige Männer mit ihm: der eine mit einer schneeweißen Binde am Fes, ein Kadi also; der andre ein Mufti, ein Theolog – er trug blaue Hosen; der dritte ein Hadji, Mekkapilger, mit einem gelbgestickten Turbantuch; und wer der vierte war, weiß ich bis heute nicht.

Sie hockten auf den Sofas, rauchten und tranken schwarzen Kaffee.

Edhem-Beg brachte mir ein Täßchen Kaffee, ein Glas Scherbet und Marmelade von Rosenblättern. Das ist die Ladung zu längerm Verweilen. Was mögen sie von mir wollen – und da Edhem-Beg, der Sohn des Hauses, selbst bedient und mit gekreuzten Armen an der Tür stehen bleibt: warum sind sie so höflich?

Der Kadi drehte eine Zigarette und reichte sie mir.

185 »Bist du ermüdet?« fragte er nach einer Weile. Er wird hier offenbar den Wortführer spielen.

Und wieder nach einer Weile:

»Der gnädige Kaiser Franz Josef – ist er wohl gesund?«

»Ich danke,« sagte ich lächelnd, »so viel ich weiß, ist er gesund.«

Der Kadi – wieder nach einer Weile:

»Ob er selbst die Telegramme öffnet, die man ihm schickt?«

Ich schwieg, ich wußte nicht recht, was es sollte. (Das Staunen hatte ich mir dortzulande abgewöhnt.)

Da setzte der Hadji seine Pfeife ab und sagte mit kaum unterdrückter Erregung:

»Ich, Leute, meine, man kann dem Kaiser garnicht telegraphieren.« – Mit einem fragenden Blick auf mich.

»Gewiß kann man ihm telegraphieren, Hadji. Und er wird das Telegramm auch bekommen. Selber öffnen freilich wird ers nicht.«

Der Hadji nach einer Weile – immer nach einer Weile – die Moslim überlegen, eh sie reden:

»Glaubst du, daß der gnädige Kaiser heute noch das Telegramm bekommen kann?«

»Wenn man es gleich abschickt – warum nicht?«

»Ich sage, wir senden es sogleich ab. Wann, meinst du, kann es in Wien sein?«

186 Ich zog die Uhr.

Es ist jetzt fünf à la turca, zehn à la franca. Ich rechne, Edhem braucht drei Stunden nach der Stadt . . .«

»Er wird anderthalb brauchen.«

»Gut. Dann ist er um zwölf à la franca zu Mittag auf dem Amt. Eine halbe Stunde später hat der Kaiser euer Telegramm.«

»In Wien?« fragten sie verblüfft.

»In Ischl. Ich glaube, er ist jetzt in Ischl.«

»Oh, nicht in Wien?« – Sie waren allesamt niedergeschlagen.

»Das ist ja ganz gleichgültig – Ischl oder Wien.«

»Wenn du aber garnicht weißt, Effendum, nicht sicher weißt, wo der Kaiser ist . . .?«

»Macht nichts – die Leute auf dem Telegraphenamt werden es schon wissen.«

»Und du verpfändest uns deinen Glauben, daß der Kaiser in einer halben Stunde das Telegramm haben kann, auch wenn er nicht in Wien ist – und Ischl vielleicht noch Tagereisen hinter Wien?«

»Es liegt Tagereisen hinter Wien, und ich verpfände meinen Glauben.«

Da zuckten sie die Achseln wie einer, der da sagen will: auch wir haben schon verlernt, uns zu wundern.

Sie zündeten neue Zigaretten an, sie tranken neue Tassen, da begann der Kadi:

187 »Effendum, hast du heute den Telal gehört?«

Telal ist ein Ausrufer, ein Herold.

»Er hat am Morgen in Bjeli-Scheher verkündigt: in vierundzwanzig Stunden wird Hamid Selimagitsch aus Prijedor im Hof des Kreisgefängnisses von Bjeli-Scheher gehenkt werden. –Hast du den Telal gehört?«

»Nein.«

»Dann glaube uns, wenn wir dirs sagen.« – Alle fünf blickten mich an.

Ich empfand einen Vorwurf in den Blicken. So, als sei ich mit schuld an dem Tod, den ein österreichischer Henker morgen einem Moslem bereiten wird.

Es rief der erregte Kadi:

»Effendum, ich will dir nichts beschönigen – laß dir die Wahrheit sagen, Bruder: Hamid Selimagitsch und noch ein andrer, ein Serbe, sind Sägearbeiter gewesen in Prijedor bei der französischen Gesellschaft. Laß dir die Wahrheit sagen, Bruder: sie empfingen eines Tages ihren Lohn und sollten nach Haus. Doch sie verpraßten das Geld in den Schenken – zwei, drei Tage haben sie getrunken und gepraßt. Haben endlich Rock und Bundschuh in den Schenken gelassen, sind barfuß und bettelarm übers Gebirge gezogen, nach Hause, und haben sich den ganzen Weg geschämt: was werden unsre Weiber sagen, unsre Mütter? Dann hat ein Wandrer sie um 188 den rechten Weg gefragt. Der Wandrer trug einen Rock, Stiefel an den Füßen und noch ein Paar neue Stiefel im Ränzel; und trug wohl auch Geld im Gürtel, denn er ging frei und aufrecht, wo sie schlichen. Da haben sich die beiden durch einen Blick verständigt und sagten ihm: »Komm nur, wir führen dich den rechten Weg« – und sind mit ihm in den Wald gezogen. Haben dreimal gerastet und dreimal nicht den Mut gefunden; und endlich, am späten Abend, als er schon mißtrauisch war und maulte, da hat Hamid Selimagitsch ihm mit einem Knüppel auf den Schädel geschlagen, und der Serbe hat den Mann gehalten.«

Der Kadi verstummte, die vier andern nickten bekümmert.

»Und?«

»Sie raubten ihm das Geld, den Rock und die Stiefel, ließen ihn für tot liegen und stoben davon. Der Mann aber war nicht tot, er quälte sich zwei Tage in der Einsamkeit – so fanden ihn die Hirten: mit eingeschlagenem Schädel im Wald; das Hirn lag bloß, die Würmer nagten schon daran. Aber laß dir die Wahrheit sagen, Bruder: die Hirten trugen den Mann zu Tal – und zu den Gendarmen – die Gendarmen riefen Ärzte – die Ärzte klaubten die Würmer aus und vernähten den Schädel – der Mann lebt und hat die Räuber bei Gericht verklagt.«

189 »Und sie sind zum Tod verurteilt worden?«

»Zum Tod. Alle beide.«

»Zum Tod – und der Mann, den sie erschlagen wollten, lebt?« fragte ich.

»Was willst du – wir haben strenge Gesetze, strengere als ihr in Österreich – auf Straßenraub steht bei uns der Strang. Morgen soll Hamid Selimagitsch gehenkt werden.«

Da war wieder eine beklommene Stille in der Runde, bis der alte Hadji-Beg sie brach:

»Nun bitten wir dich, Effendum – bitten dich, wie eine Mutter für ihren Sohn bittet – wir Moslim für einen Moslem: telegraphier du an den gnädigen Kaiser und flehe ihn in unserm Namen an und füge deinen Namen bei – und stell ihm vor, daß der Beraubte ein Moslem war und dem Räuber, wieder einem Moslem, verziehen hat; und da der Beraubte dem Räuber verzieh, möge der gnädige Kaiser nicht grausamer sein als das Opfer, als Kor'an und Tschitap – und möge dem armen Sünder das Leben schenken, weil auch Gottes Gnade in diesem Fall kein Leben umkommen ließ. Telegraphier, Effendum, ich bitte dich, an den gnädigen Kaiser!«

Gegen Mittag hielten Edhem-Beg und ich auf dampfenden Pferden vor dem Telegraphenamt von Bjeli-Scheher.

Dann warteten wir bis zum Abend, was es werden sollte.

190 Überall in der Stadt sprach man erregt von den bevorstehenden Hinrichtungen. Im Türkenviertel saßen die Leute gedrängt in den Cafés, den kleinen Läden der Krämer, der Barbiere. In der Serbenstadt standen sie in Haufen auf der Straße, und alles Volk redete mit großen Gebärden.

Ich blieb beim jungen Edhem-Beg.

Da sahen wir draußen einen Landauer mit zwei Schimmeln vorfahren.

»Der Vater,« sagte Edhem. »Es hat ihn auf dem Turm nicht geduldet.«

Der alte Hadji Hafis trat ein, mit dem langen Pilgerstab in der Hand – Wildheit im Blick und Ungeduld in jeder Bewegung. Ich hatte ihn noch nie – und keinen Moslem – jemals so gesehen.

Als er mich erblickte, streckte er mir die Hände entgegen.

»Ah, komm, komm, Effendum, mit mir aufs Gericht!« – Daß eine Antwort aus Ischl nicht gekommen war, hatte er schon auf dem Telegraphenamt erfahren. – »Komm mit mir aufs Gericht! Dort verstehen sie mich nicht, ich verstehe sie nicht – du wirst ihnen meine Zunge reden.«

Wir fuhren. Der Hadji ließ sich beim Präsidenten melden. Wir fanden schon Besuch dort – den langen Petar Kumowitsch, Kirchenältesten der 191 Serben – und der Präsident konnte beiden auf einmal Bescheid geben, dem Serben und dem Moslem, denn beide wollten dasselbe.

Sie wollten, daß man den Verurteilten heut abend nicht das Urteil lese. Die Moslim wie die Serben hatten an den Kaiser telegraphiert und hofften auf Begnadigung.

Der Präsident lächelte hilflos.

»Gott . . .« sagte er, »seht mal, Leute: es tut mir ja furchtbar leid, aber meiner Vorschrift muß ich genügen. Die zwei sind rechtskräftig verurteilt – Seine Majestät hat dem Recht freien Lauf gelassen – die Justifizierung wird also morgen früh erfolgen. Und das Gesetz verlangt, daß ich den Verurteilten zwölf Stunden vorher das Urteil verkünde.«

»Wenn wir Moslim aber telegraphiert haben, Effendum?«

»Auch wir Serben, Gospodine?«

Der Präsident ging im Zimmer umher, lüpfte die Achseln und schnalzte mit den Fingern.

»Donnerwetter – jedesmal kommt ihr mir mit euern Telegrammen. Ja, hat es denn schon je genutzt? So etwas wird ja oben nicht übers Knie gebrochen. Über die Sache ist doch Vortrag gehalten worden. Da ist Seine Exzellenz, der Minister, der das bosnische Ressort hat – da sind die Sektionschefs – da ist der Vorstand des Zivilkabinetts – seht, Leute: alle diese Herren 192 geben ihre Meinung ab und haben ihre Meinung abgegeben. Seine Majestät haben darauf geruht, sich allergnädigst zu entschließen . . . glaubt ihr wirklich, daß solche Entschlüsse einem Telegramm zuliebe umgestoßen werden? Ich glaub es nicht. Geht ruhig heim und bescheidet euch. Ich kann nicht helfen, ich muß das Urteil verkünden.«

Der Hafis wiegte den Kopf, nahm meine Hand in seine Greisenhand und führte mich von dannen.

Aufs Telegraphenamt. Stundenlang saßen wir da und warteten.

Der Abend sank. Vom serbischen, vom katholischen Kirchturm schlug es sieben – vom Münare der Achmed Djami rief der Mujesin zum vierten Gebet:

»Allahu ekber, Allahu ekber.
Eschhedu enla - illahe - il lellah...
«

»Ja,« sagte der Hadji, »eilet zum Gebet, eilet zur Freude! Und jetzt zeigt man dem armen Kerl sein Schicksal an.«

Stand auf und schritt langsam davon in die Moschee.

Und während der Alte drüben betete, hörte man eine leise Zither klimpern – aus dem Café Austria. Es ist ein hübscher Garten vor dem Café, alte Kastanienbäume. An einem runden Tisch saßen drei Fremde, der Zitherspieler unter ihnen. Um die Fremden ein paar Kleinbürger 193 – Österreicher, Ungarn: der Herrenmodehändler Neumann – Gesa Malzer, der Baumeister – der Nähmaschinenagent. Da hatte der Zitherspieler gestimmt und begann: zuerst einen Marsch – einen Walzer aus dem Zigeunerbaron – wieder einen Marsch . . . Als der Hadji aus der Moschee zurückkam, war die Gesellschaft schon beim Singen.

»Kinder, wer ka Geld hat, der bleibt z'Haus!
Heut komm i erscht morgen fruah nach Haus,
Heut muß i an Schampus ham,
Oder i hau alles z'samm,
Oder i reiß der Welt a Haxen aus.«

Der Alte setzte sich neben mich und blickte hinüber.

»Weißt du, wer da spielt?« fragte er. »Das ist der Scharfrichter. Wenn er müde ist vom Spielen, werden sie trinken, und er und seine Gehilfen werden den Österreichern Geschichten erzählen. Von frühern Hinrichtungen, weißt du.«

Da kam ein Herr des Weges, erkannte mich im Dunkel und rief mich an:

»Na, gehen Sie nicht zum Abendessen? Wir haben einen Weg.« Der französische Professor vom Gymnasium.

Der Hadji verstand nicht, was der Professor gesagt hatte, erriet es aber.

»Geh!« sagte er. »Wenn eine Nachricht kommt – ich werde dich rufen lassen.«

194 Ich ging mit dem Professor – er fing sofort von dem Ereignis des Tages an:

»Sie werden natürlich dabeisein? Haben Sie schon eine Karte? Ich will Ihnen gern eine verschaffen. Übrigens gibt Ihnen der Präsident ohne weitres eine. Oh, es ist ein unglaublich interessantes Erlebnis. Mich wühlt es immer furchtbar auf. Eine entsetzliche – und in ihrer Art merkwürdige Sache. Aufregender denke ich mir natürlich eine Hinrichtung durch Erschießen und am grausigsten durch das Beil. Ich habe schon neun Hinrichtungen gesehen – denken Sie sich: in Agram einmal drei in derselben Stunde– die Stenjewetzer Raubmörder.«

Er erzählte mir auf dem ganzen Weg von diesen dreien. »Der letzte, ein junger Bursche, hat unter dem Galgen eine Art Predigt gehalten – gegen die glaubensfreie Schule – die wäre schuld an seinem Unglück – und hat zur Anbetung des heiligen Antonius aufgefordert. Widerlich, sag ich Ihnen. Der Gefängnisgeistliche hatte dem armen Kerl die Predigt Wort für Wort aufgesetzt und soufflierte ihm.«

Weit aus dem Dunkel hinter mir rief eine Stimme meinen Namen. Edhem-Beg.

Ich eilte zurück. Im Telegraphenamt stand der Alte und hatte die Hände zitternd auf den Schalter gestützt.

»Eben fertigen sies aus, Effendum: daß der Kaiser keine Gnade gibt.«

195 Der Morseapparat surrte noch und tippte. Nach einer endlosen Minute reichte mir der Beamte die Depesche:

»An den Vorstand der Mohammedanischen Wakuffkommission in Bjeli-Scheher, Hadji Hafis Schemssi-Beg Ragibbegowitsch.

Seine Majestät haben allergnädigst geruht . . . usw. usw.«

Ein langer Satz. Ich sah nur das letzte Wort: ». . . abzulehnen.« – Im Café Austria spielte man:

Das Drahn, das is mein Leben,
Kanns denn was Schöners geben . . .?

Die Nacht verging mir peinlich mit blödem Lesen und nervösem Rauchen. Erst am Morgen, als Edhem an mein Fenster pochte, war ich eingeschlafen.

»Komm rasch, Effendum, mein Vater ruft dich.«

Vor der Tür wartete schon der Hadji und schritt wortlos voran – der Pilgerstab schlug taktmäßig auf das Pflaster – schritt wortlos voran in die tauige Stille. Der Alte klopfte an ein Türchen des Gefängnishofs, ein Wächter öffnete. Stumm wies der Hadji ein Billett vor – es war wohl ein Erlaubnisschein.

Da führte uns der Wächter quer über den Hof und nur mehr ein paar Stufen empor in eine Zelle. Eine lange, helle Stube – Tür und 196 Fenster standen weit offen. Am Fenster und an der Tür je ein Soldat – Gewehr bei Fuß, Bajonett auf. Und zwischen diesen beiden Soldaten, auf und ab – mit raschen, verzweifelten, plumpen Schritten ging . . .

»Hamid Selimagitsch!«

Der Gorilla hörte es nicht einmal. Immer auf und ab – mit leidenschaftlichen, plumpen Schritten ging er auf und ab – und bei jedem zweiten Schritt ein tierisches Stöhnen. Tap – tap – ein tierisches Stöhnen.

Er trug ein grobhärenes Sträflingsgewand – vielleicht, weil seine eignen Kleider gar zu elend gewesen waren – und mir schien, er trug auch keine Wäsche. Der Fes war ihm vom Kopf geglitten, es zeigte sich der ganze glattrasierte Schädel. Die Ohren standen breit ab, auch die Augen hatten etwas Unmenschliches – man sah das Weiße rund um die Pupille. Er hatte die Oberlippe schmerzhaft aufgezogen und bleckte die Zähne – hatte die Brauen hochgewölbt und ging immer auf und ab, von einem Soldaten zum andern, mit plumpen, leidenschaftlichen Schritten – und bei jedem zweiten Schritt das Geheul.

Der Hals war frei in der Sträflingsjacke, ich sah es schaudernd.

Wenn der Mann hätte ausbrechen wollen – zum Teufel, es wär ihm gelungen: denn der Soldat an der Tür stand nicht, der hing angekrampft an seiner langen Büchse.

197 Was der Hadji mit dem armen Sünder sprach, weiß ich nicht. Zuletzt stolperte ich die Stufen hinab auf den Hof, und hinter mir war bei jedem zweiten Schritt das Heulen.

Da redete mich einer an – mit einer Stimme, in der Lust war, Neid und Begierde.

»Sie waren bei ihm? Sie haben dürfen? Oh, ich stehe unter dem Fenster . . .« – Der Gymnasialprofessor. – »Ist auch der andre da, der Serbe? Sie wissen doch schon, daß er begnadigt ist? Eben ist die Depesche gekommen. Begnadigt – nach dieser Nacht . . .« – Der Professor schüttelte sich, und seine Augen flackerten.

Der Hadji packte mich am Arm. Er schluchzte . . . als wär er seit gestern alt geworden . . . fast wars ein Lallen:

»Effendum, du mußt bei mir bleiben.« Und mit erhobener Stimme: »Effendum, du mußt bei mir bleiben. Ich habs gelobt: bis zum letzten Augenblick will ich mit ihm sein.«

Der Gefängnishof verengte sich nach hinten zu; vor der schmalsten der hohen grauen Mauern stand ein Zug Infanterie, Gewehr bei Fuß. Vier Schritte vor dem rechten Flügel ein Offizier mit der Feldbinde. Er hatte die Hand auf den Säbel gestützt, den Säbel vor sich und blickte zu Boden. Die Soldaten sahen mit Grausen und Neugier auf den Richtpflock, auf den Henker und seine Gehilfen.

Der Richtpflock war mehr als mannshoch, ein 198 viereckiger, starker Balken, oben abgesägt; da stak ein Bolzen. Vorn ein Schemel mit zwei Stufen und hinten eine kurze Leiter.

Der Scharfrichter musterte sein Bauwerk. Er war ein schlanker Mann, hellblond, mit grauen Augen. Wenn ich ihm auf der Straße begegnet wäre – ich hätte ihn für einen Prediger gehalten, denn er trug einen langen, schwarzen Rock und schwarze Handschuhe.

An der andern Wand die Zeugen. Ein Wächter drängte den Hadji und mich zu ihnen.

Alle standen und flüsterten leise.

Nur der Professor redete auf uns ein: auf mich, auf meinen Bruder, den Kreisarzt, der von Dienstes wegen mit dabeisein mußte – auf den Verteidiger Hamids. Den Hadji sah er nicht einmal.

Plötzlich kam ein Ereignis in die Spannung: die Herren vom Gericht. Mit gemacht ernsten Mienen.

Sie stellten sich auf; umständlich – man sah, es war eine verabredete Anordnung: der Präsident – rechts und links seine Beisitzer – und zwei Schritte vor ihnen der Staatsanwalt, dem Präsidenten zugewendet.

Der Präsident nickte würdig – der Scharfrichter tat einen fragenden Blick und nickte wieder.

Dann zog der Präsident die Uhr – winkte – und zwei Wächter verschwanden – quer über den Hof und ein paar Stufen empor.

199 Die Uhr schlug sieben.

In dieser Minute schleppte man ihn hervor. Man hatte ihm den Fes aufgesetzt, doch der Fes fiel herab, und der kahle Schädel darunter wurde sichtbar; die Brauen waren hochgewölbt, daß man das Weiße rund um die Pupille sah, und die Oberlippe schmerzhaft aufgekrümmt, daß die Zähne bleckten; die Wächter hatten ihn untergefaßt, und seine Füße blieben hinter ihm. Um die gekrümmte Gestalt schlotterte der härene Sträflingsrock.

Als ginge er noch immer in seiner Zelle auf und ab, mit plumpen, leidenschaftlichen Schritten – in diesem Takt, grade in diesem Takt kam das langgezogene Heulen.

Er von dort, und der Scharfrichter nahte ihm von hier.

Und als er den Scharfrichter sah – weiß Gott, für wen er ihn hielt – da brach er sein Heulen ab, und es wurde ein Wimmern daraus, und er streckte dem Scharfrichter beide Hände entgegen – beide Hände – wie einer, der da Rettung sucht. Der Scharfrichter band sie mit einer Rebschnur. – Dann las der Präsident eine lange Schrift, las die kroatische Schrift mit häßlichem wienerischen Anklang.

– – –

– – –

Als es vorbei war, kommandierte der Oberleutnant: »Zum Gebet!« Die Trommel wirbelte.

200 Und die Soldaten – hatten sie nicht gehört? Ein paar machten kehrt, ein paar rechts oder links um, und andre blieben stehen wie erstarrt.

Mein Bruder tippte mir auf die Schulter.

»Komm,« sagte er, »zu dem Serben!«

Ich verstand ihn nicht.

»Zu dem Begnadigten.«

Wir fanden ihn in einem kleinen Gelaß, er kauerte auf der Pritsche. Als wir eintraten, fuhr er jäh zusammen.

»Was fürchtest du dich, du Esel? Sei froh, dir tut doch niemand was.«

Er starrte meinen Bruder an und wich bis an die Wand.

»Du mußt nach Senitza, ins Zuchthaus. Komm her, ich will sehen, ob du gesund bist.«

Als mein Bruder die Hand auf ihn legen wollte . . .

»Hör mal, Dussel –hör doch, was ich dir sage: ich tu dir ja nichts.«

Ein Wächter, der an der Tür stand, lachte, spuckte aus und sprach:

»Er hod ghört, daß der Henker hier is und hod d' ganze Nacht net gschlofa. Maant schier no immer, ma werd eahm . . .« Dazu eine Gebärde.

Mein Bruder untersuchte ihn oberflächlich, klopfte ihn auch überm Hemd ein wenig ab – dann ein Blick ins Gesicht.

»Kerl, du hast ja einen Abszeß unterm Ohr.

201 Eh – schade – den hätt dir der Henker so schön ausgedrückt . . .«

Darauf der Wächter:

»Recht hom S', Herr Dokter, verdeant hädd ers scho.« Und grübelnd: »Aber wieder – wann mas nemmt: er hod eahm gholden, der andre hod gschloga. Nur natürli – zwölf Stund bevor hom s' es dem armen Teiwel net gsogt: ›Moring erschlogn mr di‹ – – wie mas bei uns hier sogt . . .«

– – –

Als wir heimgingen, holte uns der Professor ein.

»Hab ich Ihnen zuviel gesagt? Eines der sonderbarsten Schauspiele, die man erleben kann. Diese Geschwindigkeit, wie ihn die Knechte auf den Schemel hoben – und die schwarze Hand des Scharfrichters, ausgebreitet auf seinem Gesicht – und wie der Scharfrichter ihm die Kiefer zuhielt mit der schwarzen Hand – und die Knechte ziehen unten an, und das Zittern im ganzen Leib . . . Denken Sie sich: da vor ein paar Jahren sollte der Räuber Nikolitsch gehenkt werden, und am Abend vorher bittet er um zwei Pantoffel – Filzpantoffel, aber ja recht groß. Alle dachten: was will der Kerl mit den Filzpantoffeln? – und brachten sie ihm. Und am Morgen, als man ihn heranschleppte, da warf er einen und dann den andern Pantoffel in die Luft und schrie: ›Hoch . . .‹ Aber man darf es garnicht wiederholen. Es war eine Majestätsbeleidigung.« 202

 


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