Peter Rosegger
Die Schriften des Waldschulmeisters
Peter Rosegger

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Erster Teil

       Lieber Gott!
Ich grüße Dich und schreibe Dir eine Neuigkeit. Heute ist mein Vater gestorben. Er ist schon zwei Jahre krank gewesen. Die Leut' sagen, es ist ein rechtes Glück. Die Muhme-Lies sagt es auch. Jetzt haben sie den Vater schon fortgetragen. Der Leib kommt in die Totenkammer, die Seel' geht durch das Fegefeuer in den Himmel hinauf. Lieber Gott, und da hätt' ich jetzt eine recht schöne Bitt'. Schick meinem Vater einen Engel entgegen, der ihn weist. Für den Engel leg ich mein Patengeld bei; es sind drei Groschen. Mein Vater wird recht eine Freud' haben im Himmel, und führ' ihn gleich zu meiner Mutter. – Ich grüß Dich tausendmal, lieber Gott, den Vater und meine Mutter.

Andreas Erdmann

Salzburg, im 1797iger Jahr, am Apostel Simonitag

Dieser Brief ist zufällig erhalten geblieben, mit ihm hebe ich an. Ich weiß noch den Tag. Ich habe in meiner sehr großen Einfalt die drei Groschen wollen in das Papier legen. Kommt selbunter die Muhme-Lies herbei, liest mit ihren Glasaugen die Schrift und schlägt die Hände zusammen. »Du bist ein dummer Junge!« ruft sie aus, »ein sehr dummer Junge!« Eilends nimmt sie mein Patengeld, läuft davon und erzählt meine Sach' im ganzen Hause, vom Torwartgelaß an bis hinauf zum dritten Stock, wo ein alter Schirmmacher wohnt. Jetzt kommen die Leut' alle miteinander zusammen in unser Zimmer herein, zu sehen, wie ein sehr dummer Junge denn ausschaut.

Gelacht haben sie, und so lang' haben sie gelacht, bis ich anfang' zu weinen. Jetzund haben sie noch ärger gelacht. Der alte Schirmmacher mit seinem himmelblauen Schurz ist auch da; der hebt die Hand auf und sagt: »Ihr Herrschaften, das ist ein närrisches Lachen; etwan ist er gescheiter als ihr alle miteinand. Geh her zu mir, Büblein; heute ist dein guter Vater gestorben; deine Muhme ist viel zu gescheit und ihr Haus zu klein für dich, du kleinwinziger Bub'. Geh mit mir, ich lehre dich das Regenschirmmachen.«

Was hat jetzo die Muhme gegreint überlaut! Aber das kann ich mir denken: insgeheim ist es ihr recht gewesen, da ich mit dem Alten die zwei Treppen hinaufgestiegen bin.

Selbunter, wie mir mein Vater gestorben, werd' ich im siebenten Jahr gewesen sein. Ich weiß nur, daß meine Eltern mit mir bis zu meinem fünften Jahr im Waldland gelebt haben. Im Waldland am See. Felsberge, Wald und Wasser haben die Ortschaft eingefriedet, in der mein Vater Salzwerksbeamter gewesen. Wie die Mutter gestorben, hebt mein Vater an zu kränkeln; hat seine Stelle aufgeben müssen, ist mit mir zu seiner wohlhabenden Schwester in die Stadt gezogen. In einem leichteren Amt hat er wieder arbeiten wollen, um seiner Schwester, die sich stets der Tugend der Sparsamkeit beflissen, Dach und Nahrung redlich erstatten zu können. Aber in der Stadt ist er krank Jahr und Tag; nur daß er mich zur Not das Lesen und Schreiben lehrt, sonst hat er gar nichts getan. Und es ist gekommen, wie ich es im frühern Blatt aufgeschrieben habe.

Bei dem alten Mann im dritten Stock bin ich mehrere Jahre gewesen. Wie er, so habe auch ich einen himmelblauen Brustschurz getragen. Man erspart dadurch an Gewand. In der ersteren Zeit bin ich mehrmals zur Muhme hinabgegangen auf Besuch; aber sie hat mich fortweg und so lange einen sehr dummen Jungen geheißen, bis ich nicht mehr hinabgegangen bin. Selbunter hat mein Meister einmal das Wort gesagt: »Gib acht, Andreas, daß du nicht so gescheit wirst wie deine Frau Muhme!«

Wir haben lauter blaue und rote Regenschirme gemacht, haben sie dann in großen Bünden auf Jahrmärkte getragen und verkauft. Einen breiten Schirm haben wir über unsere Ware gespannt, und die Marktbude ist fertig gewesen. Und wenn das Geschäft so gut ist gegangen, daß wir letztlich auch die Bude verkauft, so sind wir allbeide in ein Wirtshaus gegangen und haben uns was gut sein lassen. Ansonsten aber haben wir die Ware in Bünden wieder nach Hause getragen und daheim eine warme Suppe genossen.

Wie mein Meister über die siebzig Jahre alt ist, wird ihm die Welt nicht mehr recht; hat müssen eine andere haben – ist mir gestorben. Gestorben wie mein Vater.

Ich bin der Erbe gewesen. Zweithalb Dutzend Schirme sind da; die pack' ich eines Tages auf und trag sie dem Markte zu. Auf demselbigen Markt hab' ich Glück gehabt. Er ist in einem Tal gar weit von der Stadt; Menschen in Überfluß, aber die wenigsten werden sich zur Morgenfrühe gedacht haben, sie gehen auf den Markt, daß sie Regenschirme kauften.

Kommt zur Mittagszeit jählings ein Wetterregen; wie weggeschwemmt sind die Leute vom Platz, und mit ihnen meine Schirme. Ein alleinziger ist mir noch geblieben für mich selber, daß ich trocken bliebe mitsamt meinem gelösten Geld. Was läuft doch über den Platz ein Mann daher, daß alle Lachen spritzen! Meinen Regenschirm will er kaufen.

»Hätt' ich selber keinen!« sage ich.

»Hab' schon manchen Schuster barfuß laufen sehen«, lachte der Mann. »aber hörst, Junge, wir richten uns die Sach' schlau ein. Bist du aus der Stadt?«

»Ja«, sag' ich, »aber kein Schuster.«

»Das macht nichts. Ein Wagen ist dahier nicht zu haben; so gehen wir zusammen, Bursche, und benützen den Schirm gemeinsam; letztlich magst ihn behalten oder das Geld dafür haben.«

Gottesschad' wär's um den feinen Rock, den er anhat, denk' ich, und sag': »So ist es mir recht.«

Arm in Arm bin ich, der Schirmmacherbursch, mit dem vornehmen Herrn in die Stadt gegangen. Wir haben unterwegs miteinander geplaudert. Er hat es so zu fügen gewußt, daß ich ihm nach und nach all meine Umstände und meine ganze Lebensgeschichte erzählt hab.

Der Regen hörte auf; die Sonne scheint, ich trage den Schirm noch offen über der Achsel, daß er trocknen mag. Wir kommen zur Stadt, da will ich zurückbleiben – es ist nicht schicksam, daß ich mit einem so feinen Herrn durch die Stadt gehe. Er hat mich aber freundlich eingeladen, nur mit ihm zu kommen. Er hat mich zuletzt mit in sein Haus geführt, hat mir Speise und Trank vorsetzen lassen, hat mich endlich gar gefragt, ob ich nicht bei ihm bleiben wolle, er stehe einer Bücherei vor und benötige in ihr einen Handlanger.

Was weiß ich unfertiger Mensch mit der Schirmmacherei anzufangen? Ich werde Handlanger in der Bücherei.

Damalen hab' ich's gut gehabt. Mit meinem Herrn bin ich zufrieden gewesen; der hat mir das Regenschirmdach reichlich erstattet; kein Lüftlein hat mich beleidigt unter seinem Dach. Aber die Handlangerarbeit hat mir nicht vonstatten gehen wollen. Der helle Fürwitz ist's gewesen; mit jedem Buch, das ich zur Hand bekommen, hätt' ich auch gleich Bekanntschaft machen mögen. Allerweile hab ich's mit den Aufschriftblättern und Inhaltsverzeichnissen zu tun gehabt, und ich hab das, was mir insonderheit erfahrungswert geschienen, gar zu lesen angefangen. Auf das Zurechtstellen und Ordnen der Bücher hab' ich vergessen.

Was sagt mein Herr eines Tages zu mir? – »Bursche, für das Auswendige der Bücher bist du nicht zu brauchen, du mußt in das Inwendige hinein. Mir dünkt es gut, daß ich dich in einer Lehranstalt unterbringe.«

»Ja freilich, ja freilich – das ist mein heimlich Verlangen.«

»Es wird gelingen, dich in die dasige GelehrtenschuleHier scheint ein Irrtum obzuwalten; unseres Wissens hat zu jener Zeit in Salzburg keine Gelehrtenschule bestanden. Vielleicht ist der wahre Name der Anstalt absichtlich verhüllt worden. (Der Herausgeber) zu stellen, du wirst rechtschaffen und fleißig sein, wirst Unterstützung finden; es geht rasch aufwärts und, kehr' die Hand, wird's heißen: Herr Doktor Erdmann!«

Ganz heiß wird mir bei diesen Worten. Nicht gar lange nachher und mir ist noch heißer geworden. Mein Brotherr hat es durchgesetzt; ich bin in die Gelehrtenschule gekommen und schnurgerade mitten hinein in das Innere der Bücher. Aber in der Schule, da werden einem trutz die allerlangweiligsten Bücher in die Hand gegeben; die kurzweiligen sind allesamt verboten. Dinge, die mich auswendig und einwendig gar nichts angegangen, hab' ich müssen in meinen Kopf hineinpressen. Das ist eine Pein gewesen; denn damalen haben mir meine Jahre und Lebensumstände den Kopf schon hübsch vollgepfropft gehabt mit anderen Dingen.

Eine siebenfältige Speiskarte ist mein Wochenkalender gewesen. Mein Mittagstisch ist gestanden: am Montag bei einem Lehrer; am Dienstag bei einem Freiherrn; am Mittwoch bei einem Kaufmann; am Donnerstag bei einem Schulgenossen, der ein reicher Tuchmacherssohn gewesen und mich zu sich in einen Gasthof geladen hat. Am Freitag hab' ich bei einem alten Obersten gegessen; am Samstag bei sehr armen Leuten in einer Dachstube, denen ich dafür die Kinder im Rechnen unterrichtet; und am Sonntag bin ich bei meinem Schutzherrn gewesen, dem Vorsteher der Bücherei. Auch habe ich von all diesen Menschen Kleider an meinem Leibe getragen.

So ist es jahrelang gewesen. Da hat mich mein Dienstag-Tischherr für sein Söhnlein zum Hauslehrer bestellt. Jetzo ist's schon besser gegangen. Zuerst habe ich den armen Leuten in der Dachstube das Mittagsmahl nachgelassen, aber die Pflicht empfunden, den Unterricht ihrer Kinder doch fortzusetzen. Ein weiteres ist gewesen, daß ich einmal meinen Frack anziehe – der ist sehr fein und vornehm, ist auch für mich nicht gemacht worden – und meine Muhme besuche. Meine Muhme macht zierliche Bücklinge und nennt mich ihren lieben, sehr lieben Herrn Vetter.

Wie freudig ich auch anfangs d'rein gegangen bin in meinem Lernen, es ist mir gar bald verleidet worden. Da habe ich vormalen immer gemeint, in einer Gelehrtenschule würde man Himmel und Erde erfassen und alles, was darin ist, im schönen Zusammenhange erkennen lernen; sie tun ja so, als ob sie das alles innehätten, die Herren Gelehrten, wenn sie mit hoher Würde über die Gasse gehen. Das hat mich sauber betrogen. Für einen, der nur studiert, um ein lustiger Student sein zu können; für einen, der nur lernt, um dereinstmalen als »Gelehrter« zu prangen oder als solcher sein Brot zu erwerben – für so einen mag diese Gelehrtenschule taugen. Für einen nach wahrem Wissen und Erkennen Strebenden aber ist sie ein erbärmlich Ding. Ein sehr erbärmlich Ding.

Schöne Gegenstände sind auf dem Lehrplan gestanden. Schon in den unteren Abteilungen haben wir Erdbeschreibung, Geschichte, Meß- und Größenlehre, Sprachlehre usw. gehabt. Die verkehrte Welt ist's gewesen. In der Erdbeschreibung haben wir statt Länder- und Völkerkunde nur die Größe der Fürstentümer und ihrer Städte vor Augen gehabt. In der Geschichte haben wir, anstatt der naturgemäßen Entwicklung der Menschheit nachzuspüren, spitzfindige Staatenklügelei getrieben; der Lehrer hat allfort nur von hohen Fürstenhäusern und ihren Stammbäumen, Umtrieben und Schlachten geschwätzt; sonst hat der Wicht nichts gewußt. In der Meßlehre haben wir uns mit Beispielen abgeplagt, die weder der Lehrer noch der Schüler verstanden und im Leben selten vorkommen. Die Sprachlehre ist schon gar ein Elend gewesen. Ach, die schöne arme deutsche Sprache ist zugerichtet, daß einem das Herz möcht' brechen. Seit vielen Jahren ist sie von der welschen belagert, ja hochnotpeinlich auf die Folter gespannt. Und wollt's ein deutscher Bursche einmal versuchen, seine reinen Mutterlaute wieder zu Ehren zu bringen, alsogleich taten die hochgelahrten Herren herbeistürzen mit ihrem Griechisch und Latein, um mit dem toten Buchstaben der toten Sprachen auch den deutschen Laut zu töten. Ich weiß recht gut, welchen Segen die Sprache des Homer und Virgil in sich trägt; davon zeugt unser Klopstock und Schiller. Aber die gelehrten Pharisäer, von denen ich rede, gehen auf den Buchstaben und nicht auf den Geist. Mit überflüssigen Dingen pferchen sie uns den Kopf voll. Die unsinnigsten Lehrsätze, vor Jahrhunderten von verkehrten Köpfen erfunden, müssen wir auswendig lernen; ... ja, wenn ich all das Erbärmliche wollte beschreiben! – Und wer das dürre Zeug nicht mag und kann, der wird von den Lehrern mißhandelt. Wir sind schutzlos; sie haben uns in ihrer Gewalt. Beliebt es ihnen, Spaße zu machen, so müssen die uns ergötzlich sein. Haben sie Zahnschmerz, so müssen wir es entgelten. Ach, das ist ein böses Gehetze und Geplage; für unbemittelte Bursche schon gar ein Elend!

Während ich in der Anstalt gewesen, haben sich zwei Schüler ums Leben gebracht. – Auch gut, hat der Leiter der Schule gesagt, was sich nicht biegt, das muß brechen. Und das ist die Grabrede gewesen.

Da ist am ersten Tage nach einem solchen Selbstmord, daß ich daran komme, in der lateinischen Sprache über das Wesen der römischen Könige vor meinen Lehrern und Lerngenossen eine Rede zu halten. Ich komme geradewegs von der Bahre meines unglücklichen Kameraden, und hocherregten Gemütes besteige ich den Redestuhl. »Ich will vergleichen zwischen den Römern und den Deutschen«, rufe ich, »die alten Tyrannen haben den Körper geknechtet, die neuen knechten den Geist. Da draußen in der finsteren Kammer, verlassen und aller Ehre beraubt, liegt einer, zu Tode gehetzt...«

Ich mag noch einige Worte gesagt haben; dann aber nahen sie und führen mich lächelnd vom Redestuhl herab. »Der Erdmann ist verwirrt«, sagte einer der Lehrer, »nicht deutsch, sondern lateinisch soll er sprechen. Demnächst wird er's besser machen.«

Bin nach Hause getaumelt wie ein Narr. Heinrich, der Tuchmacherssohn, mein Tisch- und Schulgenosse, eilt mir nach: »Andreas, was hast du getan? Was hast du geredet?«

»Zuwenig, zuwenig«, sage ich.

»Das wird dich verderben, Andreas; kehre sogleich um und leiste den Herren Abbitte.«

Da lache ich dem Freunde in das Gesicht. Er faßt mich jedoch bewegt an der Hand und sagt »Wahr ist es, bei Gott, es ist wahr, was du gesprochen. Wir empfinden es alle, aber just deswegen werden dir die Herren das Wort nimmer verzeihen.«

»Das sollen sie auch nicht«, entgegne ich in meinem Trotze.

Heinrich schweigt eine Weile und geht neben mir her. Endlich sagt er: »Ein wenig klüger mußt du werden, Andreas; und jetzt geh' und fasse dich.«

Meine Hand zittert, da sie das schreibt; es ist aber alles schon vorbei.

Ein Jahr vor dieser obigen Begebenheit hat mir mein Freund Heinrich die Unterrichtsstelle vermittelt, und zwar in dem vornehmen Hause des Freiherrn von Schrankenheim. Meine Aufgabe ist nicht groß, einen Knaben habe ich zu unterrichten und für die Lehrgegenstände der Hochschule vorzubereiten. In diesem Hause ist es mir gut ergangen, und ich habe nicht mehr nötig gehabt, mein Mittagsbrot an verschiedenen Tischen zu erbetteln. Mein Schüler Hermann, ein prächtiger, lernbegieriger Jüngling, hat mich liebgehabt. So auch seine Schwester, ein außerordentlich schönes Mädchen – ich bin von Herzen ihr Freund gewesen.

Aber, wie die Zeit so hingeht, da wird mir zuweilen kindisch zumute, wird mir fortweg schwüler und unbehaglicher in dem reichen Hause. Ein wenig ungeschickt und linkisch bin ich immer gewesen – jetzund wird's noch ärger. Ich habe keinen festen Boden unter den Füßen und zuweilen kein rechtes Vertrauen zu mir selber. Die Leute im Hause wissen es alle, daß ich ein blutarmer Junge bin, und sie vergessen es keinen Augenblick; sie zeigen sich gar mitleidig, und selbst die Dienerschaft will mir oftmals Geschenke zustecken.

Gerade mein Zögling hat Feingefühl, ist lustig und zutraulich zu mir; und das Mädchen – o Gott, o mein Gott, das ist ein schönes, schönes Kind gewesen.

Wenn ich des Abends gewandelt bin außer der Stadt und über entlegene Wiesen oder an buschigen Lehnen hin, und es hat mir ein Blütenblatt um das Haupt getanzt, oder es ist mir eine Heuschrecke über den Fuß gehüpft, da hab' ich oftmals bei mir gedacht, was es doch eine Glückseligkeit wäre, schön und reich zu sein. Die Zwerge von dem nahen Untersberg und den Kaiser Karl habe ich angerufen in meiner Einfalt. Heiß ist mir geworden in der Brust; geschwärmt habe ich von »Blumen und Sternen und ihren Augen«. – Von wessen Augen? Da schrecke ich auf – Jesus, was ist das? Andreas, Andreas, was soll daraus werden? –

Dazumal bin ich achtzehn Jahre alt gewesen. Aus Rand und Band bin ich eines Tages zu meinem Freunde Heinrich gelaufen – hab' ihm alles anvertraut. Heinrich hat mich sonst am besten verstanden von allen Menschen. Aber diesmal hat er mir den Rat gegeben, ich möge mich bezwingen; es ginge fast allen jungen Leuten so wie mir, aber es ginge vorüber. – Kaum um fünf Jahre älter als ich, hat er so gesprochen.

So bin ich ganz allein. Da denke ich bei mir: Gleichwohl jung an Jahren, kann ich die Sache doch auch ruhig überlegen – trutz altkluger Leute. Daß ich arm bin, das verspürt keiner so als ich selber; daß ich bescheidener Herkunft bin, das treibt mich, aus mir selber etwas zu machen. Recht hat er, ich werde mich bezwingen; aber nur, wenn ich vor meinen Lehrern stehe. Ich werde meine eigenmächtig strebenden Neigungen derweil bezähmen und mich mit Fleiß und Ausdauer der Anstalt unterwerfen. Trotz all des Unsinnes und der Ungerechtigkeit, so durchlaufen werden muß, ist man in ein paar Jahren Doktor, hochweiser Magister.

Und hochweise Magister dürfen um Freiherrntöchter freien. Ein Mann, werde ich hintreten und um sie werben. –

Noch habe ich meine Absicht in mir verschlossen; habe mich aber mit festem Willen meinem Studium ergeben, bin unter meinen Genossen einer der ersten gewesen. Prächtig ist es vorwärts gegangen und meinem Ziele näher und näher. Schon sehe ich den Tag, an welchem ich, ein Mann von Stand und Würde, die Jungfrau freien werde. Im Hause haben sie mich alle lieb; der Freiherr ist nicht adelsstolz und mag vielleicht gerne einen Gelehrten zum Tochtermann haben. Bin wohl in Freude und Glück gewesen. Da haben mich meine Lehrer bei der Hauptprüfung – niedergeworfen.

Schnurgerade bin ich nach Hause gegangen an demselbigen Tag, bin hingetreten vor den Vater meines Zöglings: »Herr, ich habe großen Dank für Ihre Güte zu mir. Länger kann ich in Ihrem Hause nicht bleiben.«

Er sieht mich sehr verwundert an und entgegnet nach einer Weile: »Was wollen Sie denn beginnen?«

»Ich muß fortgehen von dieser Stadt.«

»Und wo werden Sie hingehen?«

»Das weiß ich nicht.«

Der gute Mann hat mir mit ruhigen Worten gesagt, daß ich überspannt und wohl krank sein müsse. Was mir geschehen, könne auch anderen geschehen; er wolle mich pflegen lassen, und im Frieden seines Hauses würde ich mich wieder erholen und übers Jahr die Prüfung gewiß mit Glück bestehen.

Hierauf habe ich meine Absicht, fortzugehen, noch bestimmter dargetan; ich habe es wohl gewußt, die Ursache meines Falles ist die deutsche Rede über die lateinischen Könige gewesen, und in solchen Verhältnissen würde ich eine Hauptprüfung nimmer bestehen. Heinrich hat recht gehabt.

»Gut, mein eigensinniger Herr«, ist der Bescheid des Edelmannes, »ich entlasse Sie.«

Bei wem soll ich mich verabschieden? Bei meinem jungen Zögling? Bei der Jungfrau? Herrgott, führe mich nicht in Versuchung! Sie ist noch gar so jung. Sie hat mich freundlich und heiter entlassen. Ein Schlucker geht davon, ein gemachter Mann kehrt wieder zurück. Mehr Trotz als Mut ist in mir gewesen.

Meine alte Muhme habe ich noch besucht. Jetzund, wie ich nicht mehr im feinen Frack, sondern in einem groben Zwilchrock vor ihr stehe und ihr meinen Entschluß sage, daß ich fortginge, fort, vielleicht zur Rechten, vielleicht zur Linken hin – – da hat nicht viel gefehlt, daß ich wieder die ausdrucksvolle Bezeichnung bekomme. »Nein«, ruft sie, »nein, aber du bist ein – ein – recht absonderlicher Mensch! Da ist er schier ein braver, rechtschaffener Mann gewesen, und jetzt – ach, geh' mir weiter!«

Sie ist meine einzige Verwandte auf der Welt.

Zu Heinrich bin ich endlich gegangen: »Ich danke dir zu tausendmal für deine Lieb', du getreuer Freund, wie tut es mir weh, daß ich sie dir nicht lohnen kann. Du weißt, was geschehen ist. Wie du mich hier siehst, so gehe ich davon. Habe ich etwas Bedeutendes vollbracht, so werde ich wiederkehren und dir vergelten.«

Es ist mir nicht mehr erinnerlich, ob ich ihm von ihr auch noch was gesagt habe. Jung, sehr jung bin ich freilich gewesen, als ich meinen Fuß hab' in die weite Welt gesetzt.

Heinrich hat mich eine weite Strecke begleitet. Am Scheidewege hat er mich gezwungen, seine Barschaft anzunehmen. Brust an Brust haben wir uns ewige Treue gelobt, dann sind wir geschieden.

O Heinrich! du goldgetreues Herz, du hast es gut mit mir gehalten. Und wie habe ich es dir gelohnt, mein Heinrich, mein Heinrich!...
 

Die Sonne geht von Morgen gegen Abend; sie hat mir meinen Weg gewiesen. »Ade, Welt, ich gehe nach Tirol!« hab' ich gesagt; im Tirolerland tun sich jetzund die Leut' zusammen gegen den Feind. Der Höllenmensch Bonaparte führt die Franzosen ein, will uns das Vaterland zertreten ganz und gar.

Nach etlichen Tagen steig' ich zu Innsbruck die Burgtreppen hinan. »Mit dem Andreas Hofer will ich reden!« sag' ich zum Torwart.

»Wer wehrt dir's denn!« sagt der und stößt seinen Spieß auf den Marmelstein, daß es gerade klingt. Ich geh' durch der Zimmer drei oder vier, eines vornehmer wie das andere; große Spiegel an den Wänden, güldene Kronleuchter an den Decken, und gar der Fußboden glänzt, wo nicht bunte Webematten gebreitet sind, wie Glas und Edelholz. Bauernbursche gehen aus und ein, singen, pfeifen, poltern, rauchen Tabak und sind in Alpentracht von den derben Nägelschuhen bis hinauf zu dem spitzen Hahnenfederhut. Letztlich stehe ich in einer großen Stube; sitzen ein paar bäuerliche Männer am Schreibtisch, ein paar andere stehen daneben, laden ihre großen Pfeifen mit Tabak, halten bayerische Geldnoten über eine brennende Kerze und zünden sich damit das Rauchzeug an.

»Will mit dem Andreas Hofer sprechen«, sage ich. Sollt' warten, heißt's, er tät gerad' regieren. Ich stelle mich an. Allerhand Leute gehen aus und ein. Ein junges Menschenpaar ist mir noch im Kopf, das ist arg verzagt, wie es eintreten soll. »Daß sie uns gerad erwischt haben müssen!« knirscht der Bursche der Maid zu, »desweg sag' ich ja allemal: Nur in keiner Hütten nit!« – »Ach, leider Gottes!« sagt sie, »und jetzt setzen sie uns den Strohkranz auf oder tun uns was anderes an, daß wir uns nimmer haben können. Der Sandwirt ist so viel gestreng.«

Sie werden vorgerufen. Da höre ich drinnen aufbegehren: »Luderei leid' ich keine! Wer seid's denn?« – »Der und die.« – »Seid's nit etwan blutsverwandt?« – »Ah, das nit.« – »Habt's euch wirklich gern?« – »Freilich wohl.« – »Auf der Stell' z'sammheiraten!«

Ich habe meiner Tage nicht so viel lustige Gesichter gesehen als die gewesen, womit das junge Menschenpaar jetzund ist heraus und davongelaufen. Die sind arm allzwei, und dennoch' geht's so leicht. Nun komme ich daran.

Da steht ein Mann in Hemdärmeln mit einem großmächtigen Vollbart auf: »Was willst denn?«

»Ich will zur Wehr gehen!«

Der bärtige Mann – es ist der Hofer über und über – schaut mich an, und nicht allzu laut sagt er: »Bist gleichwohl noch recht Jung. Hast Vater und Mutter?«

»Nimmermehr.«

»Bist vom Land Tirol?«

»Nicht, aber gleich von der Nachbarschaft her.«

»Wohl ein Studiosus? Willst Geistlich werden?«

»Zur Wehr möcht' ich gehen und fürs Vaterland streiten.«

Nun greift er in den Ledergurt, zieht Silbergeld heraus, legt's auf den Tisch: »Da Bursche, Gott gesegnet; magst nach Wien gehen und dich beim Karl werben lassen. Bist ein unerfahrener Mensch. Bist auch unser Landsmann nicht.«

Ich mach' meine Begrüßung und will mich kehren.

»He da!« ruft er mir nach, schiebt mir das Silbergeld vor.

»Ich sage meinen Dank. Das Geld brauch' ich nicht.«

Jetzund, wie ich das gesagt, hebt dem Mann das Aug' an zu glühen: »Das ist wacker, das ist brav«, ruft er. »Kannst schreiben? Brauch' einen Schreiber, der eine gute Schrift und ein gutes Gewissen hat.«

»Mein Gewissen ist auch für einen Soldaten gut genug«, sage ich finster.

»He, Seppli!« ruft drauf der Hofer, »weis' dem Mann Messer und Stutzen bei! – Schau, das ist brav!« er preßt mir die Hand, »Arbeit werden wir schon kriegen, selbander.«

Ich bin Kriegsmann, Tirolerschütz'. Arbeit hat es bald gegeben.

Die Franzosen und die Bayern und etwan auch die Österreicher hinten haben es nicht gelitten, daß in der Burg zu Innsbruck ein Bauer sollt' König sein. Mit Haufen ist der früher von den Tirolern dreimal geschlagene Feind eingebrochen ins Land. Der Stutzen ist mir besser in die Hand gegangen, als ich vermeint. All Vergangenes hab' ich vergessen, nur meinen Freund Heinrich hätt' ich an der Seit' mögen haben gegen den Feind. Eine welsche Fahne hab' ich genommen, und wie ich die zweit' will holen, haben sie mich ertappt. Drei bärtige Franzosen haben mir wütendem Knaben lachend das Wehrzeug abgenommen... Gefangen haben sie mich dann davongeschleppt, durch das Bayern- und Schwabenland hinein in das Frankenreich.

Ich mag die Zeit nicht wieder beschreiben. Eine Hundenot ist es gewesen. Eine Hundenot, nicht weil ich drei Jahr' lang gelegen bin in der Gefangenschaft eines fremden Landes, sondern weil ich ein Empörer gegen mein eigen Land. Gegen unseres Kaisers Willen – hat es geheißen – hätten sich die Tiroler erhoben, denn von seiner Hand seien sie den Bayern zugeteilt gewesen. Deutsche Landsleute selber haben es gesagt, und so ist mein Herzensunglück angegangen. – Anstatt ein Heldenwerk hast du eine böse Tat vollführen helfen, Andreas; als Empörer liegst du in Ketten.

Von einem großen Feldzug nach Rußland und ins Morgenland hinein wird gesprochen. Selbunter werde ich, wie viele andere meiner Landsleute, frei. Viele andere haben der Heimat zugestrebt. Ich weiß von einer Heimat nichts; darf nichts wissen. Blutarme Narren, wie ich einer bin, sind in der Heimat übler daran als anderswo. Und als Empörer, der ich nun bin, kehre ich schon gar nicht heim. Ich will das arge Fehl sühnen, daß ich gegen den großen Feldherrn rechtlos die Waffen geführt, ich will mit seinen Scharen ziehen, um die Völker des Morgenlandes befreien und der Hut des Abendlandes unterordnen zu helfen. – Ein großes Ziel, Andreas, aber ein weiter Weg! Die Deutschen haben uns den Weg schwer gemacht, aber der Feldherr ist wie ein Blitz hingefahren in die zerrissenen Völkerfetzen, die keinen großen Gedanken gehabt und keine große Tat. Und das Heer der Russen haben wir vor uns hingeschoben über die wilden Steppen und endlosen Schneeheiden, viele Wochen lang. Aber zu Moskau hat der Russe den Feuerbrand geschleudert zwischen sich und uns, mitten in seine eigene Hauptstadt hinein. – Jetzund stehen wir tief im Lande des ewigen Winters und sind ohne Halt und Stätte und Mittel. Mensch und Schöpfung allmitsamt ist unser Feind gewesen. Da hat's der Feldherr gesehen, es geht bös' in die Brüch', und wir haben uns zur Umkehr gewendet. – Ach großer Gott! Die weiten Sturmwüsten, die hundert Eisströme, die unendlichen Schneefelder, die gewesen sind zwischen uns und dem Vaterland! – Wer marschieren kann und seine erstarrten Beine mag abschleifen bis auf die Knie; wer dem sterbenden Gefährten den letzten Fetzen vom Leib mag reißen, um sich selber zu decken; wer das warme Blut will saugen aus seinen eigenen Adern und das Fleisch von gefallenen Rossen und getöteten Wölfen will verzehren; wer mit den Decken des Schnees sich kann erwärmen und mit den Wellen des Wassers und mit den Schollen des Eises versteht zu ringen, und obendrein den Schreck und den Gram und die Verzweiflung weiß zu besiegen – vielleicht, daß er seine Heimat sieht.

Erstarrt wie mein Leib ist meine Seel' und mein Gedanken – in einer Wildnis, unter den schneebelasteten Ästen einer Tanne bin ich liegengeblieben...

Ein räucherig Holzgelaß und ein lebendig Feuer und ein langbärtiger Mann und ein braunfärbig Mädchen haben mich umgeben, als ich erwacht bin auf einem Lager von Moos. Eine Pelzhaut ist auf meinem Körper gelegen. Draußen hat es getost wie ein Wasser oder wie ein Sturm. – Das sind gute, freundliche Augen gewesen, die aus den zwei Menschen mich angeschaut haben. Der Mann hat des Feuers gepflegt; das Mädchen hat mir Milch in den Mund geflößt. In ihrer rauhen Sprache haben sie Worte gewechselt; ich hab' kein einziges verstanden. An Heinrich habe ich gedacht, an den lieben Laut seiner Worte... Mein Leib hat mich geschmerzt; der Mann hat ihn in ein nasses Tuch geschlagen. Das Mädchen hat mir ein kleines Kreuz mit zwei Gegenbalken vor die Augen gehalten und dabei etwas gemurmelt wie ein Gebet. – Sie betet den Sterbesegen, Andreas!

Du liebes Freundeshaus in Feindesland, was in dir weiter mit mir gewesen ist, das weiß ich nicht mehr zu denken. Das braune Mädchen hat seine Hand oftmals an meine Stirne gelegt. Wär's dazumal dazu gekommen, es wär' ein schönes Sterben gewesen. Es hat sich anders zugetragen. Noch heute hör' ich den Schlag, der die Hüttentür hat zertrümmert. Kriegsgefährten sind eingedrungen, haben den alten Mann mißhandelt und das braunfärbige Mädchen von meinem Lager gestoßen. Mich haben sie davongetragen, hin durch den Sturm und hin durch die Wildnisse – dem Heere nach.

Mir aber ist gewesen, als täten sie mich schleppen aus der Heimat fort... Gottes ist die Welt überall. Aber die Gefährten haben mich nicht zurückgelassen; das hat mich doch wieder im Herzen gefreut. Fest und treu will ich sein, will zu ihnen halten und meinem großen Feldherrn dienen.

Am Rhein bin ich genesen. Und zur neuen Frühjahrszeit ein neues Leben hab' ich in mir empfunden. Ein Bursch, der dreiundzwanzig Jahre zählt, hab' ich geglüht für das Hohe und Rechte, für das Gemeinsame, für die Menschenbrüder aller Himmelsstriche; hab' in Begeisterung mit meinen Scharen ausgerufen: »Ein Gott im Himmel und ein Herr auf Erden!« Er ist der Befreier, der Fürstenhader muß enden. Die Stämme müssen ein großes einiges Volk werden! – Solche Gedanken haben mich begeistert. Des Feldherrn finsteres Aug', wie ein Blitz in der Nacht, hat uns alle entflammt. Gegen das Sachsenland sind wir gezogen, um dort den Streit für unseren Herrn auszukämpfen und das schöne deutsche Land unter seinen Schutz zu stellen.

Bei Lützen hab' ich einem welschen Feldherrn das Leben geschützt; vor Dresden hab' ich dem Blücher das Roß niedergeschossen; bei Leipzig hab' ich meinen Heinrich erschossen ...

»Andreas!« das ist sein Todesschrei gewesen. An dem hab' ich ihn erkannt. Mitten aus der Brust ist der Blutquell gesprungen. – –

Jetzt kommt mir die Besinnung. Mein Gewehr hab' ich um einen Stein geschlagen, daß es zerschmettert; waffenlos bin ich in die Schlacht gerast; mit seinem eigenen Schwert hab' ich einem Franzosenführer den Schädel gespalten.

Was hat's genützt? Ich hab' doch gegen mein Vaterland gestritten, gegen die Brüder, die meine Sprache reden, während ich meine welschen Gefährten kaum verstanden. Und ich hab' meinen Heinrich erschossen. Ach, wie spät gehen mir die Augen auf!

– Bist ein unerfahrener Mensch. Geh nach Wien zum Karl! – Du getreuer Hofer, hätt' ich deinen Wink befolgt! – Deine Fahne ist gut gewesen, und herrlicher als alle anderen im weiten Land. Von der Stund' an, da mir der Glauben an sie aus dem Herzen gerissen worden, ist mein Unglück angegangen. Die Lieb' zur freien Welt hat mich in die Gefangenschaft gebracht; mein freiwillig Büßen hat mich in Schuld gestürzt; die Treue zu meinem Feldherrn und die Sehnsucht nach einem Großen und Gemeinsamen hat mich zum Verräter meines Vaterlandes, zum Mörder meines Freundes gemacht. – Andreas, wenn schon die Tugend dich dahin geführt, wohin erst hätte dich böse Absicht gestürzt? – Den treuen Führer hast du stolz abgelehnt, da hat dir Erfahrung und Führung gemangelt. – Andreas! du hast dich dem Handwerk und der Wissenschaft und dem Soldatenleben zugewendet; Elend, Wirrnis und Reue hast du geerntet. Fremde Menschen haben dich gehegt und gepflegt wie einen Sohn und Bruder; sie sind dafür mißhandelt worden. Du bringst der Welt und den Menschen nichts Gutes; Andreas, du mußt in die tiefste Wildnis gehen und ein Einsiedler sein! –

Im Sachsenlande, unter dem Balken einer Windmühle, hab' ich mir diese Wahrheiten gesagt. Und danach bin ich davon, bin geflohen durch das Böhmer- und Österreicherland, bin nach vielen Tagen in die Stadt Salzburg gekommen. Daß in dieser Stadt mich armen, kranken, herabgekommenen Gesellen noch wer erkennen sollt', hab' ich nicht gefürchtet. Im Peters-Friedhof liegt mein Vater begraben, den Hügel hab' ich sehen wollen, ehe ich mir die Höhle suche in einer verlassenen Waldschlucht der Heimat. Und wie ich so auf der kalten gefrorenen Erde liege und weinen kann aus dem Herzen, über mein noch so blutjunges und so unglückseliges Leben, da kommt ein Herr zwischen den Gräbern gegangen, fragt nach meiner Kümmernis und schlägt die Hände zusammen. »Erdmann«, ruft er aus, »Sie hier? Und wie sehen Sie aus! Kaum vier Jahre davon und kaum mehr zu erkennen!«

Herr von Schrankenheim steht vor mir, der Vater meines einstigen Zöglings.

Ich bin mit ihm zwischen den Hügeln auf und ab gegangen, hab' ihm alles erzählt. Mit fast hartem Gesicht drückt mir der Mann Geld in die Hand: »Da, schaffen Sie sich Kleider und kommen Sie dann in mein Haus. – Einsiedler werden, pah, das ist kein Gedanke für einen jungen braven Burschen. Ihren Kleinmut müssen Sie überwinden, ein Weiteres wird sich geben.«

Mit großer Angst bin ich in sein Haus gegangen; denn die eine Narrheit hab' ich noch nicht überwunden gehabt.

Der Herr von Schrankenheim hat mich seinem Sohne vorgestellt. Das ist schon ein recht hochgewachsener, zierlicher Herr geworden. Die Hände am Rücken, hat er eine stille Verbeugung vor mir gemacht und nach kurzer Weile noch eine, und ist abgetreten. Hierauf hat mich der Vater in sein Arbeitsgemach geführt, hat mich auf den weichsten Sessel niedersitzen geheißen.

»Erdmann«, hebt er nachher an zu reden, »ist es Ihr wahrhaftiger Ernst, daß Sie in die Wildnis gehen und Einsiedler werden wollen?«

»Das ist für mich das Beste«, antworte ich, »ich tauge nicht unter die Menschen, die in Lust und Freuden leben; mich haben die wenigen Jahre meiner Jugend herumgeworfen in Irren und Wirren, von einem Land in das andere, und in der Völker Not. Herr, ich kenne die Welt und bin ihrer satt.«

»Sie sind kaum an die vierundzwanzig Jahre und noch nicht auf der Höhe Ihrer Kraft; und Sie wollen verzichten auf die Dienste, die Sie den Mitmenschen würden leisten können?«

Da horchte ich auf; das Wort faßt mich an.

»Wenn Sie meinen, Sie haben bislang nur Übles gestiftet, warum wollen Sie sich aus dem Staube machen, ohne der Welt, dem Gemeinsamen, auch das Gute zu geben, das gewiß in reichem Maße in Ihnen schlummert?«

Da erhebe ich mich von meinem Sitze: »Herr, so weisen Sie mir die Wege dazu!«

»Wohlan«, sagt der Herr von Schrankenheim, »vielleicht kann ich es, wenn Sie wieder Platz nehmen und mich anhören wollen. – Erdmann, ich wüßte eine tiefe und wahrhaftige Einsiedelei, in welcher man den Menschen dienen und vielleicht Großes für das Gemeinsame wirken könnte. Weit von hier, tief drinnen in den Alpen dehnen sich zwischen Felsgebirgen große Waldungen, in welchen Hirten, Schützen, Holzschläger, Kohlenbrenner beschäftigt sind, in welchen auch andere Menschen wohnen, wie sie sich etwa redlich zurückgezogen oder unredlich geflüchtet haben, und die nun durch erlaubten oder unerlaubten Erwerb ihr Leben fristen. Wohl wahr, es sind finstere Menschen, in deren Herzen das Unglück oder noch was Ärgeres nagt. Sie haben weder einen Priester noch einen Arzt noch einen Schullehrer in ihrer Nähe; sie sind ganz verlassen und abgesondert und nur auf ihre Unbeholfenheit und auf ihr eigenes ungezügeltes Wesen angewiesen. – Ich bin der Eigentümer der Waldungen. Ich habe seit längerer Zeit schon die Absicht, einen Mann in diese Gegend zu senden, der die Bewohner derselben ein wenig leite, ihnen mit redlichem Rate beistehe und die Kinder im Lesen und Schreiben unterrichte. Der Mann könnte sich gar sehr verdient machen. Es findet sich wahrhaftig so leicht keiner dafür; es wäre denn einer, der weltsatt in der Einsamkeit leben und doch für die Menschen wirken wolle. – Erdmann, was meinen Sie dazu?«

Nach diesen Worten ist mir jählings gewesen, als ob ich sogleich meine Hand hinhalten und sagen müßte: Ich bin der Mann dazu. Mit den Zuständen dieser alten Welt zerfallen, will ich in der Wildnis eine neue gründen. Eine neue Schule, eine neue Gemeine – ein neues Leben. Lasset mich heute noch hinziehen! – So ist das Feuer doch nicht ganz tot; es sind aus der Asche Funken gestoben.

»Wir haben den Winter vor der Tür«, redet der Herr weiter, »Sie bleiben den Winter über in meinem Hause und pflegen reiflicher Überlegung, und wenn wieder der Sommer kommt und es gefällt Ihnen mein Antrag noch, so gehen Sie in die Wälder.«

Sooft ich im Vorzimmer ein Kleid hab' rauschen gehört, bin ich erschrocken, und letzlich hab' ich den Herrn gebeten, er möge mich über den Winter ziehen lassen; mit den Schwalben würde ich wieder kommen und seinen Vorschlag annehmen.

Er hat sich's nicht nehmen lassen, mir die »Mittel« für den Winter zu spenden; dann aber bin ich geflohen. Im Vorsaale ist eine Frauengestalt gestanden, an der bin ich vorübergehuscht wie ein Wicht.

Einen Tag bin ich gewandert, bis ans Waldland an den See, wo meine Kindheit und meine Mutter begraben liegen. Und hier im Ort hab' ich mir für den Winter ein Stübchen gemietet. Oftmals steige ich die Schneelehnen hinan und stehe unter bemoosten Bäumen, wo es mir ist, als sei ich einmal mit meiner Mutter, mit meinem Vater gestanden, oftmals gehe ich über den gefrorenen See und denke an die Tage an welchen ich im Kahn bei Vater und Mutter über die weichen Wellen gefahren bin. Das Abendrot ist auf den Bergen gestanden, der Sangschall einer Almerin hat an die Wände geschlagen. Mein Vater und meine Mutter haben auch gesungen. Das ist voreh gewesen; voreh...

Ich bin in Frankreich auf der Festung gelegen; ich' bin krank und sterbend in den Wüsten Rußlands geirrt, und nun leb' ich in dir, du stilles, trautes Stübchen am See. – Es wär' ja alles gut, die Zeit der Not versinkt wie ein Traumbild; – nur du solltest nimmer aufgegangen sein, du unglückseliger Tag im Sachsenland, du wirst mich ewig brennen. – Heinrich, ich fürchte mich nicht vor deiner Grabgestalt nur ein einzigmal tritt zu mir; daß ich dir sag': Es ist in Blindheit geschehen, ich kann nicht mehr anders – mit meinem Leben will ich's löschen...
 

Nun ist es gut. Ich habe mich seit vielen Tagen geprüft; habe mein Vorleben erforscht und es in kurzen Worten hier aufgeschrieben, auf daß es mir stets um so klarer vor Augen liege, wenn neue Wirrnis und Trübsal über mich kommen wird. Ich denke wohl, daß ich die Schule des Lebens vielleicht um ein weniges besser bestehen mag als die Schule der Bücher und toten Lehrsätze. Ich bin zur Erkenntnis gekommen, und mein Gemüt ist ruhig geworden. Wie ich meine Erlebnisse und Verhältnisse, meine Eigenschaften und Neigungen genau überdacht habe, so glaube ich, es ist keine Vermessenheit, den Vorschlag des Freiherrn von Schrankenheim anzunehmen.

Bin ich von außen gleichwohl noch recht jung, von innen bin ich hochbetagt. Von einem alten Mann ein guter Rat darf wohl den Waldleuten willkommen sein.
 

Salzburg, am Tage des heiligen Antoni von Padua 1814    

Es ist richtig, ich gehe in den Wald. Ich bin ausgerüstet und mit allem fertig. Der Freiherr hat mir in allem seinen Beistand zugesagt. Sein Sohn Hermann hat mich wieder mit einer freundlichen Verbeugung begrüßt. Der junge Herr ist ein wenig blaß; er wird viel lernen. Seine Schwester... (Hier waren in der Urschrift zwei Zeilen so vielfach durchstrichen, daß sie vollständig unlesbar geworden sind.)

Meiner Muhme soll es wohl gehen. Ich habe ihr nicht das Leid antun mögen, das sie bei meinem Aussehen und Vorhaben empfunden hätte; habe sie nicht mehr besucht. Nun bläst das Posthorn. Lebe wohl, du schöne Stadt.
 

Schon drei Tage auf der Reise. Das ist doch ein freundlicheres Wandern als jenes auf den Wintersteppen.

Vorgestern hat grünes Hügelland mit malerischen Gebirgsgegenden gewechselt. Gestern sind wir in ein breites Tal gekommen. Heute geht es fort Berg auf und ab, durch Wälder und Schluchten und an Felswänden hin. Jetzt wird die Straße allweg schmaler und holperiger; zuweilen müssen wir aus dem Wagen steigen und niedergebrochene Steinblöcke beseitigen, daß wir weiterfahren können. Gemsen und Rehe sehen wir mehr als Menschen. Die heutige Nachtherberge habe ich schuldig bleiben müssen. Die Geldnote, die ich bei mir habe, können die Leute dieser Gegend nicht wechseln. Ich hätte dem Wirt ein Pfand gelassen, aber er hat gemeint, wenn es sei, wie ich sage, daß ich in die Wälder der Winkelwässer gehe und alldorten verbleibe, so würde sich wohl einmal eine Gelegenheit bieten, ihm den geringen Betrag zuzuschicken. Es käme zuzeiten ein Bote aus jenen Waldungen gegangen, der dies gerne besorge. – Die Geldnoten muß ich dem Herrn zurückschicken und um kleine Münzen bitten.
 

An diesem vierten Tage bin ich ausgesetzt worden.

Die Postkutsche ist ihren Weg weitergerollt; ich habe noch eine Weile das helle Horn klingen gehört im Walde, darauf ist alles still gewesen, und ich sitze da bei meinem Bündel, mitten in der Wildnis.

Durch die Waldschlucht rauscht ein Bach heraus, der die Winkel heißen soll und dem entlang ein Fußsteig geht. Er geht über Gestein und Wurzeln, ist mit dürren Fichtennadeln vergangener Jahre besät und sieht aus, wie von wilden Tieren getreten. Diesen Weg muß ich wandeln.

Dort, durch die Wipfel sehe ich eine weiße Tafel blinken, das ist ein Schneefeld. – Und da drin sollen noch Menschen wohnen?
 

So weit hatte ich in den Schriften gelesen, da läutete es auf dem Turme zum Zeichen der zwölften Stunde. Gleich darauf klopfte es ans Fenster: Die Wirtin schicke mir einen Regenschirm, wenn ich zum Essen gehen wolle. – Es strömte der Regen, und in grauen Strähnen rieselte es vom Dach.

Nach Tische las ich weiter.


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