Peter Rosegger
Die Schriften des Waldschulmeisters
Peter Rosegger

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Zweiter Teil

Vor mehreren Jahrhunderten sollen in der Gegend der Winkelwässer Menschen gewohnt haben, die sich von Getreidebau, Viehzucht und Jagd ernährt. – Die Winkel ist vorsorglich eingedämmt, an ihren Ufern hin grünen gepflegte Wiesen, und ein Fahrweg führt hinaus zu den vorderen Gegenden. An den Bergen grünen Felder. – So soll es gewesen sein. Unweit von dem Platze, wo jetzt das Holzmeisterhaus steht, zeigt ein Mauerrest die Stätte, wo eine Kirche gestanden sein soll. Zwar geht die Meinung, es sei keine Kirche gewesen, sondern ein Götzentempel, in welchem sie noch dem Wuotan Met zugetrunken und Tiere geopfert, sooft der Vollmondschein durch die Blätter der Linden gerieselt. Zur selben alten Zeit sei jedes Jahr ein schneeweißer Rabe niedergeflogen von den Alpenwüsten, und diesem habe man Korn auf die Steine gestreut, der Vogel habe das Korn aufgepickt und hierauf sei er wieder von dannen geflogen. Einmal aber habe man dem weißen Raben keine Körner gestreut, weil ein Mißjahr gewesen und weil ein Mann die Sache für etwas Albernes ausgelegt habe. Darauf sei der Rabe nicht mehr gekommen. – Aber kaum der Winter vorüber, da seien von Sonnenaufgang her wilde Völkerscharen herangeströmt mit häßlichen braunen Gesichtern, blutroten Hauben und Roßschweifen, auf wunderlichen Tieren reitend, seltsame Waffen schleppend, und gar in die Winkelwälder hereingezogen. Diese Rotten haben geplündert und die Leute zu Hunderten verschleppt, so daß die Gegend menschenleer geworden.

Dann sind die Häuser und der Tempel verfallen, das Wasser hat die Dämme und Wege zerstört und die Wiesen mit Schutt oder Gestein übergossen. Die Obstbäume sind verwildert; auf den Feldern sind Lärchenwälder gewachsen, die Lärchen aber durch Tannen und Fichten verdrängt worden. Und es sind die finsteren, hundertjährigen Hochwälder entstanden.

Es ist nicht zu bestimmen, ob der Kern der heutigen Waldleute von jenen vor Jahrhunderten abstammt. Ich glaube vielmehr, so wie die alten Bewohner durch eine an die Alpen brandende Welle wilder Zeiten fortgeschwemmt worden sind, so sind nach vielen Jahren in den Stürmen der Zeit Splitter anderer Stämme in diese Wälder verschlagen worden. Man sieht es den Leuten ja an, daß sie nicht auf sicherem Boden der Heimat fußen, daß sie aber gleichwohl den Drang haben, sich in den Waldboden einzuwurzeln und den Nachkommen ein gesichertes und geregeltes Heim zu bereiten.

Dennoch aber dämmert auch in diesen Menschen die Waldesgöttermär der alten Deutschen fort. Sie lassen im Herbste die letzten wilden Früchte auf den Bäumen, oder behängen mit denselben ihre Kreuze und Hausaltäre, um für ein nächstes Jahr Fruchtbarkeit zu erlangen. Sie werfen Brot in das Wasser, wenn eine Überschwemmung droht; sie streuen Mehl in den Wind, um dräuende Stürme zu sättigen – so wie die Alten den Göttern haben geopfert. Sie hören zur heiligen Zeit der Zwölfen die wilde Jagd, so wie die Alten schaudernd Vater Wuotans Tosen haben vernommen. Sie erinnern sich an Hochzeitsfesten der schönen Frau mit den zwei Katzen, so wie die Alten die Freya haben gesehen. Und wenn die Winkelwäldler draußen in Holdenschlag einen begraben, so leeren sie den Becher Metes auf sein Andenken. Überall klingt und schimmert sie durch, die alte germanische Sage und Sitte. Im Vordergrund aber tönt und webt als Herrschendes das Hohelied vom Kreuze.

Wohl die meisten der Winkelwäldler müssen es empfinden, was hier fehlt; nur die wenigsten wissen es zu nennen. Aber jener Speiker hat es getroffen, als er vor einem Jahre bei der Köhlerhochzeit die Worte gesagt: »Um uns schiert sich kein Pfarrer und kein Herrgott. Dem Elend und dem Teufel sind wir verschrieben. Für uns ist auch ein Hundeleben gut genug; wir sind ja die Winkler!«

Aber der Speiker kann's noch erleben, und mein Trinkspruch wird in Erfüllung gehen. Ich bin seit der Hochzeit wieder um ein Jahr jünger geworden. Die Winkelwäldler werden eine Kirche bekommen.

Will ein Volk aus wilder Ursprünglichkeit sich aufbauen zu einer schönen, ebenmäßigen Höhe, so muß der Gottestempel zu dem Baue das erste sein.

Darum beginne ich in den Winkelwäldern mit der Kirche.

Ich habe drängen und dringen müssen. Der Herr von Schrankenheim hat seinen Palast mitten in der Stadt; da schallt zu jedem Fenster eine andere Kirchenglocke herein, und zwischen den Fenstern auf zierlichen Gestellen prangen hundert Bücher für Herz und Geist. Wer ahnt es da, was in den fernen Wäldern so ein Klang und ein Predigtstuhl bedeutet! Endlich aber hat es der Gutsherr doch eingesehen, und heute sind schon Männer da, um die Baustelle zu prüfen.

Da drüben neben dem Winkelhüterhaus, schnurgerade vom Steg herauf, der über die Winkel führt, ist ein erhöhter Felsgrund, sicher vor Gesenken, Lahnen und Wildwasser. Er liegt zwischen dem Hinter- und Vorderwinkel, und von den Lautergräben, dem Miesenbachtale und dem Karwasserschlag ist völlig die gleiche Weite bis hierher zu dem erhöhten Felsgrund. Das ist der rechte Platz für das Gotteshaus. Ich habe einen Plan eingereicht, wie ich mir denke, daß so ein Waldkirchlein sein soll.

Das Kirchlein sei nicht gar zu klein, damit alle darin Platz haben, die kummervollen und bedürftigen Herzens sind, wie es deren im Waldlande viele gibt und fürder geben wird. Es sei nicht gar zu niedrig, denn der hohe Wald und die Felswände haben den Sinn verwöhnt und geweitet; und ist es auch, daß die Menschenwohnungen hier sehr gedrückt sind, so wird es dem Blicke doppelt wohltun, wenn er sich in der Wohnung Gottes erheben kann. In den Kirchen der Städte sollte stets ernste Dämmerung herrschen, damit sie dem licht- und genußvollen Leben der Reichen und Großen einen Gegensatz darbieten; in dem Gotteshause des Waldes aber muß lichte und milde Freundlichkeit lächeln, denn ernst und dämmerig ist der Wald und des Wäldlers Haus und Herz.

So soll die Art der Gottesverehrung das Leben ausgleichen und ergänzen; und was der Werktag und das Haus verweigert, das soll der Sonntag und die Kirche bieten. Der Tempel soll die Schutzstätte in den Stürmen dieser Welt, er soll der Vorhof der Ewigkeit sein.

Der Turm des Waldkirchleins sei schlank und luftig wie ein aufwärts weisender Finger, mahnend, drohend oder verheißend. Drei Glöcklein mögen die Dreizahl in der Einheit Gottes verkünden und das dreitönige Lied singen von Glaube, Hoffnung und Liebe. Einen recht guten Platz möchte ich der Orgel bestimmen, denn der Orgelton muß den Armen im Geiste, so die Predigt nicht verstehen, das Wort Gottes sein.

Vergoldete Bilder und prunkende Zieraten in der Kirche sind verwerflich; die Gottesehre soll nicht liebäugeln mit Schätzen dieser Erde. Mit dem Einfachen und durch das Einheitliche kann man am beredtsten und würdigsten den Gott- und Ewigkeitsgedanken versinnlichen.

Es muß aber noch des weiteren das Zweckmäßige bedacht werden. So habe ich für die Mauern der Trockenheit wegen Backsteine vorgeschlagen. Die Bänke und Stühle müssen zum Ausruhen eingerichtet sein, denn der Sonntag ist ein Ruhetag. Wenn während des Orgelklingens auch einmal einer einnickt, was weiter? Er träumt in den Himmel hinüber. – Für den Fußboden sind die Steinplatten zu feucht und zu kalt, dicke Lärchenbretter sind dazu geeignet. Für das Dach sind des häufigen Hagelschlages wegen weder Ziegel noch größere Bretterlatten anwendbar; dazu sind kleine Lärchenschindeln am besten.

Mein Plan ist angenommen worden.

Es werden bereits Wege ausgeschlagen und Baustoffe herbeigeschleppt. Im lehmigen Binstal wird eine Ziegelei errichtet; an der Breitwand ist ein Steinbruch angelegt worden.

Die Waldleute stehen da und sehen den fremden Arbeitern zu. Sie haben auch ihre Gedanken dabei.

»Eine Kirche wollen sie uns bauen«, sagt einer, »gescheiter, sie täten das Geld den Armen teilen. Der Herrgott soll sich nur selber ein Haus bauen, wenn er nicht unter freiem Himmel bleiben und im Winkelwald wohnen will.«

»Was sie uns nur für einen Kirchenheiligen einlegen werden?«

»Den Huberti, denk' ich.«

»Den Huberti? Je, der ist Weidmann gewesen, der hält's nicht mit uns Arbeitsleuten, der mag nur die Jäger leiden. Ich sag', für uns wären die vierzehn Nothelfer recht.«

»Geh, die täten uns zu viel kosten. Und der große Christof ist auch dabei; für den wäre ja gar keine Kirchtür weit genug.«

»Wer verlorene Sachen finden will: Sankt Antoni tut Wunder viel!« sagt Rüpel, der alte Borstenbart, bei dem sich jedes Wort im Gleichklang zum andern fügt, er mag die Zunge wenden, wie er will. Andere wünschen zum Kirchenheiligen den Florian, der gegen das Feuer ist; aber die am Wasser wohnen, möchten den Sebastian haben.

Ein Weiblein hat gar nicht uneben bemerkt, in den ganzen Winkelwäldern sei kein Mensch, der die Orgel spielen könne, da wisse man doch, daß als Pfarrheilige nur Cäcilia die rechte.

Darauf entgegnet ein alter Hirt: »So eine Red' ist keine Sach'. Die Leut' können sich selbander helfen; aber auf das arme Vieh müßt ihr denken! Der heilige Erhart (das ist ein Viehpatron) geht uns schon herein in das Winkel.«

Danach ein anderer: »Mit dem Vieh halt ich's nicht. Wir brauchen die Kirche für die Leut'. Und weil sich's einer schon was kosten läßt, so muß was Rechtes werden. Ich bin kein Heid', und ich geh' in die Kirche, und ich bin für ein sauberes Weibsbild. Was meint ihr zu der Magdalena?«

»Versteht sich, alter Lotter!« schreit sein Weib, »daß du nur alleweil fürs schlechte Beispiel bist!«

»Hast recht, Alte, für euch muß eine sein, die mit gutem Beispiel vorangeht.«

So rechten sie, halb im Spaß und halb im Ernst. Den ganzen Himmel haben sie durchstöbert, und keinen Heiligen gefunden, der allen recht gewesen wäre.

Und es muß doch eines kommen, das allen recht ist. Ich habe darüber schon meine Gedanken.
 

Die Waldberge lichten sich immer mehr und mehr, wie wenn es Tag würde aus der Dämmerung. Die Höhenschneiden werden schartig, und es dehnt sich der Himmel. Mancher Marder kommt um seinen hohlen Baum, mancher Fuchs um seine Höhle. Unschuldige Vöglein und raubgierige Geier werden heimatlos, da Wipfel um Wipfel hinstürzt auf den feuchten Moosboden, den endlich wieder einmal die Sonne bescheint. Winter und Sommer hindurch sind die Holzschläger tätig gewesen. Draußen im Lande haben Holz und Kohlen in gutem Begehr gestanden.

In diesem Sommer habe ich nicht mehr viele freie Zeit.
 

Draußen ist Krieg, der, Gott weiß es, nicht mehr enden will. Zu Holdenschlag sind schon wieder die Hämmer geschlossen worden, und es kommt kein Kohlenwagen in den Wald. Die Holzarbeit ist eingestellt; die kräftigsten Männer streichen müßig umher. Da drüben in den Lautergräben sollen vor kurz zwei Holzschläger eines Beutels Tabak wegen bös gerungen haben.

Ich habe den Männern den Rat gegeben, zu den Vaterlandsverteidigern zu gehen. Davon wollen sie nichts hören. Sie haben keine Heimat, sie wissen von keinem Vaterlande. Willkommen sind ihnen die Welschen, wenn sie Geld mitbringen und eine bessere Zeit.

Gott gebe die bessere Zeit und halte die Welschen fern!
 

Für mich ist es ein Glück, daß ich kühlen Blutes bin. Das wilde Jahr hat die Sprossen meiner Leidenschaft getötet. Nun darf ich mein ganzes Streben auf das eine Ziel lenken: aus diesen zerstreuten, zerfahrenen Menschen ein Gemeinsames, ein Ganzes zu bilden. Ist dieses gelungen, so haben wir alle einen Halt. – Ich werde ihnen und mir eine Heimat gründen. Vor allem kömmt es darauf an, den Freiherrn zu stimmen, sonach muß auf die Waldleute eingewirkt werden.

Eine übermäßige Kraft scheint mir dazu nicht nötig zu sein, wohl aber ein zähes Bemühen. Diese Menschen sind wie Lehmkugeln; ein Anstoß, und sie rollen eine Weile fort. Weiter kommen sie selbst, nur geleitet müssen sie werden, daß sie einem und demselben Ziele zustreben. Glieder sind genug, aber spröde und unschmiegsam selbander. Wenn nur erst die Kirche fertig ist, daß die Gemeinde ein Herz hat, dann machen wir uns an den Kopf und bauen das Schulhaus.
 

Im Herbste 1816   

In einer der letzten Wochen bin ich mit einem Papierbogen zu allen Hütten des Waldes herumgegangen. Da habe ich die Hausväter nach dem Stande ihrer Wirtschaft, nach der Zahl ihrer Familie, nach den Geburtsjahren und Namen der Leute gefragt. Das Geburtsjahr kann zumeist nur nach Geschehnissen und Zeitumständen angegeben werden. – Der ist geboren im Sommer, in welchem das große Wasser gewesen; die ist zur Welt gekommen in demselbigen Winter, als man Strohbrot hat essen müssen. Solche Ereignisse sind ragende Marksteine.

Das Namensverzeichnis wird nicht gar zu mannigfaltig. Die Bewohner männlicher Art heißen Hannes oder Sepp oder Berthold oder Toni oder Mathes; die Leute weiblicher Gattung sind Kathrein benamset, oder Maria, welcher Name in Mini, Mirzel, Mirl, Mili, Mirz, Marz umgewandelt und ausgesprochen wird. Ähnlich geht es mit anderen Namen; und kommt einer von draußen, so muß er sich eine Umwandlung nach den Zungen der Hiesigen sogleich gefallen lassen. Mich haben sie einige Zeit den Andredl geheißen; aber das ist ihnen ein zu großer Name für einen so kleinen Menschen, und heute bin ich nur mehr der Redl.

Von Geschlechtsnamen wissen schon gar die wenigsten was. Viele mögen den ihren wohl verloren, vergessen, andere einen solchen nie gehabt haben. Die Leute gebrauchen eine eigene Form, ihre Abstammung und Zugehörigkeit zu bestimmen. Beim Hansl-Toni-Sepp! Das ist ein Hausname, und es ist damit angezeigt, daß der Besitzer des Hauses Sepp heißt, dessen Vater aber Toni und dessen Großvater Hansel genannt worden ist. – Die Kathi-Hani-Waba-Mirz-Margaret! Da ist die Kathi die Ururgroßmutter der Margaret. – Der Stamm mag doch schon lange in der Waldeinsamkeit stehen.

Und so wird eine Person oft durch ein halbes Dutzend Namen bezeichnet, und jeder schleppt die rostige Kette seiner Vorfahren hinter sich her. Es ist das einzige Erbe und Denkmal.

Das Wirrsal darf aber nicht so bleiben. Die Namen müssen für das Pfarrbuch vorbereitet werden. Zu den Taufnamen müssen Zunamen erfunden werden. Das wird nicht schwer gehen, wenn man der Sache am Kern bleibt. Man benenne die Leute nach ihren Eigenschaften oder Beschäftigungen oder Stellungen; das läßt sich leicht merken und für die Zukunft beibehalten. Ich nenne den Holzarbeiter Paul, der die Annamirl geheiratet, nicht mehr den Hiesel-Franzel-Paul, sondern kurzweg den Paul Holzer, weil er die Holzstrünke auf den Riesen zu den Kohlstätten befördert und die Leute diese Arbeit »holzen« heißen. Der Schwammschlager Sepp, der seines Vaters Namen vergessen, soll auch nicht mehr anders heißen als der Schwammschlager, und er und seine Nachkommen mögen angeben, was sie wollen, sie bleiben die Schwammschlager. Eine Hütte in den Lautergräben nenne ich die Brunnhütte, weil vor derselben eine große Quelle fließt. Wozu den Besitzer der Hütte Hiesel-Michel-Hiesel-Hannes heißen? Er ist der Brunnhütter, und wenn sein Sohn einmal in die Welt hinausfährt, Soldat wird oder Fuhrmann oder was immer, er bleibt der Brunnhütter allerwegen. So haben wir nun auch einen Sturmhanns; der hat oben auf der stürmischen Wolfsgrubenhöhe sein Haus.

Einen alten, sehr dickhalsigen Zwerg, den Kohlenführer Sepp, heißen sie seit lange schon den Kropfjodel. Da habe ich letztlich das Männlein gefragt, ob es zufrieden sei, wenn ich es unter dem Namen Josef Kropfjodel in meinen Bogen einschreibe. Er ist gerne dazu bereit. Ich habe ihm noch vorgestellt, daß aber auch seine Kinder und Kindeskinder Kropfjodel heißen würden. Da grinst er und gurgelt: »Zehnmal soll er Kropfjodel heißen, mein Bub!« Und ein wenig später setzt der Schelm bei: »Den Namen, gottdank, den hätten wir! – Ei, hätten wir den Buben auch!«

Drüben im Karwasserschlag stehen drei buschige Tannen, die der Holzschläger-Meisterknecht, der Josef-Hansel-Anton, zu Schutz für Mensch und Tier hat stehengelassen.

Zum Lohn heißt der Mann Anton Schirmtanner für ewige Zeiten.

Die neuen Namen finden Gefallen, und jeder, der einen solchen trägt, hebt seinen Kopf höher und ist zuversichtlicher, selbstbewußter, als er sonst gewesen. Nun weiß er, wer er ist. Jetzund kommt es darauf an, dem neuen Namen einen guten Klang zu erwerben und ihm Ehre zu geben.

Schauderlich erschreckt hat mich nur der Almbursche Berthold. »Einen Namen«, ruft er, »für mich? Ich brauch' keinen Namen, ich bin ja niemand. Zu einem Weib hat mich Gott nicht gemacht, und ein Mann sein, das erlaubt der Pfarrer nicht. Die Ehe ist mir verwehrt, weil ich bettelarm bin. Heißet mich den Berthold Elend! Ich brech' die Satzung, und mein Fleisch und Blut verrat ich nicht!«

Nach diesen Worten ist er wie ein Wütender davongeeilt. Der einst so lustige Bursche ist kaum mehr zu erkennen. Ich habe in den Bogen den Namen Berthold geschrieben und ein Kreuz dazu gemacht.

Auch noch ein anderer streicht in den Winkelwäldern herum, von dem ich nicht weiß, ob und welchen Namen er trägt. Wenn doch, so kann's ein böser sein. Der Mann weicht am liebsten den Leuten aus, vergräbt sich oft für lange Zeit, und man weiß nicht, wo, taucht zu seltsamen Stunden wieder auf, und man weiß nicht, warum. Es ist der Einspanig.
 

Im Mai 1817   

In diesem Winter habe ich eine schwere Krankheit zu bestehen gehabt. Die Ursache derselben ist das Unglück des Markus Jäger, den ein Wildschütze angeschossen hat. Der Jäger ist drüben in einer Hütte der Lautergräben gelegen. Ich gehe mehrmals zu ihm hinüber, weil der Brand in die Wunde zu kommen droht, und weil sonst niemand ist, der den Kranken pflegen will und kann. Anstatt daß die Leute hier eine Wunde mit lauem Wasser und gezupften Linnen rein halten täten, kleben sie allerlei Schmieren und Salben hinein. Das muß schon eine kräftige Natur sein, die sich trotz solcher Hemmnisse aufrafft. Ich habe recht zu tun gehabt, daß mir der Jäger nicht unterlegen ist.

Als ich das letztemal bei ihm bin, ist ein stürmischer Märztag. Auf dem Rückwege sind die Pfade schauderhaft verschneit und verweht. Stellenweise ist mir der Schnee bis zur Brust emporgegangen. Viele Stunden habe ich mich so fortgekämpft, aber es bricht die Nacht herein, und ich habe das Winkeltal noch lange nicht erreicht. Eine unsägliche Ermüdung kommt über mich, der ich zwar lange widerstehe, die endlich aber nicht mehr zu überwinden ist. Da habe ich schon gar nichts anders mehr gemeint, als daß ich so mitten im Schnee würde umkommen müssen, und daß sie mich im Frühjahr finden und an der neuen Kirche im Winkel vorüber nach Holdenschlag tragen würden. – Dahier im Waldesfriedhof möcht' ich liegen. Aber noch lieber darauf stehen.

Erst nach Wochen habe ich es erfahren, daß ich nicht erfroren bin, daß mir an demselbigen Abende zwei Holzhauer auf Schneeleitern entgegengekommen sind, mich bewußtlos gefunden und ins Winkelhüterhaus getragen haben. Als ich nachher viele Tage lang in der schweren Krankheit gelegen, sollen sie sogar einmal den Bader von Holdenschlag zu mir gerufen haben. Und der Bote, der den Arzt geholt, hätte, wie er mir seither selbst erzählt, den Auftrag gehabt, gleich auch mit dem Totengräber zu reden. Der Totengräber hätte gesagt: »Wenn mir der Mann nur das nicht antäte, daß er jetzt stürbe; 's ist ja kein Loch zu machen in dieser steinhart gefrorenen Erden!«

Es freut mich recht, daß ich dem guten Mann die Mühe hab' ersparen mögen.

Als die Gefahr der Krankheit vorbei, hat mich erst ein recht hartnäckiges Augenleiden verfolgt, das noch nicht ganz behoben ist. Ich muß noch eine lange Zeit in der Stube verbleiben, wohl so lange, bis draußen das Tauen eingetreten und das Wildwasser vorbei.

Mir ist gar nicht einsam. Ich schnitze in Holz, ich will mir eine Zither zusammenleimen oder so etwas, daß ich mich in der Tonkunst übe, bis in der Kirche die Orgel fertig sein wird.

Es sind oft Leute gekommen, die sich neben mir auf die Bank gesetzt und gefragt haben, ob ich schon recht gesund sei. Die Rußannamirl, die jetzund mit den Ihren in das Holzmeisterhaus der Lautergräben gezogen ist und nach der neuen Ordnung Anna Maria Ruß heißt, hat mir in der vorigen Woche drei große Krapfen herübergeschickt. Dieselben sind von denen, die zur Festfreude gebacken worden, da ein kleinwinziger Ruß angekommen ist. Sie haben den Kleinen mit Krapfen getauft.

Auch die Witwe des schwarzen Mathes ist einmal zu mir gekommen. Sie hat mich in großem Kummer gefragt, was mit ihrem Buben, dem Lazarus, zu machen, der habe die wilde Wut. Die wilde Wut, das sei, wenn einer über den geringsten Anlaß in Zorn ausbreche und alles bedrohe. Der Lazarus sei so; er habe das in noch höherem Grade, als es sein Vater gehabt; Schwester und Mutter seien in Gefahr, wenn der Knabe nur erst kräftiger würde. Ob es gegen ein solches Elend denn gar kein Mittel gäbe. Was kann ich der bedrängten Frau raten? Eine stete, gleichmäßige Beschäftigung und eine liebreiche, aber ernsthafte Behandlung sei dem Knaben angedeihen zu lassen, habe ich vorgeschlagen.

Unter allen Menschen der Winkelwälder dauert mich dieses Weib am meisten. Ihr Mann ist nach einem unglückseligen Leben gewaltsam erschlagen und ehrlos begraben worden. Dem Kinde steht nichts Besseres bevor. Und das Weib, vormaleinst an bessere Tage gewöhnt, ist so weichherzig und milde.

Ehgestern kommt ein Knabe zu mir, der einen Vogelkäfig mit sich schleppt. Der Junge ist so klein, daß er mit seinem Händchen gar die Türklinke nicht erreichen kann und eine Weile zaghaft klöpfelt, bis ich ihm öffne. Er steht noch in der Tür, als er anhebt: »Ich bin der Bub' vom Markus Jäger, und mein Vater schickt mich her – der Vater schickt mich her...«

Der Schlingel hat die Ansprache auswendig gelernt und bleibt stecken und wird rot und will sich wieder von dannen wenden. Ich habe Mühe, bis ich es erfahre, daß sein Vater mir sagen lasse, er sei völlig geheilt und mir wünsche er dasselbe, und er komme demnächst zu mir, um sich zu bedanken, und er schicke zwei übermütige Schopfmeisen, und er möchte mir, da ich, wie er wisse, noch nicht in das Freie gehen könne, das ganze Frühjahr in die Stube senden.

Was fange ich mit den kleinen Tieren an? Sie flattern, wenn man ihnen nahe kommt, wirr im Käfig umher und zerstoßen sich vor Angst die Köpfchen an den Spangen. Ich lasse sie in unseres Herrgotts Vogelkäfig, in den Mai hinausfliegen.

Und als endlich die Zeit erfüllt, da bin ich eines frühen Morgens auch selber hinausgetreten in den freien Mai. – Der Haushahn kräht, der Morgenstern guckt helläugig über den dunkeln Waldberg. Der Morgenstern ist ein guter Geselle; der leuchtet getreulich, solange es noch dunkel ist, und tritt bescheiden in den Hintergrund, sobald die Sonne kommt.

Leise schleiche ich durch das Haustor, daß ich die Leute nicht wecke, die haben sich nicht wochenlang so ausgerastet wie ich; denen liegt noch der gestrige Tag auf den Augenlidern, die der heutige schon wieder wach begehrt.

Im Walde ist bereits das zitternde, rieselnde Erlösen aus tiefer Ruhe. Wie ist eines Genesenen erster Ausgang so eigen! Man meint, der ganze Erdboden schaukelt mit einem – schaukelt sein wiedergeborenes Kind in den Armen. O du heiliger Maimorgen, gebadet in Tau und Wohlduft, durchzittert und durchklungen von ewigen Gottesgedanken! – Wie gedenke ich dein und deines Märchenzaubers, der sich zu dieser Stunde von der Glocke des Himmels und von den Kronen des Waldes niedergesenkt hat in meine Seele!

Und dennoch habe ich zur selbigen Stunde ein seltsam Weh empfunden. – Mir ist die Jugend gegeben, und ich lebe sie nicht. Was ist mein Zweck? Was bedeute ich? – Kurz vor diesen Tagen bin ich seit Ewigkeit her ein Nichts gewesen; kurz nach diesen Tagen werde ich ein Nichts sein in Ewigkeit hin. Was soll ich tun? Warum bin ich an dieser kleinen Stelle und zu dieser kurzen Zeit mir meiner bewußt worden? Warum bin ich erwacht? Was muß ich tun? –

Da habe ich mir's von neuem gelobt, zu arbeiten nach allen meinen Kräften, und auch zu beten, daß mir so schwere, herzverbrennende Gedanken nicht mehr kommen möchten.

Als die Sonne aufgeht, stehe ich noch am Waldessaume. Unten rauscht das Wasser der Winkel, und aus dem Rauchfange des Hauses steigt ein bläulich Schleierband auf, und im Kirchenbaue hämmern die Maurer.

Meine Hauswirtin hat es gleich wahrgenommen, daß ich des Morgens nicht in der Stube, und hat gezetert über meinen Leichtsinn. Und als sie erst gar erfährt, daß ich in der kühlen Frühe auf feuchtem Moosboden geruht, da fragt sie mich ganz ernsthaft, ob es mir denn zu schlecht sei in ihrem Hause, oder ob ich sonst was auf dem Herzen hätte, daß ich mir so ans Leben wolle; ja, und ob ich nicht wisse, daß der, welcher sich so auf den Tauboden des Frühjahrs hinlege, dem Totengräber das Maß gebe! –
 

Sonnenwende 1817   

Das ist ein seltsamer Waldgang gewesen, und ich ahne, er läßt sich nicht verantworten im Himmel und auf Erden. Wo in den schattigen Felsschluchten des Winkelegger Waldes das Wässerlein rieselt, da bleibe ich stehen. – Hier auf diesen Wellen lasse deine Gedanken schaukeln ohne Zweck und Ziel. Du kennst die Mär vom Lethestrom der Griechen. Das ist ein eigen Wasser gewesen, wer davon getrunken, hat der Vergangenheit vergessen; die Wellen des Waldbächleins sind ein noch eigeneres Wasser, wessen Seele auf demselben schaukelt, und trüge er auch den Winter im Haar, der findet wieder die längst vergangene Zeit seiner Kindheit und Jugend. – Sollte nicht der Lethe für mich besser taugen?

Ich gehe tiefer hinein in die Wildnis und ruhe im Moose und lausche der immerdar klingenden Ruhe. Manches erst aufgeblühte Blümlein wiegt nah' an meiner Brust und will leise anklopfen an der Pforte meines Herzens. Und mancher Käfer krabbelt ängstlich heran, er hat im Dickicht der Gräser und der Moose etwan den Weg verloren zu seinem Liebchen. Jetzund hebt er seinen Kopf empor und fragt nach dem rechten Pfad. Weiß ich ihn selber? – Sag' du uns an, wo wird die Sehnsucht gestillt, die mit uns ist auf allen Wegen? – Eine Spinne läßt sich nieder vom Geäste; sie hat sich emporgerungen zur Höhe, und nun sie oben ist, will sie wieder unten sein auf der Erden. Sie spinnt Fäden, ich spinne Gedanken. Wer ist der Weber, der aus losen Gedankenfäden ein schönes Kleid weiß zu weben? –

Wie ich noch so träume, rauscht es im Dickicht. Es ist kein Hirsch, es ist kein Reh; es ist ein Menschenkind, ein junges, glühendes Weib, erregt und angstvoll, wie ein verfolgtes Wild. Es ist Aga, das Almmädchen. Sie eilt auf mich zu, erhascht meine Hände und ruft: »Weil Ihr's nur seid, weil ich Euch nur finde!« Dann schaut sie mich an, und sie vermag den Aufruhr in sich nicht niederzudämpfen. »Es hat einen bösen Schick!« schreit sie wieder, »aber ein ander Mittel weiß ich nimmer. Der bös' Feind stellt mir nach, mir und ihm gleichwohl auch. Wir fürchten die Leut' jetzund, aber Euch bin ich zugelaufen; Ihr seid fromm und hochgelehrt! Ihr helft uns, daß wir nicht versinken allbeid', ich und der Berthold! Wir wollen in Ehren und Sitten leben, gebt uns den Eh'spruch!«

Ich weiß anfangs nicht, was das bedeutet, und als sie es klartut, sage ich: »Habt ihr den treuen Willen, so wird euch der Ehesegen von der Kirche nicht vorenthalten werden.«

»Mein Gott im Himmel!« schreit das Mädchen, »mit der Kirche heben wir nichts mehr an, die versagt uns die Ehe, weil wir nichts haben. Aber wenn der Herrgott bös' auf uns tat' werden, das wäre arg! – Das Gewissen läßt mir keine Ruh', und zu tausendmal bitt' ich Euch, schenket uns den Segen, den jeder Mensch kann schenken. Ihr seid wohl selber noch jung, und habt Ihr ein Lieb, so werdet Ihr's wissen, es gibt kein Lösen und Lassen. Wir leben in der Wildheit zusammen, weil wir uns nicht lassen mögen; wir haben keine Seel', die unser Freund wollt' sein und uns das Glück wollt' wünschen von Herzen. Ein gutes Wort möchten wir hören, und wenn nur einer tat' kommen und sagen: wollet mit Gottes Willen und Segen einander verbleiben bis zum Tod! So ein einzig Wort, und wir wären erlöst von der Sund' und ein Eh'paar vor Gott im Himmel!«

Diese Sehnsucht nach Befreiung von der Sünde, dieses Ringen nach dem Rechten, nach der menschlichen Teilnahme, nach dem Frieden des Herzens – wen hätte das nicht zu rühren vermögen! »Ihr herzgetreuen Leut'!« rufe ich aus, und reck' die Arme: »Der Herrgott mög' mit euch sein, ich wünsch' es euch!«

Da ist schon auch der Bursche neben dem Mädchen gekniet. Und so habe ich mit meinen Worten etwas getan, was von mir gar nicht zu verantworten ist im Himmel und auf Erden. Ich habe eine Trauung vollzogen mitten im grünen Wald.
 

Am Peter- und Paulitag 1817   

Doch seltsam, was in diesem Jungen steckt, in des schwarzen Mathes Sohn. Er hat das Herz seiner Mutter und das Blut seines Vaters. Nein, er hat ein noch größeres Herz als seine Mutter und ein dreimal wilderes Blut als sein Vater. Dieser Knabe wird ein Heiland oder ein Mörder.

Die alte Rußkath siecht seit Monaten. Die Leute sagen, es fehle ihr an gesundem Blut. Das hat auch der kleine Lazarus gehört, und gestern ist er zu mir gekommen mit einem hölzernen Töpfel und dem großen Seitenmesser seines Vaters und hat mich aufgefordert, ich möge aus seiner Hand Blut ablassen und es der Rußkath schicken.

Er glüht im Gesicht, ist aber sonst ruhig. Ich verweise ihm sein Ansinnen. Er schießt davon. Und bald danach hat er im Hofe des Winkelhüterhauses eine Taube erwürgt – aus Zorn, aus Liebe – ich mag es nicht entscheiden.

Ich trete hinaus zu dem toten Tiere. »Lazarus«, sage ich, »jetzt hast du eine Mutter umgebracht. Siehst du die armen, hilflosen Jungen dort? Hörst du, wie sie weinen?«

Bebend steht der Knabe da, blaß wie Stein, und ringt nach Luft und zerbeißt sich die Unterlippe. Ich drehe ihm den eingezogenen Daumen aus und gieße Wasser auf seine Stirn.

Ich führe ihn in seine Hütte zurück. Dort fällt er erschöpft auf das Moos und sinkt in einen tiefen Schlaf. Es muß was geschehen, um das Kind zu retten. Wie, wenn ich es zu mir nähme, sein Vater und sein Bruder wäre, es zähmte und leitete nach meinen Kräften, es unterrichtete und zur Arbeit anhielte und in aller Weise seine Leidenschaft zu töten suchte?

Etwan hat der Knabe doch zuviel Blut... meinen die Leute.
 

Hundstage 1817   

Der Sturmhanns hat ein Hündlein, ein gar possierlich Tier, weiß recht klug dreinzuschauen und freundliche Augen zu machen und anhänglich schweifzuwedeln, daß man meint, man müsse es frei liebhaben wie ein Menschenkind. Und da ich ihm in die Nähe gekommen bin – schwapp! hab' ich eins in den Waden. – Wie dieser Hund, so sind auch die Hundstage. Das ist ein Glitzern und Sonnenleuchten des Morgens und ein Vogelzwitschern, und alle Blumen heben ihre Köpflein zur Höhe und grüßen und lachen dich an. Und die Sonne streichelt dich und küßt dich, und die Sonne umarmt die Welt mit glühender Lieb' – wer wollte da nicht hinausstreichen in den wohligen Schatten der Wälder? Du wandelst frei dahin und schauest zur grünen Erde und denkst: du lieber, du holder Tag! – Da sind auf einmal die finsteren Wolken über dir und der Sturm reißt dir den Hut vom Haupt und der Regen schlägt dir rasend ins Gesicht – birg dich rasch – es kommt auch Eis gesaust.

Die Hundstage. Kann denn auch die Natur untreu sein? Der Mensch ist's, der ihr Böses zeiht, weil sein Denken unvernünftig und seine Weisheit mangelhaft ist. Es gibt nichts Böses und nichts Gutes, außer in dem Herzen des einen Wesens, dem der freie Wille gegeben ist.

Wenn wir uns den freien Willen abstreiten könnten, dann wären wir alles Gewissens los. Im Walde gibt es manchen, dem das recht wäre.
 

Am Jakobitag 1817   

Heute bin ich wieder im Hinterwinkel, im Hause des Mathes gewesen. Das Weib ist trostlos. Seit zwei Tagen ist der Knabe Lazarus verschwunden.

Das Schreckliche ist geschehen. In seinem Jähzorn hat er einen Stein nach der Mutter geschleudert. Als das geschehen, hat er einen grausen Schrei getan und ist davongegangen.

Auf der Grabstätte des Mathes hat man gestern frische Spuren zweier Knie entdeckt.

Wir haben Leute aufgeboten, daß sie den Knaben suchen. In einer der Hütten ist er nicht. Es wird auch an den Abgründen und Bächen nachgespürt.

»Er hat mich nicht treffen wollen!« jammert die Mutter, »und das ist ein kleiner Stein gewesen, aber auf dem Herzen liegt mir ein großer. Einen größeren hätt' er nimmer nach mir schleudern mögen, als daß er davon ist.«
 

Drei Tage später   

Keine Spur von dem Knaben. Wohl eine andere Spur haben die Leute gefunden: große Pfoten mit vier und fünf Zehen. Wölfe und Bären gibt es in der Gegend.

Es geht das Gerücht, drüben in den Lautergräben habe ein Holzhauer gestern die halbe Nacht mit einem Bären gerungen, bis es dem Manne endlich gelungen sei, seinen Arm dem Tiere in den Rachen zu stoßen, daß es daran erstickt. Ich bin heute in den Lautergräben gewesen, dort wissen sie nichts von der Mär.

Dagegen hat mich einer von dort gefragt, ob es wohl wahr, daß im Winkel drüben ganz nahe am Hause ein Rudel Wölfe den Erdmann gefressen hätte.

Das sei nicht wahr, habe ich geantwortet.

Aber der Mann behauptet, er wisse das zwar ganz bestimmt. Die Leute täten es allerwärts erzählen, und hundert Schritte vom Kirchenbaue hintan sehe man das Blut auf dem Sandboden und Fetzen von der Bekleidung.

Ich entgegne, daß ich das Blut auch gesehen habe, daß dasselbe aber von einem Lämmlein herrühre, welches die Winkelhüterin gestern abends eben für den Erdmann ausgeweidet habe; daß den Erdmann also nicht die Wölfe aufgefressen hätten, sondern daß der Erdmann das Lämmlein aufgefressen habe, und daß besagter Erdmann ich selber sei.

Der Mann ist darauf recht verlegen und meint, er habe mich nicht erkannt, sonst hätte er das Gerücht nicht nacherzählt, ich möge ihm nur verzeihen, daß die Sache nicht wahr ist.
 

Am Petri-Kettenfeiertag 1817   

Das ist wie ein knatterndes Lauffeuer durch den Wald gegangen. Im Karwasserschlag wissen sie es, in Miesenbach wissen sie es, in den Lautergräben wissen sie es; und ich im Winkel weiß es, daß es die bereits alle wissen, was doch erst heute morgens geschehen ist.

Das Töchterlein des Mathes besucht zuweilen die Grabesstätte des Vaters und bepflanzt sie mit Hagebuttensträuchern. Heute zur Frühe, wie es wieder hinkommt, leuchtet ihm etwas entgegen. Auf dem Hügel ragt ein Stab und daran flattert ein Papier. Das Mädchen läuft heim zur Mutter, diese läuft zu mir in das Winkelhüterhaus, daß ich kommen und sehen möge, was das sei.

Es ist sehr merkwürdig. Eine Nachricht ist es von dem Knaben. Auf dem Papier stehen in fremden Zügen die Worte;

»Meine Mutter und meine Schwester! Habt keinen Groll und keine Sorge. Ich bin in der Schule des Kreuzes.             Lazarus.«

Die Leute richten ihre Blicke auf mich. Der Knabe kann nicht lesen und nicht schreiben, fast niemand kann es im Walde. Die Leute meinen, ich sei hochgelehrt, ich müsse von allem wissen.

Ich weiß von nichts.
 

Allerseelen 1817   

Das ist ein lautloses Auf- und Niedergehen der Menschen.

Ein Tröpflein sammelt sich am hohen Zweig des Baumes sickert hinaus auf die letzte Nadel, wiegt sich und glitzert und funkelt, oft grau wie Blei, oft rot wie Karfunkel. Kaum noch hat es die Farbenpracht des Waldes und des Himmels in sich gespiegelt so zieht ein Lufthauch und das Tröpflein löst sich von dem wiegenden Tannenzweig und fällt nieder auf den Erdengrund. Und der Erdboden saugt es ein, und keine Spur ist mehr von dem funkelnden Sternchen.

So auch lebt des Waldes Kind und so vergeht es.

Draußen ist es anders. Draußen erstarren die Tropfen in dem frostigen Hauch der Sitte, und die Eiszapfen klingeln aneinander und im Niederfallen klingeln sie und ruhen, eine Weile noch der Welt Herrlichkeit in sich spiegelnd, auf dem Erdboden, bis sie zerfließen und vertauen, wie der Gedanke an einen lieben Toten.

Draußen sind ja die Friedhöfe nicht für die Toten sondern für die Lebendigen. Der Lebende feiert dort das Andenken an seine künftige Friedhofsruhe, Für den Lebenden ist das Rosenbeet und die Inschrift. Der Lebende empfindet in seinem Gemüte die Ruhe, wenn er an den Schläfer denkt, der von Drangsal erlöst ist. Der Lebende fühlt das Hinabsinken des Toten und hofft für jenen die Urständ. – Niemand geht unbelohnt über Friedhofserde; diese Schollen kühlen die Leidenschaften und erwärmen die Herzen, und nicht allein des Todes Frieden steht auf den Blumenhügeln geschrieben, auch des Lebens Wert.

Der Wald legt Ruhe, wohin Ruhe gehört. Dort hat der tote Schläfer kein Nachtlicht, wie der lebendige keines gehabt. »Das ewige Licht leuchte ihnen!« ist das einzige Begehren. Die Spätherbstsonne lächelt matt und verspricht ihren ewigen Glanz, und der nächste Frühling sorgt für Blumen und Kränze.

Nicht der toten Leiber wird im Walde gedacht, sondern ihrer lebenden Seelen. Wehe, wenn diese sündig verstorben im Fegefeuer schmachten!

Als der hungernde Hans seinem hungernden Nachbarn auf der Au das Stück Brot hat gestohlen und darauf war verstorben, da war der Urwald noch nicht gestanden. Der Leib war verwesen, der Hans vergessen, die Seel' ist im Fegfeuer gelegen. Die Au ist zum Walde, der Wald ist zur Wildnis geworden; die Wölfe heulen und kein Mensch ist weit und breit; an den Hängen des Gebirges wogen Sommerlüfte und Winterstürme, und mit jeder Minute ein Körnlein Sand; und mit jedem Jahrhundert eine Bergeswucht rollt in die Tiefe der Schluchten. Und die arme Seele liegt im Feuer. Wieder kommen Menschen in die Einöden und die Hochwälder fallen, und Hütten und Häuser erstehen und eine Gemeinde wird gebildet – die Seele aus alten, längst untergegangenen Sonnen liegt in den Gluten des Fegfeuers und ist verlassen und vergessen.

Aber ein Tag geht auf im Jahre, solch vergessenen Seelen zum Tröste.

Als Christus der Herr am Kreuz ist gestorben und nur noch der letzte Tropfen Blut in seinem Herzen ist gewesen, da hat ihn sein himmlischer Vater gefragt: »Mein lieber Sohn, die Menschheit ist erlöst; wem willst du den letzten Tropfen deines rosenfarbenen Blutes zukommen lassen?« – Da hat Christus der Herr geantwortet: »Meiner lieben Mutter, die am Kreuze steht; auf daß ihre Schmerzen sollen gelindert sein.« – »O nein, mein Kind Jesus«, hat darauf die Mutter Maria geantwortet, »wenn du den bitteren Tod willst leiden für die Menschenseelen, so mag ich die Mutterpein auch nur ertragen, ist sie gleichwohl so groß, daß sie nicht das Meer kann löschen, und wär' die ganze Erden ein Grab, sie nicht kunnt begraben. Ich schenke den letzten Tropfen deines Blutes den vergessenen Seelen im Fegfeur, auf daß sie einen Tag haben im Jahr, an dem sie von dem Feuer befreit sind.«

Und so sei – nach der Sage Deutung – der Allerseelentag entstanden. An diesem Tage sind auch die verlassensten und vergessensten Seelen von ihrer Pein befreit und stehen im Vorhofe des Himmels, bis der letzte Stundenschlag des Tages sie wieder in die Flammen ruft.

Das ist im Walde der Sinn und Gedanke des Festes Allerseelen, und manche gute Tat wird geübt auf die Meinung, den abgeschiedenen Seelen die Feuerspein zu lindern.

Über den einsamen Gräbern aber brauen die Spätherbstnebel, und junger Schnee verbirgt des Hügels letzten Rest, und darauf haben etwa die Klauen eines Hähers ein Kettchen gezogen – als einziges Zeichen des Lebens, das hier oben noch waltet –, des unauflöslichen Bandes Deutung: um Leben und Tod ist eine ewige Kette gewunden.

Heute muß ich oft an den Lucas denken. Ein Brenner, der in den Lautergräben begraben liegt.

Dem Holzmeister Luzer ist in einer Nacht ein Ziegenbock gestohlen worden, unweit von der Lucas-Hütte haben sie hernach vom Tiere Haut und Eingeweide gefunden. Da ist's offenbar: der Lucas ist der Dieb. Und wie im Walde schon überall die Lässigkeit herrscht, so klagen sie den Brenner nicht an, und so kann er sich nicht rechtfertigen. Gleichwohl hat er gemerkt, wie er bei den Leuten im Arg steht. Und einmal hat er ausgerufen: »Hättet ihr mir meine Hände abgehauen, hättet ihr mir das Augenlicht genommen, ich wollte zufrieden sein. Aber ihr habt mir meine Ehre weggenommen – jetzt ist's vorbei.« Die Leute haben gesagt: »Mag er sich winden und wenden, wie er will, den Ziegenbock hat er doch gestohlen.« Ist der Lucas darüber närrisch geworden. »Diebe muß man hängen«, soll er gesagt haben – und hat man ihn nachher an dem Aste einer Föhre gefunden. Von jeher haben sich Selbstmörder ihren Grabplatz selber gewählt; so haben sie den Lucas zwischen den roten Wurzeln der Föhre verscharrt.

Erst vor wenigen Wochen hat es sich ereignet, daß ein arbeitsloser Holzmann auf dem Totenbett das Geständnis abgelegt, er wäre es, der dem Luzer den Bock davongetrieben hatte. – Ich werde heute doch noch zum Grabe des Lucas in den Lautergräben gehen. –

Dann gibt es in den Winkelwäldern noch ein Grab, das die Leute wissen und verachten. Und dennoch ist es an diesem Tage des Gedächtnisses nicht einsam gewesen.

Das Töchterlein des schwarzen Mathes hat am Grabe des Vaters wieder ein Blatt gefunden.

»Mir geht es wohl. Ich denke an meine Mutter, an meine Schwester und an meinen Vater. Lazarus.«

Das ist die Botschaft. Die einzige Botschaft von dem verschwundenen Knaben seit vielen Tagen. Die Schriftzüge sind dieselben wie auf dem ersten Blatte.

Keine Menschenspur geht außer der des Mädchens zum Grabe hin, keine davon. Pfade von Füchsen und Rehen und anderen Tieren ziehen in Zick und Zack durch den winterlichen Wald.
 

Am Katharinentag 1817   

Es ist ein Brief geschrieben worden, daß der Knabe um Gottes und der Mutter willen zurückkehren möge in die Hütte. Der Brief ist gut verwahrt über dem Grabe an dem Kreuzlein befestigt worden. Bis zum heutigen Tage ist er noch dort, niemand hat ihn erbrochen.
 

Weihnacht 1817   

Heute habe ich Heimweh nach den Glockenklängen, nach in Wehmut erlösenden Orgeltönen. Ich sitze in meiner Stube und spiele Krippenlieder auf der Zither. Meine Zither hat nur drei Saiten; eine vollkommenere habe ich mir nicht zu schaffen gewußt.

Die drei Saiten sind mir genug; die eine ist meine Mutter, die andere mein Weib, die dritte mein Kind. Stets in seiner Familie begeht man die Weihnacht.

Nur wenige der Waldleute gehen mit Spanlunten hinaus nach Holdenschlag zur nächtlichen Feier. Es ist auch gar zu weit. Die übrigen bleiben in ihren Hütten; aber schlafen wollen sie doch nicht. Sie sitzen beisammen und erzählen sich Märchen. Sie haben heute einen sonderartigen Drang, aus ihrer Alltäglichkeit herauszutreten und sich eine eigene Welt zu schaffen. Mancher übt alte, heidnische Sitten aus und vermeint durch dieselben einem unsäglichen Gefühle des Herzens zu genügen. Mancher strengt seine Augen an und blickt hin über die nächtigen Wälder und meint, er müsse irgendwo ein helles Lichtlein sehen. Er horcht nach Feierglockenklingen und lieblichen Engelsstimmen. Aber nur die Sterne leuchten über den Waldbergen, heute wie gestern und immer. Ein kalter Lufthauch weht über den Wipfeln; Eisflämmchen flimmern nieder von den Kronen, und zuweilen schüttelt ein Geäste seine Schneelast ab.

Aber anders berührt in dieser Nacht das Flimmern und das Fallen des Schnees, und die Menschengemüter zittern in sehnsuchtsvoller Erwartung des Erlösers.

Ich habe ein einfältig Christbäumlein, wie man sie in nordischen Ländern haben soll, zusammengerichtet und dasselbe der Anna Maria Ruß in die Lautergräben geschickt. Ich denke, die Kerzenflammen müssen freundlich spiegeln in den Äuglein ihres Kleinen. Vielleicht, daß gar ein Funke ins junge Herz hineinzuckt und dort nimmer verlischt.

In der Hütte der Witwe kann kein Christbaum sein. Auf dem Grabe des Mathes liegt sehr viel Schnee; das Briefgehäuse aus Reisig hat eine hohe Haube. Der flehende Brief der Mutter an das Kind muß verderben, ohne erbrochen und gelesen worden zu sein.
 

März 1818   

In einem Winkel der Karwässer drüben hat sich der Berthold eine Klause erworben. Er ist zu den Holzleuten gegangen.

Die Aga hat gestern ein Kindlein geboren. Es ist ein Mädchen. Sie haben es nicht nach Holdenschlag getragen. Ich bin geholt worden, daß ich es taufe. Ich bin kein Priester und darf dem Kirchenkalender keinen Namen stehlen. Waldlilie habe ich das Mädchen geheißen und mit dem Wasser des Waldes habe ich es getauft.
 

Ostern 1818   

Wann wird der Engel kommen, der den Stein hinwegwälzt?

»Jerum, jerum, unser Herrgott ist gestorben! Aber wie ich schon sag', es erfährt ein's halt nichts in dieses Hinterland herein. Schau, schau, ist eh' nimmer jung gewesen, hab' schon mein Lebtag von ihm gehört. Hat halt doch auch einmal fort müssen. Uh, wem bleibt's aus!« – Das hat der alte Schwammelfuchs gesagt, als er erfahren, daß zu Holdenschlag am Karfreitag von der Kanzel verkündet worden, unser Herrgott sei gestorben zu Jerusalem.

In ernster und in höchster Verwunderung meint es der Alte, der doch zu jedem Abendgebete die Worte sagt: »Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuziget gestorben.«

Es ist Zungengebet. Das wahre Gebet betet nur das Herz in seiner Not, in seiner Freude, aber die Leute werden sich desselben nicht bewußt. In Untiefen begraben liegt noch das Ding, das wir wahre Gottesehre oder Frömmigkeit heißen.

Die Leute eilen in der Osternacht oder am Morgen in den freien Wald hinaus, zünden Feuer an, lassen Schießpulver knallen und spähen in der Luft nach dem päpstlichen Segen, der am Ostermorgen von der Zinne der Peterskirche zu Rom ausgestreut werde nach allen vier Winden.

Es ist immer das unbewußte Sehnen und Ringen. Man merkt, es liegt etwas begraben in den Herzen was nicht tot ist. Wann aber wird der Engel kommen, der den Stein hinwegwälzt?
 

Am Sankt-Markustag 1818   

Der Schnee ist geschmolzen. Drüben im Gesenke donnern noch die Lahnen. Vor einem Jahr haben wir einige Obstbäume gepflanzt; diese grünen jetzt ganz frisch, und der Edelkirschbaum treibt fünf schneeweiße Blüten.

Der Kirchenbau hat wieder begonnen. Die Maurer haben sich auch schon an den Pfarrhof gemacht. Der wird ein stattliches Haus nach dem Plane des Waldherrn. Warum muß der Pfarrhof denn größer sein als etwan das Schulhaus? Das Schulhaus soll ja für eine ganze Familie und für eine Schar junger Gäste eingerichtet sein; der Pfarrhof beherbergt nur einen oder ein paar einzelne Menschen, deren Welt sich nicht nach außen breitet, sondern im Innern vertieft.

Aber der Pfarrhof soll das Heim und die Zuflucht sein für alle Rat- und Hilfebedürftigen; eine Freistatt für Verfolgte und Schutzlose – und auch der Mittelpunkt der Gemeinde.

Als Neues in der Jahreszeit kehrt stets das Alte wieder, die Leute leben in ihrer gewohnten Beschäftigung und unbewußten Armut fort.

Ich kann nicht mehr so im Walde herumgehen, um mit den Leuten zu verkehren, von ihnen zu lernen und ihnen dafür anderweitig zu nützen. Ich kann nicht mehr flechten und schnitzen, nicht mehr so in der Schöpfung leben und Baum- und Blumenkunde treiben und das Erdreich ausspähen, was etwan aus demselben für uns zu holen wäre. Ich muß stetig bei dem Baue sein; die Arbeiter und Vorarbeiter gehen auf meinen Rat. Ich muß viel nachdenken und Bücher und fremde Erfahrungen zu Hilfe ziehen, daß wir nicht auf Irrwege geraten.

Mir behagt aber die Sache bei all der Anstrengung, und ich werde jünger und kräftiger.

Gestern ist der Dachstuhl aufgesetzt worden. Viele Menschen sind dabei anwesend gewesen; jeder will zur Kirche sein Schärflein beitragen. Die Witwe des Mathes und ihre Tochter arbeiten auch am Bau. Sie sprechen kein Wort mehr von dem Knaben. Aber letzthin hat das Weib ein Steinchen mit aus ihrer Hütte gebracht und die Worte gesagt: »Ich möchte gern, daß dieses Sandkorn unter dem Altar liege.«

Es ist der Stein, den der Knabe nach der Mutter geworfen.
 

Pfingsten 1818   

Das erste Fest der neuen Kirche. Aber nicht in derselben, sondern vor derselben. Gestern ist das Turmkreuz aufgerichtet worden. Es ist von Stahl und vergoldet – ein Geschenk des Freiherrn.

Eine große Menge Leute hat sich versammelt; es gibt doch viele Bewohner in den Wäldern.

Von Holdenschlag aber soll kein Mensch dagewesen sein, nicht einmal der Pfarrer. Letzthin gönnen sie uns etwan gar die neue Kirche nicht? – Wohl aber ist jenseits des Winkelbaches der Einspanig gesehen worden. Er schleicht und lauert, zerrt sein aschenfarbig Lodentuch über das bewüstete Haupt; hastet am Bache hin und wider und endlich hinein in das Dickicht. – Das ist ein seltsamer Mensch; mehr und mehr zieht er sich zurück von den Leuten und nur an bedeutsamen Tagen wird er gesehen. Niemand weiß, wer er ist, von wannen er kommt, und was er webt, das weiß kein Weber.

Auch der Holzmeister nimmt an dem Feste teil, ist ganz außerordentlich aufgeziert und hat gar seinen roten Vollbart gekämmt. In der Hand hat er einen beknopften Stock getragen, da merke ich gleich, es geht nicht gewöhnlich. Und richtig, er hält eine Rede, in welcher er sagt, daß er heute im Namen des Waldherrn der neuen Gemeinde die neue Kirche übergebe.

Das Kreuz trägt ein kräftiger Mann an den Arm gebunden hinauf. Es ist Paul, der junge Meisterknecht aus den Lautergräben. Von dem Turmfenster, durch das er heraussteigt, ist ein sehr einfaches Gerüste an dem beinahe senkrechten Schindeldach empor bis zur Spitze. Gelassen klettert der Träger an den Balken hinan. Zur Spitze angekommen, steht er frei aufrecht und löst sich das Kreuz vom linken Arm. – In der Menschenmasse ist es still, und ringsum kein Laut, als ob noch die Urwildnis wäre an den Ufern der Winkel. Jeder hält den Atem an, als wäre ein unbewachter Hauch imstande, dem Manne auf schwindelnder Höhe das Gleichgewicht zu stören.

Der Paul hütet seinen Blick, und seine Bewegungen sind langsam und regelmäßig. Ich vermeine schon ein Zucken und Wenden zu bemerken, das nicht zur Sache gehört, schon faßt mich der Schreck – da senkt sich das Kreuz in seinen Grund und steht fest. In demselben Augenblick strauchelt der Mann – da schallt herunten in meiner Nähe ein Schrei. Aber Paul steht.

Der Schrei ist aus dem Munde der Anna Maria gekommen. Sie ist blaß, und ohne noch einen Laut zu tun, setzt sie sich auf einen Stein.

Und jetztund wird's erst lustig. Der Paul zieht ein Glas hervor, hebt es, leert es und schleudert es nieder auf den Boden. Es zerspringt in tausend Scherben, und die Leute ringen untereinander um diese Scherben, um solche für ihre Enkel zu erhaschen und dereinst sagen zu können: sehet, das ist ein Teil des Glases, aus dem bei der Aufrichtung unseres Kirchturmkreuzes getrunken worden.

Noch steht der Paul auf hoher Spitze, Arm in Arm mit dem Kreuze; da kommt im Turmfenster der graubärtige Kopf unseres Fabelhans-Rüpel zum Vorscheine. Der zwinkert so gewaltig mit den weißen Augenbüschen, daß man es gar herunten bemerken kann, und hebt so an zu reden:

»Weil ich mich nicht auf die Spitz' getrau, so ich zu diesem Fenster herausschau. Auf der Spitz' steht ein junger Mann, dem steht das Trinken an; das Reden aber mir Altem. Will euch doch keine Predigt halten; dafür wird unten die Kanzel gebaut und dieselb' einem rechtschaffenen Pfarrer vertraut. Neben der Kanzel werdet ihr einen Taufstein erblicken, dem hab' ich nichts mehr zu schicken; aber es gibt Leut' in der Pfarr', die brauchen so ein' Waschtrog alle Jahr'; der Taufbrunn' darf nicht zu klein, im Holzhauerland muß das ein starker Brunnen sein. Aber gleich daneben tut der Beichtstuhl stehn, da tragen sie alle Sünden hinein, sind sie groß oder klein. Gott wird sie verzeih'n; der Beichtvater aber soll die Ohren verschließen, der kann die Sünden von sich selber wissen. Dann ist der Hochaltar, da schüttet man seinen Kummer aus und geht wieder frisch und jung nach Haus. Und der liebe Gott wird zwölf Engel senden, die werden die Gemeinde bewachen an allen Enden. Da hör' ich, was auf dem Turm das Glöcklein spricht, und seh' leuchten das heilige Kreuz im Sonnenlicht, wie ein Wegweiser, ein göttliches Zeichen, daß wir allzusamm' mit Gottes Gnad' den Himmel erreichen. – Und weil ich heut' auf diesem Turm schon die Glocken muß sein, so ruf ich es weit ins Land hinein, daß es hallt und schallt über Berg und Wald, bis in die schöne Stadt, wo unser braver Herr seinen Wohnsitz hat. Ich und wir all' und die ganze Gemein' bedanken uns wohl von Herzen fein fürs Gotteshaus zur schönen Zier! Und der Engel soll uns leiten all' zur himmlischen Tür. – Das ist mein armer Gruß; und noch tat' ich meinen zum Schluß: eh'vor wir selbander im Himmel uns freun, wollen wir auf Erden noch lustig sein!«

In den Herzen haben die Worte gezündet, und ich hätte gleich meinen eigenen Schutzengel mögen schicken, daß er dem Herrn in der Stadt den lieblichen Dankesgruß gebracht.

Als hierauf der Paul glücklich vom Turme zurückkommt auf den festen Erdengrund, hat ihn sein Weib mit beiden Armen empfangen. »Gott gibt dich mir mit eigenen Händen zurück!« sagt sie.

Darauf gehen sie dem Hause zu, das heute eine laute Schenke geworden ist. Und siehe die Fügung, da ist der Paul nach wenigen Stunden auf dem breiten, ebenen und grundfesten Boden des Wirtshauses nicht mehr so sicher gestanden wie oben auf der Spitze.
 

Einige Tage später   

Es wird aber nicht wahr sein, was man über den Sohn unseres Waldherrn redet. Der junge Herr soll es toll treiben. Es haben auch der Reichtümer allzuviel auf ihn gewartet, als er in dieser Welt ist angekommen. Ei freilich läßt sich mit klingendem Namen und klingender Münze im Leben etwas machen!

Aber ich habe dem guten Hermann ja gesagt, woher das Brot kommt und was Arbeit heißt. Freilich das eine hat mir nicht gefallen wollen, daß er niemals auf die Arbeiter des Feldes und auch niemals auf die Blumen des Frühlings und auf die Blätter des Herbstes hat geachtet.

Doch nein, Hermann, du kannst so sehr nicht irren An deiner Seite steht ja der heiligste, treueste Schutzgeist, den die Erde und der Himmel geboren haben –

Komme doch einmal herein in unseren schönen, stillen Wald!


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