Peter Rosegger
Die Schriften des Waldschulmeisters
Peter Rosegger

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Dritter Teil

Im Jahre 1830. Zur Winterszeit

Die sechzehn Jahre her, seit ich in den Winkelwäldern bin, weiß ich keinen solchen Schnee als in diesem Jahre. Schon seit Tagen kommt mir kein Einziges mehr in die Schule. Die Fenster meiner Stube sehen aus wie Schießscharten. Wenn es noch ein wenig so fortgeht, so sind wir allmiteinander verschneit. Zweimal des Tages wird von mir bis zum Pfarrhofe ein Pfad ausgeschaufelt, der an der Tür des Grassteigerhauses vorübergeht.

In dem Grassteigerhause haben wir, der Pfarrer und ich, unser gemeinschaftliches Mittagsmahl. Das Frühstück bereitet sich jeder in seiner Wohnung. Am Abende kommen wir stets zusammen, entweder im Pfarrhofe oder bei mir im Schulhause.

Wie es nur denen in den Gräben und Karwässern gehen wird! Da drüben ist ein Schneegestöber noch viel wüster als im Winkel. Es liegen um diese Zeit in den Häusern viele kranke Leute, und es werden sich keine Wege machen und erhalten lassen, daß sie einander beispringen könnten. Und über die Lauterhöhe zu kommen, ist schon gar eine Unmöglichkeit. Die Markstangen, die an den Steigen stecken, sehen kaum mehr aus dem Schnee hervor, die Lasten auf den Bäumen reißen die Äste ab und brechen die Stämme. Des Schneiens ist kein Ende. Keine Flocken fallen mehr, es ist ein schweres, undurchsichtiges Staubwirbeln. Und die Hauben der Geäste und Pfähle und die Dachgiebel bauen sich höher von Minute zu Minute.

Wenn ein Wind kommt, so rettet das vielleicht den Wald, kann aber zu unserem Verderben sein. Eine Stunde Sturm über die lockeren Schneelehnen her, und wir sind eingedeckt.

Der Pfarrer hat alle Waldarbeiter, denen nur beizukommen ist, gedungen, daß sie Pfade herstellen in die Lautergräben, Karwässer und daselbst von einer Hütte zur anderen. Einmal sind sie richtig hinübergekommen, aber die Rückkehr ist doch wieder die neue Mühe. Die verschneiten Leute drüben werden doch vorgesorgt sein; sie haben ihre Welt ja in ihren Hütten.

In einer Klause des Karwasserschlages soll wohl schon seit fünf Tagen die Leiche eines alten Mannes liegen.

Der Pfarrer hat sich heute Schneeleitern an die Füße gebunden, um bei den Kranken Besuche zu machen. Aber der Schnee ist zu locker, der Mann hat wieder umkehren müssen. Nun macht er Pakete zusammen, sie sind aus der Speisekammer unseres Wirtes und sollen durch kräftige Holzhauer in die Lautergräben zu den Kranken getragen werden.

Das sind kurze Tage und doch so lang. Ich habe meine Zither, habe die neue Geige, die mir der Pfarrer zu meinem jüngstvergangenen Namenstage hat bringen lassen, ich habe andere Dinge, die mir sonsten Zerstreuung geboten haben. Aber jetzt mutet mich nichts an. Stundenlang gehe ich in der Stube auf und ab und denke nach, was dieser Winter noch für Folgen haben kann. Es gibt Hütten genug in den Gräben, wo die Leute mit ihren Schaufeln nicht gewesen sind. Wir wissen nicht, wie es in denselben aussieht.

Auf daß ich mich von der drückenden Tatlosigkeit erlöse, habe ich heute die Lade unter der Ofenbank aufgemacht und meine alten Tagebuchblätter herausgenommen, um nachzuschlagen, was die Gemeinde seit ihrem Bestehen für Schicksale gehabt.

Da sehe ich, es ist seit zehn Jahren nicht mehr geschrieben worden. – Zwei Dinge mögen die Ursache gewesen sein, daß ich die Aufzeichnungen unterbrochen habe. Erstens ist das Bedürfnis nicht mehr in mir gewesen, meine Gedanken und meine Empfindungen aufzuschreiben, da ich an unserem Pfarrer einen Freund gefunden habe, dem ich mich unverhohlen mitteilen kann, wie er sich mir mitteilt und mir seine seltsame Lebensgeschichte dargelegt hat, ehe er mich noch gekannt hat. Das ist einer der wenigen, die, durch Drangsale geläutert, edel und rein aus den Wirren und Irren der Welt hervorgehen. Die Wäldler lieben ihn von Herzen; er leitet sie nicht durch Worte bloß, sondern mehr durch seine Taten. Seine Sonntagspredigten erhärtet er an den Wochentagen durch Beispiele. Er opfert sich auf, er ist den Leuten alles. Seine Haare sind nicht mehr schwarz wie vormaleinst im Felsentale, sein Gesicht ist ernst und immer gütig. Die Betrübten blicken ihm in die Augen und empfinden Trost.

Gerne erzählt er, wenn wir auf der Bank oder um den Tisch beisammensitzen, von der weiten, schönen Welt, von fremden, merkwürdigen Ländern, von den Wundern der Natur. Pfeifenfeuer gehen dabei aus, denn alles hört ihm zu mit Ohren und Mund. Nur die alte Frau aus dem Winkelhüterhause erklärt des Pfarrers Erzählungen für vorwitzige Fabeleien; ein ordentlicher Priester, meint sie, müsse hübsch vom Himmel und Fegefeuer reden und nicht allweg von der Erden. Sie horcht aber zu, und es gefällt ihr doch.

Vor mehreren Jahren hat die kirchliche Behörde unsere Pfarrerfrage einmal aufgetischt, hat unsern Vater Paul nicht anerkennen wollen, sondern einen neuen hereinzustellen Miene gemacht. Hei! da haben die Winkelsteger zu toben angefangen, und die Sache ist beim alten belassen worden. Dagegen aber wird Winkelsteg draußen nicht als Gemeinde und Seelsorge anerkannt, sondern als eine Niederlassung von Halbwilden und verkommenen Menschen, wie sie das früher gewesen.

Mir hat das anfangs sehr wehe getan, wir hätten uns so gerne der Allgemeinsame angeschlossen, aber da sie uns zurückdrängen, so sage ich schier am liebsten: um so besser, so lassen sie uns fürder in Ruh, und wir können ungefährdet und unbeschränkt – wie sie es draußen nicht können, noch wollen – dem Ziele einer Mustergemeinde zustreben.

Die zweite Ursache der Vernachlässigung meines Tagebuches ist die viele und mannigfache Arbeit, die mein Beruf mir auferlegt.

Anfangs ist es der Bau des Schulhauses gewesen der mir keine Ruhe gelassen. Es ist denn alles hergestellt worden, wie ich es für die wichtige Sache am zweckmäßigsten halte.

Das Haus ist von Meister Ehrenwald aus Holz aufgeführt. Das Holz regelt den Wärmezustand besser als der Stein, auch zerstreut es mehr Dünste und gibt frische Luft. Dann ist mir darum zu tun gewesen, den Leuten einen zweckmäßigen und geschmackvollen Holzbau als Muster aufzustellen. Es ist zu meiner Freude die leichte, zierliche und doch haltfeste Art meines Schulhauses und seine bequeme Einteilung und Einrichtung schon vielfach nachgeahmt worden. Meine Fenster, Türen, Maurer- und Schlosserarbeiten werden bereits von der ganzen Umgebung als mustergültig betrachtet.

Um das Haus ist ein Garten und ein geräumiger Spielplatz mit Werkzeugen für körperliche Übungen angelegt. Das Haus ist zum Schutze gegen die Unbill der Witterung ringsum mit einem breiten Vordache versehen, aber so, daß es dem Lichte des Innern nicht Eintrag tut. In der Schulstube ist vor allem auf die Gesundheit der Kinder Rücksicht genommen worden. Die Bänke stehen nicht zu dicht aneinander, und die Tischläden sind hoch, damit sich die Schüler das gebückte Sitzen nicht angewöhnen. Bei dem Lesen lasse ich den Schüler aufstehen, damit er das Buch von den Augen in entsprechender Entfernung halten kann. Die Fenster sind so verteilt, daß das Licht den Lernenden von der linken Seite oder von hinten kommt. Zum Ablegen der Überkleider ist ein Vorkämmerchen eingerichtet, auf daß bei schlechtem Wetter uns die Ausdünstung nicht schädlich werde. Den Wärmegrad der Stube suche ich immer mit jenem von draußen in einem gewissen Verhältnisse zu halten, damit die Ein- und Austretenden nicht ein zu jäher Wechsel treffe.

Was meine Wohnung im Schulhause anbelangt, so ist sie nicht groß, aber sehr traulich. Und tausendmal traulicher noch macht sie mir jene Winterfahrt durch Rußland, der ich zuweilen wie eines wilden Traumes gedenke. – Wohl, ich bin seit jenem Traume um viele Jahre jünger geworden; wie mich die Stürme der Welt zu Boden geschlagen, so habe ich mich aufgerichtet an der Ursprünglichkeit des Waldes.

Ein weit schwereres Amt als die Schulangelegenheiten und eine weit größere Pflicht ist mir die Überwachung der geistigen Gesundheit der mir Anvertrauten. Klugheit und für ihren eigenen Vorteil zu denken und zu handeln, lernen sie leicht; aber sich dem Ganzen anzupassen, daß ihr Dasein mit jenem der Mitmenschen und jenem der Außenwelt im allgemeinen stimme, das findet sich viel schwerer. Es ist einmal so. Das erste und allererste Lebenszeichen, welches in dem jungen Menschenkinde die aufkeimende Seele von sich gibt, ist die Offenbarung der Selbstliebe. Ob Menschenliebe daraus wird oder Selbstsucht, das entscheidet die Anlage und die Erziehung. Wer Kinder zu starken und rechten Menschen machen will, der pflege in ihnen die harmlosen Freuden, den Mut, das Gerechtigkeitsgefühl und die Wahrheitsliebe. – Mehr braucht es nicht, möchte ich fast sagen.


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