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Am Morgen
Im Tannenwalde herrscht tiefe Trauer; wie Totenklage, wie Grabesschauer, so weht's durch der Wildnis umnachtete Mauer. Dahingestreckt am Waldessaum ins Leichenbett aus moosigem Flaum, gemordet liegt der urälteste Baum. – O sehet den Mörder über die Steppe fahren, er rast in Verzweiflung mit fliegenden Haaren, verfolgt und gegeißelt von rächenden Scharen. – Den armen Mörder, o laßt ihn ziehen, ihm ist's gegeben, Unheil zu sprühen. Und neu aus dem Tode wird Leben blühen.
Nicht der alte Rüpel ist es, der mich ansteckt, daß ich schon am frühen Morgen solche Zeilen schreibe, sondern eine innere Bewegung, die mich bei der Kunde von dem Sturm erfaßt, hat sich in Worten Luft gemacht.
In dieser Nacht hat ein Sturm gehaust. In Winkelsteg haben wir nichts verspürt; nur ein schweres Getose ist gehört worden von Mitternacht her. Im Schachen des Gottesackers ist kein Wipfelchen geknickt.
Am Abend
Wie ich aber nun, da ich in den neuen Geschlägen drüben Geschäfte habe, über die Lauterhöhe geh', ist mir der Weg zehnfach verlegt durch wild zerzauste, zersplitterte, kreuz und krumm gefallene Bäume. Ein starker Harzduft weht in den Gräben; zahllose Waldvögel flattern heimatlos umher, denn ihre Nester sind zerrissen. Hier und da machen sich schon Holzhauer an das Gefälle, daß sie die Stämme glätten und schälen. In den Holzhauerhütten soll das eine fürchterliche Nacht gewesen sein. Einigen hat es den Dachstuhl zerrissen, daß am Morgen die treibenden Wolken des Himmels hineingeschaut auf den Feuerherd und die wirren Strohstätten. Bei den Köhlern im Karwasser ist ein abgerissener Fichtenstamm auf einen Meiler gefallen, so daß das Feuer herausgebrochen ist und die hingepeitschten Flammen schier einen Waldbrand erzeugt hätten. Der Berthold soll wie wütend mit dem Dämpfen des Feuers gearbeitet haben und dabei mit seinem linken Fuß zu Schaden gekommen sein.
Manch wüste Scharte ist den Wäldern geschlagen, und als ich am Nachmittage zu den Schirmtannen in der Wolfsgrube komme, sehe ich, daß die mittlere geknickt ist. Sie ist von den dreien die größte und wohl die älteste gewesen.
Auf dem hingestreckten Stamm, der sein Geäste tief in den Erdboden gebohrt hat, sitzt der Einspanig. Er hat sich ein Wollentuch um die Schultern gelegt, und über das Tuch wallen die Strähne des schwarzen Haares mit seinen vielen grauen Fäden. Die Beine hält der Mann übereinander geschlagen, darauf stützt er seinen Ellbogen, und auf diesen das gesenkte Haupt mit dem blassen Antlitz.
Da ich nahe, erhebt er sich.
»Ihr kommt doch«, sagt er, »und ich hätte beinahe nicht kommen können. Die Sturmnacht hat meine Behausung gesperrt; sie hat einen Felsklotz vor den Ausgang gewälzt.«
Und nach einem schweren Atemzug sagt er das trübselige Wort: »Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Nacht hätte mich in der Felsenhöhle begraben für alle Zeit, als daß ich Euch heute die Antwort gebe. Da ich sie aber gebe, so gebe ich sie Euch am liebsten. Ich habe Rechtschaffenes von Euch gehört und freue mich der Gelegenheit, Euch näherzukommen. Meine Antwort, junger Mann, ist eine schwere Last; helfet sie mir tragen, wie Ihr Ja auch die Mühsal der anderen Waldbewohner auf Euch geladen habt. Ich weiß wohl, Ihr versteht Priesteramt zu vertreten; so seid mein Beichtvater und erlöset mich von einem Geheimnis von dem ich nicht weiß, ist es eine schwarze Taube oder ein weißer Rabe. – Wenn es aber wäre, daß Ihr mich nicht solltet begreifen können ...«
Er hat eingehalten; in seinem Blick ist etwas wie Mißtrauen gelegen.
Ich versetze hierauf, daß ich ihn nach nichts fragen wolle, als nach der Ursache seines Gebarens am Altare unserer Kirche.
»Da fragt Ihr mich ja nach allem!« ruft er mühsam achend aus; »da fragt Ihr mich nach meinem Lebenslauf, nach meinem Seelenweh, nach meinem Teufel und nach meinem Gott. – Gut, gut, kommt nur her und setzet Euch zu mir auf diesen Stamm. Besser schickt sich keine Stätte für meine Antwort als eine aus Vernichtung gebaute. So setzet Euch!«
Mir wird schier unheimlich. Im Tann ist es still, daß man das träge Ächzen des Geästes vernehmen kann, oben aber fliegt das Gewölke dahin von einem Gewände zum ändern.
Ich setze mich neben den Mann, in dessen Augen und Worten aber viel mehr Kraft liegt, als man in dem gebückten, sich schwer schleppenden Einspanig hatte vermuten können.
Ja, der Einspanig geheißen, weil er nie in Gesellschaft eines zweiten gesehen worden. Jetzund sitzt das Zweispan auf dem Stamme, die Frage und die Antwort.
»Wisset, was das ist, ein Herrenkind?« fragt der Mann jäh und starrt mir ins Gesicht. – »In einem Palast geboren, in einer goldenen Wiege gewiegt werden. Der rauhe Erdboden ist verdeckt mit weichen Geweben; die brennenden Sonnenstrahlen und Wetterwolken des Himmels sind verhüllt mit schweren Seidenvorhängen; für jeden leisen Wunsch eine Dienerschar; – eine Gegenwart voll Ebenmaß und hundertfach gehüteten Behagens; eine Zukunft voll Genuß und hoher Würden: das heißt Herrenkindschaft. Auch ich bin ein Herrenkind gewesen, und als solches ärmer wie ein Bettelknab'. Ich habe es aber zur Zeit nicht gewußt, und erst als ich der Jahre zwölf oder vierzehn gezählt, ist mir die schreckliche Frage erwacht: Mensch, wo hast du deine Mutter? – Meine Mutter hat mir das Leben gegeben und das Sonnenlicht; – ihr eigenes war's gewesen – bei meiner Geburt ist sie gestorben.
Meinen Vater habe ich selten gesehen; er ist auf Jagden oder auf Reisen oder in der großen Stadt Paris oder in Bädern. Meine Liebe, für Vater und Mutter mir ins Herz gegeben, verschwende ich an meinen Hofmeister, der stets um mich ist als Lehrer und Gesellschafter und der mich sehr lieb hat. Er ist Priester und gehört dem Orden der Gesellschaft Jesu an. Er ist ein mildfreundlicher, heiterer Mann und sehr fromm und gut. Oft, wenn er in unserer Hauskirche die Messe gelesen, hat er ein verklärtes Antlitz gehabt wie der heilige Franz Xaver auf dem Altar. Und hat gesagt, daß er eine Eingebung hätte: ich sei zu großen Dingen erkoren. Daraus habe ich seine außerordentliche Liebe zu mir wahrgenommen.
Und nun soll ich eines Tages diesen Freund verlieren. Da ist zur selben Zeit nämlich ein Gesetz herausgekommen, und in den Ländern regt sich die Verfolgung gegen den Orden, dem jener Mann gehört. Mein Hofmeister muß fort, spricht aber die Zuversicht aus, daß wir nach überstandener Trübsal uns wiedersehen würden.
Und siehe, das Wort ist über alles Erwarten schnell in Erfüllung gegangen. Nach wenigen Monaten schon ist mein Erzieher wieder im Hause. Er ist, wie er sagt, aus dem Jesuitenorden getreten, gehört nun den ›Vätern des Glaubens‹ an; somit hat er wieder Schutz in unserem Lande.
Ich bin zum Jünglinge herangewachsen. Meinen Hofmeister liebe ich wie einen älteren Bruder. Oft habe ich ihn insgeheim um seine Ruhe beneidet. In mir hat sich zur selbigen Zeit ein Unstetes zu regen begonnen. Im Hause ist es mir zu eng, im Freien nicht weit genug; ist es still, so verlangt mir nach Lärm, und habe ich Lärm, so sehne ich mich nach Stille. Mein Drang ist gewesen wie ein blinder, heißhungeriger, pfadloser Mann auf der Heide.
Da sagt mir einmal mein Erzieher: Das, lieber Freund, ist der Fluch der Kinder der Welt. Das ist die rasende Sehnsucht, die trotz aller Güter und Genüsse der Erde keine Sättigung finden kann, außer sie flieht in die Burg, die Christus gegründet hat auf Erden.
– Wenn du zu mir sprichst – entgegnete ich – du weißt doch, daß ich ein Christ bin.
– Das bist du nur in der Gesinnung – sagt er – aber dein Leib ist es, der so wild nach Erfüllung lechzt. Deinen Leib mußt du in die Burg Gottes einführen. Mein lieber Freund, alle Tage bete ich zu Gott, daß er dich so glücklich werden lassen möge, als ich es bin, daß du wie ein Bruder Jesu werdest.
Von diesem Tage an, als mein Hofmeister so gesprochen hat, empfinde ich die Last und das Unstete in mir doppelt schwer; aber als ich mich ernstlich prüfe, sehe ich, daß es mir unmöglich wäre, der Welt zu entsagen.
– Du hast mich nicht verstanden, sagt hierauf mein Erzieher einmal, und es wundert mich, daß du nach den Jahren der Erziehung deinen Freund so mißverstehen kannst. Wer sagt dir, daß du den Freuden der Welt entsagen solltest? Die Freuden der Welt sind ein Geschenk Gottes; aber sie nicht genießen um seiner selbst willen, sondern zu Gottes Ehre, das ist es, was uns wahre Befriedigung gewährt.
So geht mir nun ein neues Leben auf; mein sittliches Gefühl, das mich sonst zurückgehalten, eifert mich jetzt an, daß ich all den verlangenden Sinnen meines Wesens Sättigung verschaffe. In Freude und Genuß Gott dem Herrn dienen – so gibt es keinen Zwiespalt mehr.
Mein Freund lächelt und läßt gewähren. Die Welt ist schön, wenn man jung, und auch gut, wenn man reich ist. Ich lasse sie mir sehr gut sein; ich will ihren Becher leeren, ehe ich am Altare den Kelch trinken soll.
Und nach wenigen Jahren habe ich den Freudenbecher geleert bis zum Bodensatz. Da ekelt mich, da bin ich satt und übersatt. Und die Welt langweilt mich.
Und nun, da ich mittlerweile auch großjährig geworden, hat mein Freund wieder ein Wort gesprochen, und auf seinen Rat habe ich mich entschlossen, dem Dienste Gottes und dem Heile der Menschen zu leben. Ich trete in den Orden der ›Glaubensväter‹ und tue das Gelübde. Mein Vermögen fällt dem Orden zu, und ich leiste das Gelöbnis des unbedingten Gehorsams.
Und nun – – da ist eines Tages ein Mädchen zu mir gekommen, das ich früher oft gesehen. Jetzt darf ich es nicht kennen. Es bittet mich, daß ich es mit dem Kinde nicht verlassen möge; es bittet um Gottes willen. Allein – ich bin bettelarm, darf mich auch für sie an niemand andern wenden, mich bindet der Gehorsam.
Wenige Tage danach ist das Mädchen als Leiche aus einem Teiche gezogen worden. Schmerzerfüllt klage ich an der Brust meines Freundes, dieser schiebt mich sanft von sich und sagt: Gott hat alles wohl gemacht!« –
Nach diesen Worten ist der Mann, den sie den Einspanig nennen, wie erschrocken zusammengefahren. Ein Häher ist über unseren Häuptern dahingeflattert. Hierauf greift der Einspanig rasch nach meiner Hand und ruft:
»Heute noch bin ich vermählt mit ihr. In jeder Nacht steht sie mit dem Kinde vor meinem Lager. Der Orden hat einen schönen Stern, das ist der Marienkult. Mancher Jüngling, der entsagen muß, blickt liebeglühend auf zu der Jungfrau mit dem Jesukinde. Mir aber wird das Bildnis zum Gespenst, ich sehe in demselben das betrogene Mädchen.
Ich bin zum Priester geweiht worden und habe statt meiner weltlichen Titel und Würden nichts als den Namen Paulus erhalten. Ich bin für den Orden vorbereitet worden, viel eher, als ich und mein Vater es geahnt haben.
Ich habe Natur und Vermögen geopfert und meinen eigenen Willen; und nur eines habe ich noch besessen, das Vaterland. Auch daran kommt die Reihe. Es wird unserem Orden vorgeworfen, er sei – möge er sich nennen wie immer – nichts als verkappter Jesuitismus. Und als solcher sei er nach dem bestehenden Gesetze des Bodens im Lande verlustig. Fast war ich zu schwach gewesen, meine Heimat und meinen betagten Vater zu verlassen; allein, da gibt es kein Auflehnen des Herzens. Wir sind Märtyrer zur Ehre Gottes; und so sehr bin ich Schwärmer, daß mir dieser Gedanke Entschlossenheit gibt, mich von allem loszureißen.
Wir sind nach Welschland gezogen. Zu Rom habe ich die Gräber der Apostel und Märtyrer besucht und habe gewähnt, in dem Lande ein still-beschauliches Leben führen zu können. Aber bald werden wir ausgesandt zur Arbeit. Ich weiß kaum mehr, durch welche Vermittlung, aber auf einmal sehe ich mich versetzt in eines der Länder, die gegen Abend liegen, an den Hof des Königs. Vielleicht ist es meine Abkunft, vielleicht die Erziehung, die ich genossen, vielleicht auch meine Gelehrsamkeit oder eine gewisse Klugheit, die ich mir nach und nach angeeignet, oder es kann meine Körpergestalt gewesen sein, die schön genannt war – oder all das zusammen oder noch ein anderes, was mich befördert hat, ich weiß es nicht.
Ich habe nach einiger Zeit ein einflußreiches Amt in der Staatskanzlei erhalten. Und mein Wahlspruch ist gewesen: Sei ein geheimes Rad im großen Werkskasten des Staates und leite das Volk nach den Absichten Gottes.
Geschmeidigkeit, Sanftmut, Heiterkeit und Duldsamkeit sind die Tugenden, deren ich mich zu befleißigen gehabt habe. So bin ich der Freund des Hofes geworden, der gerne gesehene Gesellschafter, der gesuchte Ratgeber; und wenn ich in der Schloßkapelle meine Messe gelesen habe, so sind die hohen Frauen vor dem Altare auf den Knien gelegen. Endlich bin ich Beichtvater des Königs geworden.
Die Welt lächelt, und mir gefällt ihr Lächeln wieder.
Leicht trage ich das Gelübde der Armut, denn ich wohne im Königspalast. Treu bleibe ich dem Gelübde der Entsagung, denn was ich genieße, das genieße ich Gott zuliebe.
Da bricht eine bewegte Zeit an. In der Welt wütet die Empörung; auch in unserem Lande gärt ein Aufruhr. öfter als sonst versammelt der König die Großen des Reiches um sich, und angelegentlicher wird die Beichte, die er an jedem dreißigsten Tag mir ablegt.
Da kommt eines Tages an mich ein Befehl; er ist mit großem Siegel verschlossen. Als ich ihn gelesen, lehnt sich etwas in mir auf. Nein, so kann ich nicht handeln, so mein Amt nicht mißbrauchen.
Zur selben Zeit erhalte ich die Nachricht von dem Tode meines Vaters. Das bringt mich zu mir selbst. Kindesliebe, Schmerz, Sehnsucht, Heimweh, Schuldbewußtsein und Reue graben in meinem Gehirne.
Da kommt plötzlich der Befehl, ich müßte mich einschiffen nach Ostindien!
Das schmettert mich vollends nieder. Anstatt ins Vaterland, soll ich in einen fernen Weltteil reisen, warum? Zu welchen Zwecken? Wer fragt? – Die erste Satzung des Ordens lautet: ›Blinder Gehorsam!‹«
Hier hat der Mann seine Erzählung unterbrochen. Mit den Fingern ist er sich über seine hageren Wangen gefahren bis herab zu den Bartstoppeln des Backens. Sein Auge, in welchem Unruhe und Müdigkeit gelegen, hat sich schwermütig empor zur Höhe gewendet. Da oben haben die finsteren Wolkenlasten nicht mehr hingejagt, sondern angefangen, sich an den Felswänden niederzusenken. Tiefe Stille und Dämmerung ist gelegen über dem Waldkessel der Wolfsgrube.
Und endlich fährt der Einspanig fort: »Vier ewige Sommer habe ich mit einigen Gefährten in dem heißen Indien verlebt. Die Beschwerden sind groß gewesen. Nur in der Erfüllung des Berufes habe ich einigen Trost gefunden. Nicht mehr für besondere Vorteile eines Bundes haben wir gearbeitet, sondern für die gemeinsame Sache der Menschen, die Gesittung. Wir haben den Hindus den Pflug gegeben, auf ihre Berghöhen haben wir das Kreuz gepflanzt. Wir predigen ihnen die Gotteslehre der Selbstaufopferung und Liebe. Anfangs haben sie Mißtrauen und Verfolgung gegen uns, endlich aber öffnen sie ihr Herz. Als Boten des Himmels haben sie uns verehrt.
Bereits haben wir in Dekan eine christliche Gemeinde zustande gebracht, da kommen abendländische Scharen, Engländer und Franken, bekriegen Teile des Landes und unterjochen sie. Da handelt es sich nicht mehr um die christliche Liebe, sondern um Reis und Gewürze. Und vorbei ist es gewesen mit dem Glauben der Hindus an unsere Lehre. Ermorden haben sie uns wollen. Auf ein fränkisches Schiff haben wir uns geflüchtet und sind zurückgekehrt nach Europa.
Nun sehe ich endlich mein Vaterland wieder. Eine andere Zeit ist. Das Volk ist lau und droht mit dem Abfalle. Wir werden planmäßig verteilt in Stadt und Land.
Da ich mich am Königshofe nicht bewährt habe, ich auch auf den Reisen verwildert und aus dem Gleise der gesellschaftlichen Verhältnisse gekommen bin, und da an mir ferner mehr Gewissensskrupel als Klugheit zu merken ist, so trifft mich das Los: ich werde den Volksmissionären zugeteilt. Kaum kann ich meine Geburtsstadt und das Grab meines Vaters besuchen, ehe ich fort muß in das Gebirge. Mit drei Genossen wandere ich von Gegend zu Gegend, um in bestimmten Pfarrkirchen sogenannte Missionen abzuhalten. Bei mächtigen Herren sind wir die Heiteren, Geschmeidigen, Duldsamen gewesen; bei den wilden Völkern die Apostel der Kultur, die strengen und liebevollen Lehrer des Christusglaubens. Hier aber, bei dem verknöcherten, trägen, leichtsinnigen und noch dazu durch neue Grundsätze verdorbenen Landvolke müssen wir erscheinen als Warner, als Richter der Sünde.
Anfangs, da kommen sie mit Übermut und Neugierde zur Kirche herein, um die Wanderprediger zu sehen; aber als sie die dumpfen Worte von der Not der Seelen, von der Gefahr der Welt, von der Sterbestunde und von dem schrecklichen Gericht hören, da heben sie an zu erbleichen. Bald liegen sie zerknirscht vor dem schwarzverhüllten Altare, drängen sich zu unseren Beichtstühlen.
Vor jeder Kirche haben wir ein hohes, kahles Kreuz aufgestellt. Christus ist für euch gekreuzigt worden, jetzt kreuziget euch selbst in Abtötung und Buße.
Ich bin in Eifer geraten, der mich fortgezogen hat in dem, was unseres Amtes gewesen, und der mich fortgerissen hat in eine Schwärmerei, die ich bislang an mir nicht gekannt habe. – Mein beständiger Ruf war: Tuet Buße! –
Wie lebendig und lustig es im Dorfe auch gewesen ist, wo wir eingezogen: es wird bald still in den Gassen und öde auf den Feldern und Wiesen.
Der Roggen verdorrt, unser Weizen reift. – Aber wenn die Stunden der Begeisterung vorüber, so ist ein Dämon in mir, der mich abwenden will von dem heiligen Beruf. Ich habe diesen Dämon für den Teufel gehalten. Es wird aber was anderes gewesen sein. – Nicht wahr, jetzt kommt schon die Nacht?«
Fast verwirrt hat mich der Mann angeblickt, als hätte er von mir die Beantwortung seiner Frage erwartet.
»Die Nacht kann das noch nicht sein«, habe ich entgegnet, »der Nebel legt sich so über den Wald.«
»Ja, ja«, fährt der seltsame Erzähler wie träumend fort, »es kommt die Nacht. Junger Freund, Ihr werdet sehen, es kommt die finstere Nacht.«
Nun ist es eine Weile so still, daß man vermeint, den Nebel spinnen zu hören in dem Geäste der Tannen. Nachher erzählt der Mann weiter:
»In einem großen Dorfe ist es gewesen. Ich sitze noch spätabends im Beichtstuhl. Die Kirche ist endlich leer geworden, und die Ampel des Altars legt ihren Schein schon an die Wände. Ein einziger Mann steht noch neben dem Beichtstuhl und scheint unentschlossen, ob er sich nähern oder auch die Kirche verlassen soll.
Ich winke ihm. Er schrickt zusammen, tritt näher und sinkt auf die Knie vor dem Schuber des Beichtstuhles. Sein Bekreuzen ist ein krampfhaftes Zucken der rechten Hand über das Gesicht. Er sagt nicht das übliche Gebet; in wirren und hastigen Worten teilt er mir sein Bekenntnis mit. Dann faltet er die Hände so fest ineinander, daß sie zittern, und stammelt die Bitte um Lossprechung. – Ich will dem Geängstigten Worte des Trostes sagen. Aber unwirsch stoße ich mein eigen Herz zurück, denn die Satzung verlangt in diesem Falle unerbittliche Strenge.
Und wie er stumm so dakniet, entgegne ich in ruhiger Weise: das Unrecht könne ihm nicht verziehen werden vor Gott, solange es nicht gutgemacht.
– Gutmachen, das kann ich nicht mehr, versetzt er, mein Nachbar ist fortgegangen; ich weiß nicht, wohin. Er ist nicht zu finden.
– So wandert, ihn zu suchen; besser die Füße abgehen bis auf die Knie, als daß die Seele ewig verlorengehe.
– Aber mein Weib, meine Kinder! ruft er.
– Um so mehr Seelen stürzet Ihr mit Euch in das Verderben, wollt das Unrecht Ihr nicht sühnen!
– Ich will fasten, will Almosen geben zehnfach mehr, als was ich betrogen.
– Dem Betrogenen selbst müßt Ihr das unrechte Gut zurückgeben!
Da schreit er fiebernd: Ist der Herr nicht am Kreuz gestorben? Mord und Totschlag werden verziehen, und mir kann meine Verirrung nicht vergeben sein? Der Mann ist nimmer zu finden!
Sein Widerspruch bringt mich in eine Erregung. Strenge den Unbußfertigen! lehrt die Satzung.
– Mäkelt nicht mit dem gerechten Gott! rufe ich. Dreimal höher ist der Himmel, seit er durch das Kreuzopfer ist erkauft worden, und neunmal tiefer die Hölle, seitdem die Menschen drei Nägel geschlagen durch Christi Händ' und Füße.
Über diese meine Worte ist ein Aufstöhnen, dann ein Fluchwort. Ich höre den Schall der Tritte eines Davoneilenden. – Ich bin in der nächtigen Kirche allein.
Ich trete aus dem Beichtstuhl, knie hin vor den hochragenden Altar und bete für den Verstockten. Und wie ich so emporblicke zu dem Bilde der Königin der Beichtiger, da ist es mir, als trete sie plötzlich hervor aus der Nische – sie, mit dem Kinde in blutrotem Schein.
Der Türe eile ich zu. Siehe, da ist der Ausgang verschlossen.
Ich habe die Sperrstunde nicht wahrgenommen. Die Kirche ist entlegen vom Orte; das nächste Haus ist die Totenkammer. Da hört es keiner, wie man auch rufen mag.
Eingeschlossen in den düsteren Raum, in welchem ich von dem leidigen Teufel so oft gesprochen und von der ewigen Höllenpein. – Dort im Gezelt der ewige Gott; jetzo bist du mit ihm allein.
Nein, ich habe es nicht vermocht, hinzublicken auf den Altar; das rote Licht schwebt auf mich zu. Ich verkrieche mich wieder in den Beichtstuhl.
So bin ich dagesessen mit erregten Sinnen. Jetzt und jetzt muß sich der Vorhang bewegen und eine kalte Hand hereinlangen. Aber es bleibt still.
Sonst knien sie da draußen vor dem Schuber, die armen Sünder, und erforschen das Gewissen; und jetzt erforscht es der Beichtiger selbst. Habe zurückgeblickt auf mein Leben. Wie ist es so bewegt, wie bin ich arm und einsam gewesen! Und so hart! – Und in dem Teiche ist ein Herz verloschen. – Das einzige, das mich liebgehabt in der weiten Welt... Was ist gemeint gewesen mit meinen hohlen Taten? – Wenn ich vor Gottes Richterstuhl stehe, wird auch nur eine Seele sein, die sagt: Er hat mich gerettet? –
Und als es in mir so schreit, da ist plötzlich ein Stöhnen vor dem Schuber des Beichtstuhles, als kniete jener Mann noch davor. Ich fahre empor, aber – still ist es, das Mondlicht rinnt durch das Fenster. –
An wem liegt die Schuld, als an mir? – Wie viele Jahre sind mir noch gegeben? O Gott, führe mich weg von deinem Altare, dem ich ein unwürdiger Diener gewesen. Und von den Menschen führe mich weg. Führe mich zu einer einsamen Stätte, wo ich mich selbst erlösen kann!
Diese Sehnsucht hat sich wie Tau gelegt auf mein Gemüt; ruhiger ist es geworden, und meine Augen sind gesunken.
Jetzt aber höre ich plötzlich von außen eine Stimme, die 'Pater Paulus!' ruft. Endlich befreit! denke ich und will mich erheben. In demselben Augenblick höre ich aufschreien: 'Jesus Maria! da ist er, da hängt er am Strick.'
Ich tue einen Schrei, der in dem Kirchenschiffe gellt und von dem ich selbst erschrocken bin. Da ist draußen noch ein Klageruf, und ich höre, wie sich die Leute eilig wieder davonmachen. Der Aufschrei in der Kirche, mein Hilferuf, hat sie verscheucht. Ich bin allein. Erregt, daß mir der Atem stockt. Mitternacht schlägt es. Und wie: Draußen hängt einer am Strick?
Auf mein Angesicht bin ich gefallen: Heiliger Gott, bewahre mich vor Selbstmord!
Aber jetzo steigt plötzlich eine Ahnung in mir auf. Wie, wenn es der Mann ist, dem ich zur späten Abendstunde die Lossprechung verweigert, den ich in die Verzweiflung zurückgestoßen habe? Wenn er hingegangen ist und sich das Leben genommen hat?! – In derselben Stunde habe ich Schreckliches ausgestanden. Der Selbstmörder, wie er mich angrinst mit starrem Auge! – Und aus den Tiefen des Teiches steigt ein Weib empor mit dem Kinde! Und all die unerlösten Seelen kommen, denen ich die Verdammung gepredigt. Und inmitten steht das hohe Kreuz, und eine Stimme höre ich rufen: Du hast den Heiland getötet in den Herzen, du hast ihnen das schwere Kreuz aufgebürdet, das Kreuz ohne Heiland – Gottesmörder!«
Ächzend ist der Mann hingesunken auf das Geäste des Baumes. Kaum habe ich es vermocht, ihn wieder aufzurichten. Nebelfeuchtes Wildfarnkraut reiße ich ab und lege es auf seine heiße Stirne.
»Erzählet ein andermal zu Ende«, sage ich, »und gehen wir heute in unsere Wohnungen, es kommt wahrhaftig schon die Nacht.«
Er hat sich aufgerichtet, ist mit den Zipfeln seines Mantels sich über die Augen gefahren.
»Heute ist der Frieden in mir«, sagt er hierauf ruhig, »aber sooft ich an dieselbe Stunde denke, stockt mein Blut. Nun, jetzo wird es schon besser. – Wie ich meine Augen wieder auftue, da schaut das Morgenrot zu den Fenstern herein. Wie ein gütiges Lächeln liegt es auf dem Altare und auf dem Bilde der Mutter Maria. – Ich habe ein Gelöbnis getan, und da ist mir gewesen, als müsse alles anders werden.
Bald danach haben die Schlüssel der Kirchentüre gerasselt; Leute kommen. Sie brechen in ein Frohlocken aus, als sie mich sehen, und führen mich an der Hand ins das Freie. Sie erzählen, wie sie mich gesucht, wie sie wohl einen Schrei gehört in der Kirche, wie sie aber gemeint hätten, es sei eine Geisterstimme. Sie führen mich abseits vom Kirchhofe, denn dort ist an einem eisernen Grabkreuze der Selbstmörder gehangen.
Ich habe mich nachher in mein Zimmer verschlossen und bin in demselben verblieben den ganzen Tag. Ich hätte an dem Tage eine Predigt halten sollen über die Buße und die Erbarmungen Gottes. Ein anderer meiner Genossen hat es für mich getan. Die Leute sollen sich erzählt haben, ich sei die Nacht über absichtlich in der Kirche geblieben und hätte Offenbarungen gehabt.
Spätabends, als ringsum alles geschlafen, habe ich auf ein Blatt Papier die Worte geschrieben: Lebt wohl, meine Brüder. Forscht nicht nach mir.
Und dann habe ich genommen, was mein, und bin aus dem Hause gegangen und aus dem Dorfe, und die Landstraße entlang die ganze Nacht.
Planlos ist mein Wandern. Ich überlasse mich dem Zufall. Ich habe nichts zu verlieren; nur aus dem Bereiche der belebteren Gegenden trachte ich fortzugelangen. Ich habe meine Richtung gegen das Gebirge genommen.
Als der Morgen graut, bin ich zwischen Waldbergen; ein Bach rauscht mir entgegen. Ich trinke aus dem Wasser und ruhe auf einem Stein. Da kommt so ein Waldmensch des Weges, der zieht seine Kopfbedeckung ab vor meinem priesterlichen Kleide. Ich erhebe mich und bitte den Mann, daß er mir den Weg weise, ich wollte weit hinein ins Gebirg, bis dorthin, wo der allerletzte Mensch wohnt.
– Der allerletzte Mensch, der wird wohl der Kohlenbrenner, der Ruß-Bartelmei, sein, hat der Mann geantwortet.
– So weiset mir den Weg zum Ruß-Bartelmei und bedeckt Euer Haupt.
– Habt Ihr mit dem Köhler was zu schaffen? fragt er dreister, da wir schon auf dem Wege sind. Ihr, der Köhler ist 'leicht schwarz an Leib und Seel'; den mögt Ihr nimmer weiß waschen. Schlechter als andere wird er auch nicht sein. Was wollt Ihr ihm denn?
Ich glaube, ich habe dem Frager von einer weitläufigen Verwandtschaft was gesagt. Da bleibt er stehen und sieht mich an: Verwandtschaft! Tät' mich wohl freuen! Der Ruß-Bartelmei bin ich wohl selber.
Ich gehe mit dem Manne über Berge, durch Schluchten. Zur Mittagszeit sind wir bei seinem Hause.
Drei Tage bleibe ich bei den Leuten. Schwarz sind sie freilich. Bei einem Volke des Morgenlandes ist schwarz die Farbe der Tugend und der Seligen; sie malen dafür den Teufel weiß. – Ich habe das, in der Meinung, ihm ein Gefälliges mitzuteilen, dem Kohlenbrenner gesagt. Der aber guckt seltsam aus seiner Hutkrempe hervor und entgegnet: Wird doch nicht sein. Nachher wäre ja der Pfarrer auf der Gasse ein Engel und in der Kirche ein –.
Diese grobe Rede hat mich wohl gestoßen.
Am dritten Tage, nachdem ich und der Bartelmei viel und über vieles miteinander gesprochen und uns gegenseitig Teile aus unserer Lebensgeschichte erzählt (die seine ist kohlschwarz und die meine noch schwärzer), da frage ich ihn, ob er mein Freund sein wolle. Ich hätte vor, in der Wildnis zu leben und zu arbeiten für meine Seele, und wolle redlich bestrebt sein, in der Einsamkeit Gutes zu stiften, da man unter Menschenscharen auch mit bestem Willen nicht immer das Rechte fördere. Als Freund habe er mich gegen Entgeltung mit den allernotwendigsten Bedürfnissen zu versehen, des Weiteren aber mich als Geheimnis zu bewahren.
Der Mann hat sich lange besonnen; dann sagt er: So, ein Einsiedler wollt Ihr werden? Und da soll ich der Rab' sein, der Euch das Brot vom Himmel bringt?
Ich erkläre, daß ich mir das Brot selbst suchen wolle, daß man aber auch Kleidungsstücke und anderer Dinge bedürfe, und daß ich nicht ermangeln würde, mit meiner kleinen Habe dafür zu danken.
So ist er bereit, mir zu dienen. Nur müsse ich ihm auch einmal eine Gefälligkeit erweisen, und vielleicht eine ganz absonderliche. Er habe schon auch sein Anliegen.
Ich habe das Köhlerhaus verlassen, und der Bartelmei hat mich geführt noch weiter in die Wildnis hinein. Bis in das Felsental bin ich hinaufgekommen; da sind gar keine Menschen mehr, da ist nur der Urwald und das starre Gewände. Und hier ist es mir recht gewesen; in einer verborgenen Höhle, an der eine Quelle vorbeirieselt, habe ich mich eingerichtet. Im Felsentale ist ein hölzernes Kreuz gestanden, das seiner Tage auch ein verlorener Waldmensch aufgerichtet haben mag. Das ist mein Versöhnungsaltar. Ein Kreuz ohne Heiland, wie ich es sonst den bedrängten Seelen vorgehalten, war mir endlich selber geworden.
Und so, junger Freund, habe ich nun gelebt in der Einsamkeit, habe mit den Wurznern und Pechern gearbeitet. Und so ist Jahr um Jahr verflossen. Von Entbehrung will ich nicht reden, schwerer ist mir das Gefühl des Verlassenseins geworden, und die Sehnsucht nach den Menschen hat mich oft hart gepeinigt. Nur der Gedanke, daß Entsagung meine Sühne ist, hat mich getröstet. Oft bin ich hinaus in die Täler gegangen, wo Menschen wohnen in lieber Geselligkeit. Ich habe mich gelabt mit dem Bewußtsein ihrer Gewissensruhe und Zufriedenheit und bin wieder zurückgekehrt in das ewige einsame Felsental zu meiner Höhle und zu dem stillen Kreuze auf dem Steingrunde.
Der Kampf in mir aber ist, statt geringer, größer und schwerer geworden, und zuweilen kommt mir der Gedanke: Was ist das für ein Leben in lahmer Tatlosigkeit, in der man niemandem nützt, sich selber verzehrt? Kann das Gottes Wille sein?
Zurückkehren in den Orden, das wäre unmöglich. In der offenen Welt leben unter dem Schilde eines abtrünnigen Priesters, das wäre ein zu großes Ärgernis an der treuen Berufserfüllung im allgemeinen. Was bleibt mir übrig, als für das Völklein des Waldes nach Kräften wohltätig zu wirken? Aber ich weiß es nicht anzufassen. Mit trockenen Predigten stiftet man nicht immer das Wahre. Den Teufel habe ich ja so lange gerufen, bis er mir selber gekommen. Gott und die christliche Liebe lehren? Damit bin ich in Indien schlecht gefahren. So habe ich gar keine Neigung mehr, den Menschen mit Worten zu dienen.
Wo ich Kinder sehe, da gehe ich auf sie zu, daß ich ihnen ein Liebes könnte erweisen; aber sie haben sich vor mir gefürchtet. Ich bin gemieden und nirgends gern gesehen, selbst in der Hütte des Bartelmei nicht mehr. Ich bin auch so seltsam, so unheimlich; zuletzt hat mir vor mir selber gegraut. Ein Verbannter, lebe ich im Felsentale, und zwischen dem Gestein lechze ich nach Wohltun. Und ich bin doch wieder davongeschlichen gegen die Wässer hinaus.
Dem altersschwachen Weiblein habe ich die Holzschleppe vom Rücken genommen, auf daß ich sie in seine Klause trage. Dem Hirten habe ich die Herde von dem gefährlichen Gewände abgeleitet. Und im Winter, wenn gar keine Menschen sind weit und breit, habe ich mit dürren Samen und wilden Früchten die Vöglein gefüttert und die Rehe. Geweint habe ich über diesen meinen armseligen Wirkungskreis, und vor dem Kreuze habe ich gebetet: Herr, vergib! und nur einmal laß mich was Gutes vollenden!
Und so habe ich, in der Absicht, etwas Rechtes zu vollbringen, den Jungen aus dem Hinterwinkel zu mir genommen. Ich hatte gehört, daß er von seinem Vater die Tobsucht geerbt haben soll. Ich habe bedacht, daß, wie der Mathes daran zugrunde gegangen, so auch der Lazarus daran zugrunde gehen müsse, könne durch eine entsprechende Zucht dem Übel nicht gesteuert werden. Auch habe ich bedacht, daß ein schwaches, weichherziges Weib nimmer imstande ist, dem gefährdeten Kind die strenge Leitung, die nötig ist, angedeihen zu lassen. Da habe ich eines Tages im Walde den Knaben am Grabe seines Vaters getroffen. Er hat erbärmlich geweint und ist nicht von mir geflohen wie andere Kinder. Und als ich ihn frage, was ihn denn so sehr betrübe, da antwortet er, er hätte einen Stein geschleudert nach seiner Mutter, und so wolle er jetzt sterben.
Ich entgegne ihm, er möge getrost sein; ich hätte auch einmal so einen Stein geschleudert gegen Menschen, aber nun wäre ich in die Wildnis gegangen, daß ich Buße tue und einen besseren Mann aus mir mache. Und ich frage ihn, ob er es auch so halten wolle.
Der Knabe hat mich flehend angeblickt und ja gesagt.
So habe ich ihn mit mir genommen in das Felsental und in mein Haus. Über ein Jahr habe ich ihn bei mir behalten, auf daß ich ihn an strenge Ordnung hielte und seine wilden Anfälle zu unterdrücken suchte. Täglich haben wir vor dem Kreuze gemeinsam unsere Andacht verrichtet. Und ich habe dem Knaben die Geschichte von dem Gekreuzigten erzählt, habe ihm mit aller Wärme eines sehnenden Herzens dargestellt die Liebe, Geduld und Sanftmut des Heilandes, und ich habe gemerkt, wie das Gemüt des Knaben davon ergriffen worden ist. Es ist ja ein herzensguter Junge.
Wir haben zusammen gearbeitet, haben Waldfrüchte, Kräuter und Schwämme gesammelt zu unserer Nahrung. Hirsche und Rehe haben wir nicht geschossen, wie der Lazarus einmal vorgeschlagen. Stühle und Fußmatten flechten wir für unsere Felsenwohnung und für den Branntweiner, der sie an den Mann zu bringen weiß. Viel Brennholz sammeln wir auf vor unserem Eingang. Gehe ich in die Lautergräben oder in die Winkelwälder hinaus, so bleibt der Knabe willig im Felsenhause und arbeitet allein. Gerne hat er mir von seiner kleinen Schwester erzählt, aber nie ein Wort von seiner Mutter, gleichwohl er im Traume oft genug von ihr gesprochen hat. Ich habe es ihm angemerkt, wie sehr das Gewissen seiner Tat ihn hat gepeinigt.
Auf daß der Knabe sich in Geduld und Sanftmut übe, habe ich ein Mittel erfunden, das, wie seltsam und einfältig es auch aussehen mag, doch eine schätzbare Wirkung in sich trägt. Ich fasse einen Rosenkranz aus grauen Steinperlen zusammen, und diesen Rosenkranz muß mir der Lazarus allabendlich abbeten, ehe er zu Bette geht. Aber nicht mit dem Munde abbeten, sondern mit den Fingern und mit den Augen. Er muß nämlich alle Perlen von der Schnur streifen, daß sie auf den Erdboden hinkollern; und nun ist seine Aufgabe, daß er die in alle Winkel gerollten Kügelein mühsam wieder zusammensuche und auflese. Anfangs hat er bei dieser mühsamen Arbeit sein Zucken wohl bekommen, aber da er dadurch dem Geschäfte hinderlich statt förderlich ist, so hat er es nach und nach mit mehr und mehr Fassung verrichtet, obwohl das Suchen oft stundenlang dauert, bis er die letzte und allerletzte Perle findet. Und endlich hat er es mit einer Ruhe und Selbstüberwindung getan, die verehrungswürdig ist. – Kind, sage ich einmal, das ist das schönste Gebet, das du Gott und deiner Mutter zuliebe tun kannst, und damit erlösest du deinen Vater. Da blickt mich der Junge mit seinen großen Augen glückselig an.
Wir haben nicht gar viel miteinander geredet, aber um so gewichtiger und überlegter ist jedes gesprochene Wort gewesen. Er scheint mich liebgehabt zu haben, er hat jeden Wunsch meiner Augen zu erfüllen gesucht. Nach meiner Weisung hat er mich den Bruder Paulus geheißen.
Wohl, es ist eine gewagte Art gewesen, wie ich den Knaben zu mir gerissen und geschult habe; aber ich mag hoffen, daß er glücklich auf einen besseren Weg geleitet ist. – O mein Freund, wie oft habe ich mir gesagt: Einem, und wenn auch nur einem Menschen mußt du von allen Seelengaben, die dem Priester zu Gebote stehen sollen, die Gabe der Selbstbeherrschung eigen machen, dann bist du erlöst.
Ich habe mich im Laufe des Jahres oft nach der Mutter des Knaben umgesehen; und sosehr ich mich selbst an den Knaben gewöhnt, habe ich doch den Tag ersehnt, an welchem ich dem armen Weibe das verschollene Kind wieder zurückgeben kann wie ein Stück reinen Goldes nach der Läuterung.
Da finden wir eines Abends das Kreuz nicht mehr auf dem Steingrunde. Es war unser Gottesaltar gewesen und das Zeichen der Entsagung und Selbstbeherrschung. Und nun starrt uns die moderige Grube an, aus der es emporgeragt.
Wer hat mir auch dieses Einzige noch weggenommen? Soll es Kohlen geben oder eine Herdflamme in der Hütte? Ist der weite Wald nicht mehr groß genug, legen sie die Hand noch an das Kreuz? Was hat es ihnen getan? Oder schnitzt einer den Heiland dazu? Oder hat es ein Kranker, ein Sterbender holen lassen, auf daß er davor bete?
So habe ich an jenem Tage gefragt und gegrübelt. Und am Abend noch eile ich durch das steinige Tal und meine, irgendwo müsse mein Gotteszeichen liegen. Ich laufe in den Wald hinab, den Fußsteig hin, da sehe ich zwei Männer, die das Kreuz tragen.
Und nun ist es mir eingefallen: es kommt in die neue Kirche am Steg, die Wäldler stellen es auf den Altar. Sie verehren es, wie ich es verehre; auch sie wollen Entsagung und Aufopferung lernen; auch sie sind Menschen, die streben und ringen nach dem Rechten wie ich. Da ist in mir eine Freude erwacht, die mir schier das Herz hat zersprengt. Um den Hals fallen hätte ich Euch mögen, Euch, der ganzen Gemeinde. Ich gehöre ja zu Euch – ein Pfarrkind.«
Dann sagt er noch: »Jetzo ist keine Zeit mehr zum Reden. Ich bin ja auch zu Ende. Kurze Zeit danach habe ich den Lazarus fortgeführt aus diesem Felsentale und hinaus zur neuen Kirche, auf daß er vor dem Kreuze bete. Ich habe ihn von Herzen gesegnet, denn ich habe wohl gewußt, daß er mir nicht mehr zurückkehren wird in das Felsenhaus.
Und allein habe ich weitergelebt, wohl verlassener als je, und doch beruhigter, und mein Herz hat sich gehoben, als wollte der Bann anheben zu schwinden. Öfter und öfter bin ich hinausgegangen zur neuen Kirche, in der mein Kreuz steht. Und die Menschen haben mich nicht mehr gemieden; Almosen haben sie mir gereicht, auf daß ich beten möge vor Gott für ihr Seelenheil. Daraus habe ich wohl mit Beschämung ersehen, daß sie mich für besser halten als sich selber.
Ich bin auch wieder in das Haus des Bartelmei gegangen, in dem sie mehr von mir wissen als in den anderen Hütten. Des Köhlers Mutter, die Kath, ist schon seit Jahren krank, die bittet mich, daß ich um Gottes Erbarmung willen doch einmal eine Messe für sie lese zu einem glücklichen Sterben. Das habe ich dem alten Weiblein gerne versprochen, und die Messe habe ich gelesen, und zwar vor meinem Kreuz in der Kirche am Steg.«
So weit hat der Mann erzählt.
Wir schweigen beide eine gute Weile. Endlich habe ich die Worte gesagt: »Wie sich das schon wunderbar fügt im Lebenslaufe, so ist das vielleicht Euere letzte Messe in unserer Kirche nicht gewesen.«
»Ich habe Euch die schuldige Antwort gegeben«, versetzt der Einspanig, »was daraus für Euch, für mich erwächst, davon kann heute noch nicht gesprochen werden.«
Mit diesen Worten hat er sich von dem Holzstamme erhoben. Und wie er nun so aufgerichtet vor mir steht, da ist er jünger und größer, als er sonst geschienen. Einen tiefen Atemzug hat er getan, und plötzlich hat er heftig meine Hände gefaßt in die seinen und mit bebender Stimme gerufen: »Ich danke Euch, ich danke Euch!«
Und hierauf ist er hastig davongegangen.
Er schreitet aufwärts in der Richtung gegen das Felsental.
Ich schreite abwärts in die Lautergräben und gegen Winkelsteg.
Meine Schuhe stoßen oftmals an Gestein und Gefälle. Eine nebelfeuchte, finstere Nacht liegt über den Wäldern.
So ist mein Mißtrauen gegen den Einsiedler glücklich zuschanden geworden.
Wenn einer auf die Welt verzichtet, sie mag ihm sein, was sie will, und jahrelang in der Wildnis lebt unter unerhörten Entbehrungen und mit eisernem Willen die Wünsche seiner Seele bekämpft – dem ist es Ernst. – Zu welchem Zwecke wäre er auch in die Wälder gegangen, lange ehvor am Steg noch ein Kirchenstein gelegen, zu welchem Zwecke hätte er sich gemieden gemacht von den Leuten und seinem Wohltätigkeitsdrang nur im verborgenen zu genügen gesucht? – Und vor mir armem Mann hat er die Fasern seines Herzens entwirrt, daß ich hineinsehe in sein Inneres, wie es auch dasteht in der Schuld.
Oft habe ich mir gedacht, der erste Seelsorger in Winkelsteg darf kein Gerechter sein, sondern ein Büßer. Nicht ein Mann sei es, der nie gefallen, sondern einer, der aus dem Falle ist aufgestanden. In der Tiefe und Finsternis der Wälder muß er stehen und sich zurechtfinden können, auf daß er diesen Menschen vorauszugehen weiß hinan zur lichten Höhe.
Im Sommer 1819
Das ist sauber! das ist possierlich! das ist schon gar zu lustig, jetzund!
Ich habe heute den ganzen Tag gelacht und geweint.
Es wird nur eine scherzhafte Mär sein, aber sie wird allenthalben ernsthaft erzählt. Und bei dem, was bislang schon zu hören gewesen, kann es ja möglich sein.
Verspielt soll er uns haben, der schlechte Mensch!
Verspielt, uns samt und sonders, die ganzen Winkelwälder mit Stock und Stein, mit Mann und Maus und mit dem Andreas Erdmann, verspielt am grünen Tisch in einer einzigen Nacht. Und verspielt an einen Juden.
Einige Tage später
Sei es, wie es sei, wir wollen an unserem Tagwerk weiterarbeiten. Ich bin heute in dem Miesenbachwald gewesen, um die Bäume zu besehen, die für den Schulhausbau bestimmt sind. Sie müssen im Christmonat gefällt werden; das ist für Bauholz die beste Schlagzeit; über den Sommer können sie trocknen, und im nächsten Herbst muß der Bau aufgeführt werden.
Als ich an der Schwarzhütte vorübergehe, tritt der Einspanig heraus. Er hat den Lazarus besuchen wollen; der Knabe ist aber nicht daheim, der ist jetzt Ziegenhirt bei den Holzern im Vorderwinkel. Adelheid soll dem Einspanig anfangs bittere Vorwürfe gemacht haben; hierauf aber habe sie ihr Gesicht in die Schürze verborgen und schluchzend ausgerufen: »Ich weiß es wohl, Ihr habt Euch das Himmelreich verdient mit meinem Kind!«
Ich und der Einspanig sind mitsammen gegen Winkelsteg gegangen. Leute, die uns begegnen, lachen sich die Hälse dick über die Geschichte, daß wir verspielt seien. Der alte Rüpel sagt, er schneide dem Moisi zu Ehr' seinen Bart nicht mehr.
»Ja, ja«, sage ich zu meinem Begleiter, »so sind wir jetzund jüdisch, und in unseren neuen Tempel kriegen wir einen polnischen Rabbi herein. So säuberlich hat uns der junge Herr Judas Schrankenheim verraten.«
Da bleibt der Einspanig stehen und starrt mich an. Vom Fuß bis zum Kopf und wieder vom Kopf bis zum Fuß starrt er mich an und sagt endlich: »Ihr seid mir sonst nicht dumm vorgekommen, Erdmann.« Und da wir wieder einige Schritte gegangen sind, versetzt er: »Ein ordentlicher Mensch sollte so alberne Dinge nicht glauben. Wie kann uns denn der junge Herr Schrankenheim verspielt haben? Mit dem besten Willen nicht. Er ist nicht Herr über die Güter seines Vaters und noch gar nicht großjährig.«
Da glotz' ich einmal drein.
Eine Berglast ist mir vom Herzen gefallen; aber im zweiten Augenblick bin ich wieder erschrocken. Ich hab' ja noch gestern vor aller Leute Ohren den jungen Herrn einen schlechten Menschen geheißen.
Das wird mich noch in der Ewigkeit martern. Aber, wenn ich ein Ehrenmann bin, dann mach' ich's gut. Ein lockerer Vogel mag er ja sein; doch redlich und hochherzig bist du, Hermann, und das müssen die Leute wissen. An drei Sonntagen nacheinander verkünde ich es von der Kanzel: Unser junger, zukünftiger Herr, Hermann von Schrankenheim, ist redlich und brav. Gott erhalte ihn! – Und das Schmachwort bitte ich dir ab bis zu meinem Tode.
Der Einspanig ist bei mir eingekehrt. Eines meiner Stubenfenster geht gegen die Kirche und den Pfarrhof hinüber. An demselben sitzen wir und verfallen in ein Gespräch, das zwei Stunden lang dauert.
Wir können jetzt, wenn schön Wetter, die Zeit schon nach Stunden messen; der Franz Ehrenwald hat an die Mittagsseite des Turmes eine Sonnenuhr gemalt.
Als der Einspanig fort ist, schreit die Haushälterin: »Wie närrisch, jetzt hat uns der Kuckuck den auch wiederum ins Haus getragen.«
»Der Kuckuck?« entgegne ich übermütig, »jawohl, dieser Mann ist selber wie der Kuckuck, hat kein Nest, muß ruhelos von einem Baum zum ändern flattern, ist überall gemieden und nirgends daheim. Aber im Lenz hören wir ihn doch gern, denn er bringt uns ja das Frühjahr, und er ist ein Wahrsager und zählt uns die Lebensjahre vor.«
»Ja«, schreit das Weib, »und fabelt uns himmelblau an, wie mich damalen; und ist ihm die Welt leicht nicht mit Brettern verschlagen, so ist es sicherlich sein Kopf. Geht mir weg, mit Eurem Einspanig!«
Wenn die gute Winkelhüterin wüßte, was ich in einer Stunde darauf dem Freiherrn für einen Brief geschrieben habe!
Im Mai 1820
Hier im Walde ist Tag und Nacht, ist Winter und Sommer, ist Friede und Not, ist Sorge und zuweilen ein wenig Behagen im Ausruhen von der Arbeit. So schleppt es sich fort. Der Wagen der Zeit hat bei uns das vierte Rad verloren, da geht es zuweilen schief und unschön, aber es geht.
Draußen, sagt man, wollen sie wieder die Welt umkehren. Von Krieg wird gesprochen. Um uns Winkelsteger kümmert sich kein Mensch mehr. Aber ich erlebe eine Freude. Mehrere junge Winkelsteger wollen sich freiwillig anwerben lassen zu den Soldaten. Das ist ein Anzeichen ihres erwachten Bewußtseins, daß sie ein Vaterland und eine Heimat haben, die sie verteidigen müssen. – Es ist eine erste, schöne Frucht der jungen Gemeinde.
Das Wäldermorden ist für eine Zeit eingestellt; draußen sind die Hämmer geschlossen. Viele heben jetzt an, die Geschläge zu roden und daraus Äcker zu machen. Aus Holzschlägern und Kohlenbrennern werden Ackersleute. Das ist gut; der Holzschläger vernichtet, aber der Bauer richtet auf.
Von der Herrschaft ist auf mein Drängen ein Schreiben gekommen. Anders, als ich vermeint. Jetzt sei nicht die Zeit für Kirchen- und Pfarrergeschichten; wir sollten uns behelfen.
Das ist ein sehr weiser Rat. Aber die Leute wollen nicht mehr in die Kirche gehen. »Wenn es keine Mess' und keine Predigt gibt«, sagen sie, »still beten kann eins auch unter dem grünen Baum.« Sie stellen sich aber nicht unter den grünen Baum, sondern in die Branntweinschenke.
Die Herde zerstreut sich wieder, wenn kein Hirte ist.
Der Förster ist auch davon, da er in anderen Gegenden zu walten hat. So bin ich allein mit meinen Winkelstegern, wie Moses mit den Israeliten allein ist gewesen in der Wüste.
Die Gebote sind verkündet, aber die Leute bauen wieder an dem Goldenen Kalb. Und Manna fällt nicht mehr vom Himmel.
Pfingsten 1820
Heute ist der Einsiedler aus dem Felsentale in unserer Kirche vor dem Altare gestanden, hat die Messe gelesen.
Das Kirchengeräte haben wir aus Holdenschlag, wie es dort in der Pfarrkammer gelegen und nicht mehr benützt worden ist. In das Meßkleid haben die Mäuse Löcher gefressen, aber die Spinnen haben diese Löcher wieder zugewoben.
Ich habe die Orgel gespielt. Die Kirche ist just so groß, daß man vom Chor aus noch sehen kann, wenn dem Priester am Altare Tropfen in den Augen stehen.
Die Leute haben wenig gebetet und viel geflüstert. – Dieser Einspanig, das ist zuletzt ja der zweite heilige Hieronymus.
Und der Waldsänger hat mir nach dem Gottesdienst die Worte gesagt: »Habt Ihr den ewigen Juden gesehen? Er hat in den Leidenstagen für den Heiland das Kreuz getragen heut' hinauf nach Golgatha. Er ist erlöst, hosianna!«
Ich habe dem Einsiedler diese Worte mitgeteilt und beigesetzt: »Laßt Euch die Rede freuen; der Mann ist voll des heiligen Geistes!«
Am Feste Allerheiligen 1820
In Welschland haben sie Händel. Ansonsten ist es blinder Lärm gewesen, und unsere Vaterlandsverteidiger sind wieder zurückgekommen. Es geht in das alte Geleise, und wir stecken dem Wagen der Zeit das vierte Rad wieder an.
Ich habe die Leute veranlaßt, daß sie unter sich ein Oberhaupt wählen, auf daß jemand sei, der Verordnungen erteile, Streitigkeiten schlichte und die Gemeinde zusammenhalte.
Sie haben den Martin Grassteiger gewählt und nennen ihn nun den Richter.
Und bei derselben Versammlung hat der neue Richter den von dem Waldherrn anerkannten zukünftigen Schullehrer der Gemeinde Winkelsteg vorgestellt.
Dieser Schullehrer bin denn ich. Die Leute sagen, das hätten sie längst schon gewußt, daß ich der Schulmeister sei. Der Grassteiger sagt, es müsse alles auch Form Rechtens geschehen.
Wenige Tage nach dem obigen läßt der Richter durch mich die Pfarrerwahl ausschreiben. Darüber lacht alles.
– »Sollen wir aus den Pechhackern und Kohlenbrennern einen wählen? 's wird aber keiner taugen. Studiert ist für uns Winkler gleich einer genug, aber so närrische Gewohnheiten haben unsere Männer, keine Häuserin mögen sie nit leiden.«
So machen sie ihre Späße, wissen aber recht gut, auf wen es abgesehen ist.
Und sie haben ihn auch gewählt.
Wir sollen uns selber behelfen, hat der Waldherr gesagt; so haben wir uns selber beholfen.
Der Einsiedler aus dem Felsentale ist Pfarrer von Winkelsteg.
Martini 1820
Die Rußkath ist gestorben.
Sie ist neunzig Jahre alt geworden. Ihr letzter Wille ist, daß man ihrer Leiche feste, nägelbeschlagene Schuhe anziehe; sie würde den Weg aus der Ewigkeit oftmals zurückmachen müssen auf die Erde, um zu sehen, wie es ihren Kindern und Kindeskindern fortan gehe.
Die Rußkath ist die erste, die sie in die Walderde unseres neuen Friedhofes hinabtun werden.
Auf zwei Stangen haben sie zwei Männer herübergetragen aus den Lautergräben. Der weiße, noch harzduftende Tannenbrettersarg ist mit Erlstrauchbändern auf der Bahre befestigt gewesen. Der Rußbartelmei und sein Schwestermann Paul Holzer mit einem Knäblein sind hinter den Trägern dreingegangen. Sie haben laut gebetet und stets auf die Wurzeln der Bäume geblickt, über die sie geschritten. Auch die Träger haben sehr behutsam gehen müssen, denn der Boden mit dem Spätherbstreif ist jetzt gar schlüpfrig.
Vor Jahren soll es gewesen sein. Da haben sie von den Almen einen Hirten herabgetragen, um ihn draußen auf dem Holdenschlager Kirchhof zur Ruhe zu bringen. Wie sie sich da oben an den schmalen Steigen der Miesenbachwände herauswinden, strauchelt einer der Träger und der Sarg rollt über den Hang und stürzt in den Abgrund, so daß nicht ein Splitterchen davon mehr gesehen worden ist.
Das soll den Leuten sehr arg gewesen sein, und der Totengräber zu Holdenschlag hat doch bezahlt werden müssen.
Wir Winkelsteger haben keinen Totengräber. Wir können ihn nicht ernähren. Wenn doch einmal einer stirbt, so tut er's nicht eher, als bis sein letzter Groschen vertan ist. So müssen eben ein paar Holzerburschen her und die Grube ausschaufeln. Sie verlangen nichts dafür, sie sind froh, wenn sie aus der Grube frisch und gesund wieder hervorkriechen mögen.
Während der Totenmesse ist der Sarg ganz allein vor der Kirche auf der harten Erde gestanden. Da kommt ein Vöglein geflogen, hüpft auf den Sargdeckel und pickt und pickt, und flattert wieder davon.
Der Rüpel hat es gesehen; und das sei, habe es ihn nicht betrogen, der Vogel gewesen, der alle tausend Jahr' einmal in den Wald kommt geflogen.
Nach der Messe haben wir die Rußkath hinaufgetragen zum bereiteten Grab. Die Angehörigen blicken starr in die Grube.
Nach der Einsegnung hat der Pfarrer eine kurze Rede gehalten. Ich habe mir nur davon gemerkt, daß wir durch den Tod der Unsern an Gleichmut gewinnen für die Widerwärtigkeiten dieses Lebens und einen ruhigen, ja vielleicht freudigen Hinblick auf unser eigenes Sterben. Jede Stunde sei ja ein Schritt dem Wiedersehen zu; und bis uns jene Pforte der Vereinigung wird aufgetan, leben unsere Heimgegangenen fort im heiligen Frieden unseres Herzens.
Er kann's auslegen. Wie es unsereins wohl auch empfindet, aber man weiß die Worte nicht dazu. Er hat die Sach' nicht verlernt, und ist er gleich jahrelang oben im Felsental gewesen.
Jetzt ist noch ein anderer gekommen. Der Rüpel schiebt sich sachte vor, da machen ihm die Leute Platz: »Schauen, was der Rüpel heut' weiß!«
Und als der Waldsänger auf dem Erdhügel steht und den Spatenstiel als Stock in der Hand hält, daß er auf dem lockeren Grund nicht strauchelt, und als er einen Blick hinabtut auf den Schrein, da hebt er an zu reden, wie hier aufgeschrieben:
»Geboren ist sie worden vor neunzig Jahren. Ihr Lebtag ist sie mit keinem Rößlein gefahren. Mit ihren Füßen ist sie gegangen talab und bergauf ihren ganzen mühseligen Lebenslauf. Sie ist beigesprungen den Leuten in Kummer und Nöten, und dabei hat sie hundert Paar Schuh' zertreten. Und andere hundert Paar Schuh' tat sie wagen, um ihren Kindern das Brot auf den Tisch zu tragen. Und weitere hundert Paar Schuh' sind zerrissen auf Schmerzenswegen, die sie hat wandeln müssen. Für Tanz und sonstige Lustbarkeiten fürwahr, tat' sie brauchen nicht ein einziges Paar. Dann hat sie angezogen die letzten Schuh' und ist fortgegangen in die ewige Ruh'. Die heiligen Engel taten ihre Seele führen wohl durch das Fegefeuer bis zu den himmlischen Türen. Und unter der Erde tut ruhen der arme Leib in seiner hölzernen Truhen. – Schlaf wohl, Kathrin, in deiner neuen Wiegen, wir werden bald an deiner Seite liegen; bis der Herr uns tut wecken zu seinen heiligen Scharen, auf daß wir mit Leib und Seel' in den Himmel mögen fahren!«
»Der Rüpel wäre der Pfarrer für die Winkelsteger!« hat nun der Mann gesagt, den sie den Einspanig geheißen.
Ja, wenn er nicht unter ihnen auf gewachsen wäre
Als wir, der Pfarrer und ich, mit der Schaufel einige Erdschollen auf den Sarg geworfen, tritt der Rußbartelmei ganz betrübt zu uns und fragt, was uns seine Mutter denn getan habe, daß wir ihr noch in das Grab die Klötze nachschleuderten? Da haben wir es ihm dargelegt, daß Erde die einzige Gabe sei, die man einem Toten zulieb könne reichen.
Darauf hebt der Bartelmei an und schaufelt Erde hinab, bis man keine Ecke mehr sieht von dem weißen Schrein und die Leute ihm die Schaufel aus der Hand nehmen, auf daß sie die Grube schließen.
Nach dem Begräbnisse sind sie in das Wirtshaus des Grassteigers gegangen und haben sich mit Branntwein erfrischt... so wie auch die Alten ihren Toten haben nachgetrunken.
Gott zählt seine Leute auch in Winkelsteg und da darf ihm keines fehlen.
Kaum ist auf dem Friedhofe das Gräblein zugemacht, wird in der Kirche das Taufbecken aufgetan. Der erste Tote und der erste Täufling an einem Tage – aus einer Familie.
Auf demselben Waldweg, den heran vor ein paar Stunden der Sarg ist geschwankt, haben zwei Weiber ein neugeborenes Kind herübergetragen aus den Lautergräben.
Das Kind ist eine Enkelin der Rußkath und gehört der Anna Maria.
Es klopft an die Kirchentür, tät' bitten um die Taufe und heißen möcht' es gern: Katharina.
Wir haben alle Heiligen des Himmels zur Auswahl, und der Name der Großmutter wird ihm nicht versagt sein.