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Nachdem er vier Wochen im Bezirk Zlotogrod verbracht hatte, schlug ihm der Wachtmeister Wenzel Slama vor, dem Sparverein der älteren Staatsbeamten beizutreten. Diesem Verein gehörten Sequester, Konzipisten und sogar Gerichtsadjunkte an. Alle spielten Tarock und Bakkarat. Zweimal in der Woche versammelten sie sich im Café Bristol, dem einzigen Kaffeehaus im Städtchen Zlotogrod. Alle Mitglieder des Vereins begegneten dem Eichmeister Eibenschütz mit Mißtrauen, und zwar nicht nur deshalb, weil er ein Fremder und Neuangekommener war, sondern auch, weil sie in ihm einen durchaus Redlichen und noch nicht Verlorenen vermuteten.
Sie selbst nämlich waren durchwegs Verlorene. Sie ließen sich bestechen und bestachen andere. Sie betrogen Gott und die Welt und die Vorgesetzten. Aber auch die Vorgesetzten betrogen wieder ihre höheren Vorgesetzten, die in den weiten, größeren Städten saßen. Im Verein der älteren Staatsbeamten betrog einer den andern beim Kartenspiel; und nicht etwa aus purer Gewinnsucht, sondern einfach so, aus Lust am Betrügen. Anselm Eibenschütz aber betrog nicht. Und was seine Freunde noch stärker gegen ihn aufregte, war nicht so sehr die Tatsache, daß er selbst nicht betrog, sondern vor allem, daß er einen Betrug, dem er anheimgefallen war, gleichgültig aufnahm. Also war er in der Mitte der anderen noch einsamer.
Die Kaufleute haßten ihn – mit Ausnahme eines einzigen, von dem aber erst später die Rede sein soll. Die Kaufleute haßten ihn, weil sie ihn fürchteten. Wenn sie ihn ankommen sahen, in seinem goldgelben Wägelchen, den Gendarmen an der Seite, wagten sie selbst, ihre Türen zu schließen. Wohl wußten sie, daß sie gezwungen sein würden, die Läden zu öffnen, sobald der Gendarm dreimal angepocht hatte. Aber nein! Sie schlössen die Türen lediglich, um den Eichmeister Eibenschütz zu ärgern. Denn er hatte schon mehrere Kaufleute angezeigt und vor Gericht gebracht.
Wenn er spätabends nach Hause kam, im Sommer verschwitzt, halb erfroren im Winter, erwartete ihn mit finsterer Stirn seine Frau. Wie hatte er nur so lange Zeit mit einer so fremden Frau zusammenleben können! Es war ihm, als hätte er sie erst vor kurzem erkannt, und immer eine Minute, bevor er ins Haus trat, hatte er Angst, sie würde sich seit gestern verändert haben können und wieder eine andere, neue, aber ebenso finstere sein. Gewöhnlich saß sie strickend unter dem Rundbrenner, in emsiger, gehässiger und erbitterter Demut. Doch war sie hübsch anzusehen mit ihrem schwarzen, glatten Scheitel und ihrer trotzigen, kurzen Oberlippe, die einen kindlichen Mutwillen vortäuschte. Sie hob nur den Blick, ihre Hände strickten weiter. »Sollen wir jetzt essen?« fragte sie. »Ja!« sagte er. Sie legte das Strickzeug hin, einen gefährlichen, giftiggrünen Knäuel mit zwei dräuenden Nadeln, und ein angefangenes Stückchen Strumpf, das eigentlich aussah wie ein Überrest, ein noch nicht geborenes und schon zerstückeltes Werk.
Trümmer, Trümmer, Trümmer! Eibenschütz starrte darauf, während er die peinlichen Geräusche vernahm, die seine Frau in der Küche verursachte, und die grelle und gemeine Stimme des Dienstmädchens. Obwohl er hungrig war, wünschte er, die Frau möchte möglichst lange in der Küche bleiben. Warum gab es keine Kinder im Haus?
Ein paarmal in der Woche erhielt er eine umfängliche Post. Gewissenhafter Beamter, der er war, klassifizierte er alle Briefe säuberlich. Die Eichmeisterei war in der Bezirkshauptmannschaft untergebracht, im Hoftrakt, in einem halbdunklen Zimmerchen. Eibenschütz saß dort an einem schmalen grünen Tisch, ihm gegenüber ein junger Schreiber, ein sogenannter »Vertragsbeamter«, der sehr blond war, geradezu aufreizend blond und sehr ehrgeizig. Er hieß Josef Nowak, und Eibenschütz konnte ihn schon des Namens wegen nicht leiden. Denn genau so hatte ein verhaßter Schulkollege geheißen, dessentwegen Eibenschütz das Gymnasium in Nikolsburg hatte verlassen müssen. Dessentwegen hatte er sich so früh zum Militär gemeldet. Dessentwegen – dies aber bildete sich der Eichmeister nur ein – hatte er auch geheiratet und gerade diese Frau Regina. Der Vertragsbeamte war freilich ganz unschuldig am Schicksal des Eibenschütz. Er war nicht nur aufreizend blond und ehrgeizig, sondern auch rachsüchtig. Hinter biegsamen und schmeichlerischen Manieren verbarg er eine, dem Eichmeister Eibenschütz aber wohl erkenntliche Sucht, seinem Vorgesetzten zu schaden. Unter den Briefen, die an das Eichmeisteramt kamen, befanden sich auch die seinen, mit verstellter Hand geschriebenen. Es waren Droh- und Denunziationsbriefe. Sie verwirrten den Eichmeister Eibenschütz. Denn seine peinliche Bedachtsamkeit gebot ihm, jeder Anzeige nachzugehen und jede Drohung dem Gendarmeriekommando anzuzeigen. Im stillen gestand er sich selbst, daß er nicht dazu geschaffen war, Beamter zu sein, und gar in dieser Gegend. In der Kaserne hätte er bleiben müssen, ja, in der Kaserne. Bei den Soldaten war alles geregelt. Man bekam keine Drohbriefe und keine Denunziationen. Die Verantwortung eines jeden Soldaten für alles, was er tat, und für alles, was er unterließ, lag irgendwo hoch über ihm, er wußte selber gar nicht, wo. Wie leicht und frei war das Leben in der Kaserne gewesen!
Eines Tages nahm er ein paar Drohbriefe in seiner Aktentasche nach Hause, obwohl er das Gefühl hatte, daß er eine Unredlichkeit begehe. Aber es drängte ihn, die Briefe seiner Frau zu zeigen, und er konnte diesem Drang nicht widerstehen. Er kam also zum Mittagessen, pünktlich, wie er nur an den Tagen war, an denen er keine Fahrten in die Dörfer des Bezirks unternahm. Je näher er seinem Häuschen kam (es lag neben dem des Gendarmeriewachtmeisters Slama am Rande der Stadt), desto heißer wurde sein Zorn, und nahe vor der Tür war es bereits eine kochende Wut. Als er gar seine Frau erblickte – sie saß, wie gewöhnlich, am Fenster mit einem giftgrünen Strickzeug beschäftigt –, erwachte in ihm auch noch ein Haß, der ihn selbst erschreckte. Was will ich eigentlich von ihr? fragte er sich. Und da er keine Antwort geben konnte, wurde er noch zorniger, und als er eintrat, warf er die Briefe auf den bereits gedeckten Tisch und sagte mit unheimlich leiser Stimme – es war, als schrie er lautlos –: »Da lies, was du mir angerichtet hast!« Die Frau legte das Strickzeug weg. Mit gewissenhaften Gebärden, als wäre sie selbst ein Staatsbeamter, öffnete sie einen Brief nach dem andern. Indessen saß der Eichmeister Eibenschütz, in Hut und Mantel, wie bereit zu einer sofortigen Abreise, wütend auf seinem Stuhl, und je schweigsamer und gewissenhafter seine Frau las, desto heißer wurde seine Wut. Er beobachtete ihr Gesicht. Er glaubte deutlich zu sehen, daß seine Frau ein hartes, ein leidendes, aber dennoch böses Gesicht bekam. In manchen Augenblicken glich sie ihrer Mutter. Er erinnerte sich genau an seine Schwiegermutter. Sie lebte in Sternberg in Mähren. Als er sie zuletzt gesehen hatte, es war bei der Trauung, hatte sie ein grauseidenes Kleid getragen, es war ein Panzer. Ihren dürren und welken Leib umschloß es bis zum Halse, als hätte sie Pfeile und Lanzen zu befürchten. Ein Lorgnon trug sie vor den Augen; wenn sie es ablegte, glich sie einem Ritter, der ein Visier fallen läßt. Auch seine Frau ließ ein unsichtbares Lorgnon, ein unsichtbares Visier fallen. Sie erhob sich, nachdem sie gewissenhaft alle Briefe gelesen hatte und sagte: »Du hast doch keine Angst? Oder hast du etwa Angst?«
So wenig bekümmern sie also die Gefahren, die mich bedrohen, dachte da der Eichmeister. Und er erwiderte: »So wenig bekümmern dich also die Gefahren, die mir drohen? Wozu hast du mich gezwungen, die Kaserne zu verlassen? Wozu? Warum?«
Sie antwortete nicht. Sie ging in die Küche und kehrte mit zwei Schüsseln dampfender Suppe zurück. In schweigsamem Groll, aber nicht ohne Appetit, aß der Eichmeister Eibenschütz sein gewohntes Mittagessen. Aus Nudelsuppe bestand es, aus Spitzfleisch und aus Zwetschgenknödeln.
Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Haus und ging ins Amt. Er vergaß allerdings nicht, die Drohbriefe wieder mitzunehmen.