Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XI

Die Frau kam. Die Treppe, über die sie hinunterstieg, lief seitwärts neben der Theke. Sie bahnte sich einen Weg durch das lärmende Gewimmel der Deserteure. Das heißt, der Weg bahnte sich eigentlich vor ihr selbst. Am äußersten Ende des Schankraums neben dem Fenster, der Treppe gegenüber, saß der Eichmeister Eibenschütz. Er erblickte die Frau, als sie auf der ersten Stufe der Treppe stand. Und sofort wußte er, sie würde zu ihm kommen. Er hatte sie nie gesehen. Im ersten Augenblick schon, da er sie auf der obersten Treppenstufe gesehen hatte, verspürte er eine Trockenheit in der Kehle, dermaßen, daß er nach dem Glas Met griff und es in einem Zuge austrank. Es dauerte ein paar Minuten, bevor die Frau an seinen Tisch gelangte. Die betrunkenen Deserteure wichen vor ihrem zarten Schritt auseinander. Dünn, schlank, schmal, einen zarten weißen Schal um die Schultern, den sie mit den Händen festhielt, als ob sie fröre und als ob dieser Schal sie wärmen könnte, ging sie sicher, mit wiegenden Hüften und straffen Schultern. Ihre Schritte waren fest und zierlich. Man hörte das leise Aufschlagen ihrer hohen Stöckel einen Augenblick lang, während die lärmenden Männer verstummten und die Frau anstarrten. Ihr Blick war gleich, von der obersten Stufe an, auf den Eichmeister Eibenschütz gerichtet, als schritte ihr Auge ihren Füßen voraus.

Als sie auf ihn zutrat, war es ihm, als erführe er zum erstenmal, was ein Weib sei. Ihre tiefblauen Augen erinnerten ihn, der niemals das Meer gesehen hatte, an das Meer. Ihr weißes Angesicht erweckte in ihm, der den Schnee sehr gut kannte, die Vorstellung von irgendeinem phantastischen, unirdischen Schnee, und ihr dunkelblaues, schwarzes Haar ließ ihn an südliche Nächte denken, die er niemals gesehen, von denen er vielleicht einmal gelesen oder gehört hatte. Als sie sich ihm gegenüber niedersetzte, war es ihm, als erlebte er ein großes Wunder; als setzten sich das unbekannte Meer, ein merkwürdiger Schnee, eine seltsame Nacht an seinen Tisch. Er erhob sich nicht einmal. Er wußte wohl, daß man vor Frauen aufsteht; aber er erhob sich nicht vor einem Wunder.

Dennoch wußte er, daß dieses Wunder ein Mensch war, eine Frau, und er wußte auch, daß es die Freundin des Leibusch Jadlowker war. Natürlich hatte auch Eibenschütz alle Geschichten von der Freundin Jadlowkers gehört. Er hatte nie in seinem Leben eine bestimmte Vorstellung von dem gehabt, was man »die Sünde« nennt, aber jetzt glaubte er, er wüßte, wie die Sünde aussehe. So sah sie aus, genau so wie die Freundin Jadlowkers, die Zigeunerin Euphemia Nikitsch.

»Euphemia Nikitsch«, sagte sie einfach und setzte sich und spreizte ihren vielfach gefältelten Rock. Er knisterte leise und eindringlich, durch den Lärm der Deserteure.

»Sie trinken nichts?« fragte sie, obwohl sie das frisch geleerte Metglas vor Anselm Eibenschütz stehen sah.

Er hörte gar nicht ihre Frage. Er starrte sie an, mit großen, offenen Augen, und dachte, daß er eigentlich zum erstenmal die Augen wirklich geöffnet hatte.

»Sie trinken nichts?« fragte sie noch einmal, aber es war jetzt, als wüßte sie schon, daß Eibenschütz keine Antwort geben könne. Deshalb schnalzte sie kräftig und knallend mit den Fingern. Onufrij kam, der Hausknecht. Sie befahl eine Flasche.

Er brachte eine Flasche Neunziggrädigen und eine neue Schüssel trockener Erbsen. Der Eichmeister Eibenschütz trank, aber nicht, weil es ihn danach gelüstete! Keineswegs! Er trank nur, weil er seit den paar Minuten, in denen die Frau dasaß, vergeblich nach einem passenden Wort suchte und weil er hoffte, das Wort würde ihm kommen, wenn er nur tränke. Er trank also, und es brannte gewaltig in seiner Kehle, und er aß daraufhin noch die gesalzenen Erbsen, die das Brennen noch verstärkten. Vor ihm saß indessen die Frau, unbeweglich. Mit den schlanken dunkelbraunen Fingern, von denen jeder einzelne aussah wie eine winzige, schlanke, rosenköpfige, leicht gebrechliche und dennoch kräftige Frau, umklammerte sie das Gläschen. Auch ihre Augen waren nicht auf den Eichmeister Eibenschütz gerichtet, sondern auf den wasserklaren Schnaps. Eibenschütz sah ihre langen, aufwärtsgebogenen seidenschwarzen Wimpern, die schwärzer waren als das Kleid der Frau.

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen!« sagte er auf einmal, und er wurde rot dabei, und er zwirbelte mit beiden Händen den Schnurrbart, als könnte er auf diese Weise seine plötzliche, lächerliche Röte verbergen.

»Ich Sie auch nicht«, sagte sie – und es war wie die Stimme einer Nachtigall. In jungen Jahren, in den Wäldern rings um Nikolsburg hatte er sie manchmal gehört. »Kommen Sie denn oft hierher?«

»Manchmal im Dienst!« sagte er und hörte nicht auf, seinen weichen Schnurrbart zu zwirbeln. Er konnte einfach nicht mehr die Hände vom Gesicht wegnehmen.

»Im Dienst?« flötete sie. »Was für Dienst?«

Er ließ die Hände fallen. »Ich bin Eichmeister«, sagte er ernst.

»Ach so!« sagte sie, leerte ihr Glas, stand auf, nickte und ging wieder die Treppe empor.

Der Eichmeister Eibenschütz sah ihr nach, dem gefältelten Rock, der auf jedem Treppenabsatz ein zartes, sachtes Rad zu schlagen schien, und den schmalen Schuhen, die darunter erschienen. Längst schon schnarchten die Deserteure. Einige hatten ihre Köpfe auf die harten Tische gelegt. Andere lagen wie pralle, atmende Säcke unter den Tischen. Alle schnarchten laut und etwas grausam.

Er ging zur Theke. Er wollte bezahlen. Hinter der Theke stand Leibusch Jadlowker, und er sagte so drohend und so freundlich: »Herr Eichmeister, heute sind Sie mein Gast! Sie zahlen gar nichts!«, daß zum erstenmal in seinem Leben den früheren Feuerwerker Eibenschütz der Mut verließ und daß er nur »Gute Nacht« sagte.

Nach Hause ging er sehr langsam. Er vergaß, daß er sein Wägelchen vor dem Wirtshaus stehen gelassen hatte. Dennoch folgte ihm das Pferd gehorsam wie ein Hund und zog das Gefährt hinter sich her.

Es war schon heller Morgen, als er ankam. Das behäbige Dienstmädchen stellte ihm Tee und Brot auf den Tisch. Er schob alles weg.

Er hörte die Schritte seiner Frau. »Guten Morgen!« sagte sie. Sie trat auf ihn zu, sie machte Anstalten, ihn zu umarmen. Er erhob sich sofort.

»Du schläfst von nun ab in der Küche!« sagte er, »oder du wirst das Haus verlassen!«

Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Wenn dein Bett heute nacht nicht in der Küche steht, schläfst du morgen nacht bei Nowak oder draußen.«

Er erinnerte sich plötzlich an seinen Wagen, an sein Pferd. Gehorsam warteten sie vor dem Gitter des kleinen Gartens. Längst war es schon wacher Tag.

Er fuhr zum Amt, in die Bezirkshauptmannschaft. Und er schrieb mit eigener Hand sehr langsam, mit Doppelrand, in der klaren, kindlich-kalligraphischen Schrift eines kaiser-königlichen Feuerwerkers ein Gesuch an die Gemeinde, sie möchte den Schreiber Josef Nowak einer Nachbargemeinde abgeben. Er sei mit ihm nicht zufrieden. Er wünsche einen andern.

Es machte ihm einige Pein, einer Gemeinde ein Schreiben zu schicken. Er war immerhin zwölf Jahre Feuerwerker gewesen, und er hätte ein Anrecht auf einen richtigen, auf einen echten Staatsbeamtenposten gehabt. Dank seiner Frau aber hatte er diesen gewählt (er war eigentlich ein Gemeindebeamter, den allerdings der Staat bezahlte).

In dieser Stunde tat es ihm besonders weh, daß er nicht unmittelbar dem Staat unterstellt war.

Er war etwa eine Stunde vor dem Dienst gekommen. Als der Schreiber Nowak eintrat, sagte ihm der Eichmeister: »Sie werden diesen Posten verlassen. Ich bin mit Ihnen unzufrieden. Ich habe Ihre Entlassung oder Ihre Versetzung soeben beantragt.«

Der junge, ehrgeizige Mann sagte nur das eine Wort: »Aber –«

»Schweigen Sie!« rief Eibenschütz, wie er dereinst auf dem Exerzierplatz geschrien hatte, als er noch Feuerwerker gewesen war.

Er tat so, als vertiefte er sich in Akten. In Wirklichkeit aber dachte er über sein Leben nach. Nowak, gut – so dachte er –, der wird also verschwinden. Mit meiner Frau habe ich nichts mehr zu tun. Sie wird in der Küche schlafen. Hinauswerfen werde ich sie nicht, ich liebe keine Skandale. Und was noch – und was noch? – Ich will nicht mehr zu Jadlowker gehen – außer Dienst, versteht sich. Und wenn ich einmal außer Dienst hingehe, dann nur mit dem Wachtmeister Slama. – Nein, außer Dienst werde ich nicht mehr hingehen. Dabei bleibt es.

XII

Dabei blieb es nicht. Zwar wurde der Schreiber Nowak nach Podgorce versetzt; zwar schlief, neben dem Dienstmädchen, in der Küche die Frau Eibenschütz: aber die dienstlichen Besuche in der Grenzschenke, in Begleitung des Wachtmeisters Slama allerdings, mehrten sich auffallend.

Der Winter kam, und es war ein unerbittlicher Winter. Die Spatzen fielen von den Dächern, überreifen Früchten ähnlich, die im Frühherbst von den Bäumen fallen. Sogar die Raben und Krähen schienen zu frieren, so dicht beieinander hielten sie sich auf den dürren Zweigen. Das Thermometer zeigte an manchen Tagen zweiunddreißig Grad. In solch einem Winter fällt es einem Menschen einfach schwer, ohne Heim zu sein. Allein im großen Frost stand der Eichmeister, wie der einsam kahle und frierende Baum im Hof der Bezirkshauptmannschaft vor dem Fenster des Amtszimmers. Es war ein neuer Schreiber gekommen, ein träger, dicker und gutmütiger Jüngling, der sehr langsam arbeitete, aber Behaglichkeit verbreitete. Am behaglichsten war es überhaupt im Amtszimmer. Das Ofentürchen strahlte rötliches Licht aus, die beiden Lampen grünes. Die Papiere sogar raschelten vertraulich. Aber was dann, wenn der Eichmeister Eibenschütz das Amt verläßt? In seinem kurzen Schafspelz, mit hoch aufgeschlagenem Persianerkragen, in den hohen Kniestiefeln steht er da, neben einer der zwei Laternen, die vor der Bezirkshauptmannschaft brennen. Sie brennen sehr ärmlich und gelb, die Nachtlämpchen, dem leuchtenden Schnee im Park gegenüber. Lange Zeit steht der Eichmeister Eibenschütz so da und überlegt. Er überlegt, wie es jetzt aussehen wird, wenn er nach Hause kommt. Der Ofen ist geheizt, der Tisch gedeckt, der Rundbrenner leuchtet, auf der Ofenbank hockt die gelbe Katze. Verweint und finster geht die Frau sofort bei der Ankunft des Mannes in die Küche. Das Dienstmädchen, auch diese finster und verweint, denn sie teilt Tränen und Klagen mit der Hausfrau, schneuzt sich mit dem Schürzenzipfel, mit der linken Hand stellt sie den Teller vor Herrn Eibenschütz. Nicht einmal die Katze kommt heran wie einstmals, um sich streicheln zu lassen. Auch sie hegt Feindschaft gegen Eibenschütz. Aus ihren gelben Augen leuchtet der Haß. Trotz alledem beschließt der Eichmeister, nach Hause zu gehen. Er stampft entschlossen mit den schweren Stiefeln durch den knirschenden Schnee, durch die tote Nacht, die von unten her, vom Schnee, erhellt wird. Kein lebendiges Wesen wahrzunehmen. Man hat nichts zu befürchten, man braucht sich nicht zu schämen, wenn man gelegentlich eine kleine Weile vor einem der Häuschen stehenbleibt und durch die Ritzen der Fensterläden in die fremden Wohnungen hineinlugt. Es ist noch früh am Abend. Oft sitzen die glücklichen Leute noch zusammen. Manchmal spielen sie Domino. Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Kinder und Kindeskinder gibt es in den Häusern. Sie essen, sie lachen. Manchmal weint ein Kind, aber auch Weinen macht selig, ohne Zweifel! Manchmal bellt ein Hund auf dem Hof, denn er wittert den spähenden Eibenschütz. Auch dieses Kläffen hat noch etwas Heimliches, Liebliches beinahe. – Eibenschütz kennt nun schon alle Familien des Städtchens und wie sie leben. Er bildet sich gelegentlich ein, es sei für einen Eichmeister gut, nützlich, ja sogar erforderlich, etwas Näheres über die Kaufleute zu erfahren, »Personalkenntnisse« nennt er das. Nun geht er weiter. Jetzt ist er vor dem Haus. Sein Schimmel hört ihn kommen und wiehert freundlich. Ein liebes Tier. Der Eichmeister kann sich nicht halten, er geht in den Stall, er will den Schimmel nur streicheln, er denkt an die glückliche Zeit beim Militär, an all die Pferde, rückwärts, im Hintergebäude der Kaserne, er erinnert sich noch an alle Namen und auch an ihre Gesichter. Jakob hat er seinen Schimmel genannt. »Jakob!« ruft er leise, als er in den Stall kommt. Der Schimmel hebt den Kopf. Er stampft zwei-, dreimal mit dem rechten Huf auf das feuchte Stroh. Eibenschütz geht heran, eigentlich nur, um ihm »Gute Nacht« zu sagen, aber plötzlich kehrt er um, sagt, wie zu einem Menschen: »Einen Moment, bitte!« und geht in den Schuppen, und holt den Schlitten und führt das Pferd hinaus und schnallt mit zitternden und dennoch sicheren Fingern das Riemenzeug um, und die warme Wollhaardecke rollt er um den Leib des Tieres und bindet sie fest. Er spannt den Schimmel vor den Schlitten. Er schnallt die Glocke um den Hals des Pferdes. Er setzt sich hin, er nimmt die Zügel in die Hand und sagt: »Jakob!« Noch einen hastigen, gehässigen Blick wirft er auf die erleuchteten Fenster seiner Wohnung. Wie sehr haßt er die drei Frauen, die ihn drinnen erwarten: die Frau zuerst, das Dienstmädchen zunächst und schließlich die Katze. »Jakob!« sagte er, und der Schlitten gleitet auf seinen zuerst knirschenden, dann sanft und sanfter und lautlos werdenden Kufen dahin, zum Tor hinaus. Der Schimmel weiß, wohin.

Der Frost saust um das Gesicht des Eichmeisters, der Frost ist ein stummer Sturm, und die Nacht ist klar, als wäre sie aus Glas, aus Kristall gar. Die Sterne sieht man nicht, denn man achtet wohl auf den Weg, aber man fühlt sie hart und klar, als wären auch sie alle aus Eis, über dem Kopf. Man fühlt sie so sehr, daß man sie beinahe sieht, obwohl man auf den Weg achten muß. Man saust dahin.

Wohin saust man so mit dem Schimmel Jakob? Er weiß den Weg allein. Er galoppiert nach Szwaby.

Und wohin in Szwaby? In die Grenzschenke Jadlowkers. Es ist, als hätte er auch Sehnsucht, wie sein Herr, nach der Zigeunerin Euphemia Nikitsch.


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