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Am einundzwanzigsten Februar, genau auf den Tag, brach plötzlich ein starker Frost aus, und alle Welt begrüßte ihn freudig.
Der liebe, grausame Gott schickte Cholera und Frost, je nachdem. Nach der Cholera begrüßten die Leute den Frost.
Über Nacht gefror die Struminka. Der Regen hörte plötzlich auf. Der Schlamm in der Mitte der Straße wurde hart und trocken, wie Glas, graues, trübes Glas, und von einem sehr klaren, gläsernen Himmel schien die Sonne, sehr hell, aber auch sehr ferne. Auf den hölzernen Bürgersteigen gefror das Geriesel, der Überrest des Regens; und die Menschen gingen daher mit eisenbeschlagenen Stöcken, um nicht auszugleiten. Ein eisiger Wind wehte: nicht von Nord oder Süd, Osten oder Westen, sondern ein Wind, der aus gar keiner Richtung zu kommen schien. Vom Himmel kam er vielmehr. Von oben herab wehte er, wie sonst nur Regen oder Schnee von oben herabfällt.
Über Nacht erstarb auch die Cholera. Die Kranken wurden gesund, und kein Gesunder mehr wurde krank. Man vergaß die Toten – wie man immer Tote vergißt. Man begräbt sie. Man beweint sie. Am Ende vergißt man sie.
Das Leben hielt wieder seinen Einzug in den Bezirk Zlotogrod.
Das Leben hielt wieder seinen Einzug in den Bezirk Zlotogrod, aber dem Eichmeister Eibenschütz war es gleich, ob die Cholera herrschte oder nicht. Seit dem Tod seiner Frau trank er, nicht etwa aus Angst vor dem Tod, sondern aus Sehnsucht nach dem Tod.
Er übertraf alle Trinker. Er wohnte wieder in der Grenzschenke in Szwaby, sein Haus in Zlotogrod verwaltete nur die Magd, und er kümmerte sich nicht darum, wie sie es verwaltete. Er konnte sich überhaupt um nichts mehr kümmern.
Er trank. Er geriet in den Alkohol wie in einen Abgrund, in einen weichen, verführerischen, sanftgebetteten Abgrund. Er, der zeit seines Lebens so fleißig darauf bedacht gewesen war, sein Aussehen zu pflegen, aus dienstlichen Gründen, die eigentlich bereits Gebote seiner Natur geworden waren, begann jetzt, nachlässig zu werden, in der Haltung, im Gang, im Angesicht. Es begann damit, daß er, nachdem er eine ganze Nacht durchgetrunken hatte, sich in das Bett legte, ohne mehr auszuziehen als Rock und Weste und Schuhe. Er schnallte die Hosenträger ab, zu faul war er, noch Hose und Strümpfe abzulegen. Von der Kaserne her war er gewohnt gewesen, sich abends vor dem Schlafengehen zu waschen und zu rasieren – denn der Dienst begann schon um sechs Uhr früh. Jetzt begann er, zuerst das Rasieren auf den Morgen zu verschieben. Als er sich aber erhob, war es schon spät, um den Mittag etwa, und er erinnerte sich daran, daß es manche Leute gab, die sich nur jeden zweiten Tag rasierten oder rasieren ließen. Noch hatte er die Kraft, sich zu waschen. Noch betrachtete er sich im Spiegel, und nicht etwa, um zu sehen, wie gut er aussehe, sondern vielmehr, um zu erfahren, ob er noch nicht schlecht genug aussehe. Sehr oft überfiel ihn die häßliche Lust, nachdem er aufgestanden war, seine Zunge genau zu betrachten, obwohl er gar kein Interesse an ihr hatte. Und sobald er sich selbst einmal die Zunge sozusagen aus trotziger Neugier herausgestreckt hatte, konnte er nicht mehr umhin, sich allerhand Grimassen vor dem Spiegel zu schneiden; und manchmal rief er sogar seinem Spiegelbild ein paar wütende Worte zu. Manchmal konnte er von der Selbstbetrachtung im Spiegel gar nicht mehr loskommen, es sei denn, er griff nach der Flasche, die immer am Fußende seines Bettes stand. Er schüttete einen Schluck ins Wasserglas, und noch einen, und noch einen. Nachdem er drei solcher Schlucke getan hatte, schien es ihm, er sei wieder der alte Eichmeister Anselm Eibenschütz. In Wirklichkeit war er es nicht. Es war ein ganz neuer, ein ganz veränderter Anselm Eibenschütz.
Jeden Tag in der Früh war er gewohnt gewesen, einen heißen Tee mit Milch zu trinken. Auf einmal aber, eines Nachts, kam es ihm in den Sinn, daß er Tee mit Milch nicht trinken dürfe, solange Sameschkin da sei und er mit Euphemia nicht Zusammensein könnte. Erst im Frühling – – – erst im Frühling! rief er sich zu. Und er begann, jeden Morgen den Tee, den man ihm ins Zimmer brachte, in die Waschschüssel zu gießen. Denn er schämte sich, und er wollte niemanden merken lassen, daß er des Morgens nicht mehr Warmes trinke. Statt des Warmen nahm er einen Schluck Neunziggrädigen.
Es wurde ihm sofort heiß und wohl, und er sah trotz allem heiter ins Leben. Sehr kräftig kam er sich vor, und er glaubte, er könne alles in der Welt bezwingen. Sehr stark war er da, der Eichmeister Eibenschütz, und der Maronibrater Sameschkin würde auch bald verschwinden.
Immer, in Uniform wie im Zivil, hatte Eibenschütz sehr viel auf seine Bügelfalten achtgegeben. Nun aber, seitdem er in den Hosen schlief, schien es ihm, daß Bügelfalten nicht nur überflüssig seien: häßlich waren sie auch. Überflüssig und häßlich war es auch, die Stiefel vor die Tür zu stellen, damit man sie putze.
Bei allem sah der Eichmeister Eibenschütz immer noch stattlich aus, und nur wenige konnten an ihm irgendeine Veränderung wahrnehmen. Es sei denn Sameschkin, der ihm eines Morgens mit all seiner ahnungslosen Gutmütigkeit sagte: »Sie haben einen großen, einen Riesenkummer, Herr Eibenschütz.«
Er stand auf und ging, ohne ein Wort.
Der arme Eibenschütz mußte bald selbst feststellen, daß sich merkwürdige Dinge in seinem Gehirn abspielten. Er bemerkte zum Beispiel, daß er die Erinnerung für die jüngst vergangenen Begebenheiten verlor. Er wußte nicht mehr, was er gestern getan, gesagt und gegessen hatte. Es ging schnell abwärts mit ihm, dem stattlichen Eichmeister. Er mußte so tun, als erinnerte er sich, wenn er ins Amt kam und der Schreiber mit ihm von einer Anordnung sprach, die er gestern gegeben hatte, an alles.
Und er nahm alles zusammen, was er an Klugheit besaß, um nur vom Schreiber herauszukriegen, was er gestern gesagt haben konnte.
Äußerlich sah er immer noch stattlich aus, der Eichmeister Eibenschütz. Noch war er ein junger Mann, im ganzen sechsunddreißig Jahre alt.
Er hielt sich noch stark und aufrecht, zu Fuß und im Wägelchen. Aber in seinem Innern brannte der Schnaps, wenn er ihn getrunken hatte, und die Sehnsucht nach dem Schnaps, solange er ihn nicht getrunken hatte. In Wirklichkeit glühte in seinem Innern die Sehnsucht nach einem Menschen, irgendeinem Menschen und das Heimweh nach Euphemia. Ihr Bild saß fest in seinem Herzen, zuweilen hatte er das Gefühl, er brauchte sich nur die Brust zu öffnen, hineinzugreifen, um das Bild hervorzuholen. Und er dachte in der Tat daran, daß er sich eines Tages die Brust öffnen würde.
Auch sonst gingen in jener Zeit seltsame Veränderungen in ihm vor, er bemerkte sie auch, er bedauerte sie sogar, aber er konnte nicht mehr wieder der alte Mensch werden. Er wollte es gerne, und man kann sagen: er sehnte sich nach sich selbst noch mehr zurück, als er sich nach andern Menschen sehnte.
Er wurde immer unerbittlicher und unnachsichtiger im Dienst. Dazu trug auch ein wenig der neue Wachtmeister bei, der an die Stelle Slamas getreten war, nämlich der Wachtmeister Piotrak. Er war rothaarig, und es bewahrheitete sich an ihm der alte Aberglaube des Volkes, daß die Rothaarigen böse Menschen seien. Auch der Glanz seiner Augen, obwohl sie knallblau waren, hatte etwas Rötliches, gleichsam Entzündetes und Brennendes. Er sprach nicht, sondern es war, als ob er knurrte, wenn er etwas sagte. Nur mit Widerwillen setzte er, wie das Gesetz es befahl, das Gewehr ab, wenn er in einen Laden trat. Er lachte selten, aber er erzählte dem Eichmeister unaufhörlich lästige Geschichten, mit tiefem Ernst. Er brauchte nichts zu sagen, wenn sie zusammen in einen Laden eintraten, um Gewichte und Maße zu prüfen. Der Eichmeister Eibenschütz fühlte seinen Blick, und dieser scharfe blaue und zugleich rötliche Blick fiel todsicher auf den verdächtigsten der Gegenstände. Eines Tages gar fand der Gendarmeriewachtmeister Piotrak heraus, daß man auch die Qualität der Waren prüfen könnte, und der Eichmeister gehorchte ihm. Er fragte nach den Waren. Er fand verfaulte Heringe und verwässerten Schnaps und von Mäusen angenagtes Linoleum und feuchte Streichhölzer, die nicht brennen konnten, und von Motten zerfressene Stoffe und aus Rußland herübergebrachten Samogonka, den selbstgebrannten Schnaps, den die armen Bauern herstellten. Er hatte nie daran gedacht, daß es zu den Aufgaben eines Eichmeisters gehörte, auch die Waren zu prüfen, und der Gendarm Piotrak, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, bekam eine besondere Bedeutung. Ganz langsam, ganz sachte glitt der Eichmeister Eibenschütz in eine gewisse Abhängigkeit von dem Gendarmen hinein, er gab sich keine Rechenschaft darüber, aber er fühlte es doch, und manchmal empfand er sogar Furcht vor dem rothaarigen Mann. Und besonders erschreckend war der Umstand, daß der Gendarm ganz enthaltsam war. Immer war er nüchtern, und immer war er böse. Auf seinen kurzen, festen Fäusten standen rötliche Härchen, den Stacheln eines Igels ähnlich. Dieser Mann war nicht nur vorschriftsmäßig bewaffnet. Er selbst war Waffe.
Manchmal holte er aus seiner großen schwarzen Diensttasche ein Butterbrot mit geräuchertem Schinken, brach es in der Mitte entzwei und bot eine Hälfte dem Eichmeister Eibenschütz an. Eibenschütz nahm es, obwohl er Hunger hatte, mit einigem Widerwillen. Manchmal hatte er die Vorstellung, daß ein paar der rötlichen Borsten, von denen so viele auf den Händerücken Piotraks wuchsen, auch auf die Butter oder auf den Schinken gefallen waren.
Zugleich fühlte er auch, daß er ja selbst ein böser Mensch geworden war und daß Piotrak gar nicht so viel übler war als er selber. Er zog die flache Flasche aus seiner rückwärtigen Hosentasche und trank einen großen, starken Schluck. Hierauf erschien es ihm, daß er gar nicht böse sei, daß er streng sein müsse, daß er nur seine Pflicht tue – und damit basta. Kühn und ausgefüllt von einer gewissen erhitzten Munterkeit drang er in die Läden ein, in die großen, in die mittleren, in die kleinen, in die kleinsten. Manchmal flohen die spärlichen Kunden, denn sie fürchteten sich vor der Gendarmerie, vor der Behörde, vor dem Gesetz überhaupt. Aus seiner Diensttasche zog der Gendarm das längliche, schwarze, in Seidenrips gebundene Dienstbuch. Sein gezückter Bleistift sah beinahe aus wie sein Bajonett.
Hinter der Theke stand der Eichmeister Eibenschütz, und der Kaufmann neben ihm schien verkümmert und zusammengeschrumpft (man stelle sich eine zusammengeschrumpfte Null neben einer entsetzlichen Ziffer vor), Eibenschütz diktierte dem Gendarmen: »Gramme!« oder: »drei Pfunde« oder: »sechs Kilo« oder auch: »zwei Meter«. Er stellte die falschen Gewichte vor sich hin, wie man Schachfiguren hinstellt. Groß und breit stand er da, und er kam sich sehr mächtig vor, der Vollstrecker des Gesetzes. Der Gendarm notierte, der Händler zitterte. Manchmal kam aus dem Hinterzimmer des Ladens seine Frau heraus, sie rang die Hände.
Alle Menschen fragten sich, warum die Cholera nicht den Eichmeister Eibenschütz getroffen hatte. Denn er wütete schlimmer als die Cholera. Durch ihn kam der Korallenhändler Nissen Piczenik ins Kriminal, der Tuchhändler Tortschiner, der Milchhändler Kipura, der Fischer Gorokin, die Geflügelverschleißerin Czaczkes und viele andere. Wie die Cholera wütete er im Land, der Eichmeister Anselm Eibenschütz. Dann kehrte er heim, das heißt in die Grenzschenke nach Szwaby, und trank.
Es kam vor, während seiner fürchterlichen Dienstvisiten, daß die Frau und die Kinder eines Händlers sich vor ihm auf die Knie warfen und ihn anflehten, keine Anzeige zu machen. Sie hängten sich an seinen Pelz. Sie ließen ihn nicht gehen. Aber der rothaarige Piotrak stand reglos daneben. An ihn wagte sich kein Weib, kein Kind heran, weil er in Uniform war. Eibenschütz sagte: Warum nicht streichen lassen? Wem hat er etwas getan? Alle berauben sie einander in dieser Gegend. Laß ihn streichen, Eibenschütz! Es war nur der alte, der frühere Eibenschütz, der so sprach. Der neue Eibenschütz aber sagte: Gesetz ist Gesetz, und hier steht der Wachtmeister Piotrak, und ich war selbst zwölf Jahre Soldat, und außerdem bin ich selbst sehr unglücklich. Und Herz habe ich nicht im Dienst. Und es war, als nickte Piotrak fortwährend mit dem roten Kopf zu all dem, was da der neue Eibenschütz sagte.