Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XXXV

Ende Februar erhielt Eibenschütz die Benachrichtigung vom Ableben des Sträflings Leibusch Jadlowker, zu dessen Beaufsichtigung die politische Behörde aus bestimmten Gründen den Eichmeister beauftragt hatte.

Am Abend des gleichen Tages, als hätte er es gewußt, erschien Kapturak nach langer Zeit wieder in der Schenke. Er machte den gewohnten Bückling und setzte sich an den Tisch, an dem Eibenschütz, Sameschkin, Euphemia und der neue Wachtmeister Piotrak saßen. Alle Welt spielte Tarock, Kapturak verlor. Dennoch war er ausgelassen heiter.

Man verstand nicht, warum. Er sagte außer den üblichen dummen Wendungen und sinnlosen Sprüchen, welche die Tarockspieler gebrauchen, noch neue, frisch erfundene, noch sinnlosere, wie zum Beispiel: »Das Schwein hat Wind!« – oder: »Ich verliere meine Hosenträger« – oder gar: »Misthaufen ist Gold« – und ähnliches mehr. Mitten zwischen diese Wendungen und während er so saß, als überlegte er angestrengt, welche Karte er jetzt herauszugeben hätte, sagte er, wie zerstreut und in dem Tonfall, in dem er soeben einen seiner unsinnigen Sprüche hergesagt hatte: »Herr Eichmeister, es ist Ihnen gelungen? Ihr Feind ist tot?« – »Welcher Feind?« fragte Eibenschütz. »Der Jadlowker!« Und in diesem Augenblick legte Kapturak eine Karte auf den Tisch. »Er war unter den Cholerasträflingen«, erzählte er weiter, »und da hat er sich angesteckt. Er verfault seitdem Monate unter der Erde. Seine Würmer sind schon satt.« Euphemia sagte: »Es ist nicht wahr«, sie wurde blaß. »Ja, es ist wahr!« sagte Eibenschütz, »ich habe die amtliche Nachricht.« Euphemia erhob sich ohne ein Wort. Sie ging die Treppe hinauf, sich auszuweinen. Sameschkin, als erster, legte die Karten hin, und er allein war es, der sagte: »Ich spiele nicht weiter!« Sogar der rothaarige Gendarm Piotrak legte die Karten weg, Kapturak allein tat noch so, als spielte er gegen sich selbst. Auf einmal legte auch er die Karten hin wie in einem plötzlichen Entschluß und sagte: »Also werden wir Gläubiger jetzt diesen Gasthof erben, wir sind unser sechs.« Dabei sah er den Eichmeister an.

Es war sehr still am Tisch geworden, der brave Sameschkin konnte es kaum ertragen. Er erhob sich und ging zum Spielkasten ans Büfett, um einen Dreier hineinzuwerfen. Der Spielkasten begann sofort, den Rákóczimarsch mit großartigem Blechgetöse auszuspeien. Mitten in dem brausenden Lärm sagte Kapturak zum Gendarmen: »Wissen Sie, seitdem Sie hier sind, ist unser Eichmeister sehr streng geworden. Alle Händler verfluchen ihn, und drei haben schon durch ihn die Konzession verloren.« – »Ich tue meine Pflicht«, sagte Eibenschütz. Er dachte dabei an Euphemia und an den alten Eibenschütz, der er einmal gewesen war, und an seine tote Frau; und besonders an Euphemia, ja, besonders an Euphemia dachte er und daran, daß er eigentlich schon ein verlorener Mann war, in dieser verlorenen Gegend.

»Sie tun nicht immer Ihre Pflicht«, sagte Kapturak sehr leise. Aber in diesem Augenblick hatte der Kasten aufgehört zu brausen, und auch die leisen Worte klangen also sehr laut. »Wie steht es damit, daß Sie einen bestimmten Laden niemals inspizieren? Sie wissen, welchen ich meine!« – Eibenschütz wußte wohl, welchen Laden Kapturak im Sinne hatte, aber er fragte: »Welchen denn?« – »Den Singer«, sagte Kapturak. »Wo ist dieser Singer?« fragte der Gendarm Piotrak. »In Zlotogrod, mitten in Zlotogrod«, erwiderte Kapturak, »gleich neben der Fischerin Chajes, der Sie vor zwei Wochen die Konzession genommen haben!« Der Gendarm warf einen fragenden, mißtrauischen Blick auf Eibenschütz. »Morgen gehen wir nachsehen!« sagte der Eichmeister. Plötzlich empfand er große Angst vor Kapturak sowohl als auch vor dem Gendarmen. Er mußte noch ein Gläschen trinken.

»Morgen gehen wir nachsehen!« wiederholte er.

Kapturak lächelte lautlos und breit. Seine dünnen Lippen entblößten im ganzen vier gelbe Zähne, zwei oben, zwei unten, es war, als zerkaute er mit ihnen sein eigenes Lächeln.

Es war in der Tat so, daß der Eichmeister Eibenschütz noch niemals im Laden Singer nachgesehen hatte. Es war der einzige im Bezirk, ganz gewiß. Und trotz seiner großen Redlichkeit und amtlichen Gewissenhaftigkeit hatte er es doch absichtlich unterlassen, die Singers zu behelligen.

Es war übrigens ein so armseliger Laden, daß er sich sogar von den sehr armseligen dieser Gegend unterschied. Er hatte nicht einmal ein Schild, sondern eine gewöhnliche Schiefertafel, auf der die Frau Blume Singer alle paar Tage und besonders, wenn es geregnet hatte und die Schrift unleserlich geworden war, ihren Namen mit Kreide erneuerte. Es war ein winziges Häuschen: Es bestand aus einem Zimmer und einer Küche, und die Küche war zugleich der Laden. Auf einem winzigen Viereck freien Bodens vor dem Eingang lag ein mittlerer Misthaufen und daneben eine hölzerne Bude. Es war die Toilette der Familie Singer. In ihrer Nähe, gewöhnlich auf dem Müllhaufen, über dem jetzt eine dicke Kruste Schnee und Eis lag, spielten die beiden Knaben Singer in den spärlichen Stunden, in denen sie nicht lernen mußten. Denn sie mußten lernen. Zumindest einer von ihnen sollte einmal das Erbe seines Vaters Mendel antreten.

Ach! Es war gar kein materielles Erbe, Gott bewahre! Es war lediglich der Ruf eines Gelehrten und eines Gerechten. Im Zimmer hinter der Küche und dem Laden lernte Mendel Singer Tag und Nacht, zwischen den zwei Betten, von denen jedes an je einer Wand lehnte. In der Mitte lagen auf dem Fußboden die Strohsäcke der Kinder.

Niemals hatte sich Mendel Singer mit etwas anderem befaßt als mit heiligen und frommen Worten, und es kamen auch zu ihm viele Schüler. Er lebte kümmerlich, aber er brauchte gar nichts. Zweimal in der Woche, Montag und Donnerstag, fastete er. An gewöhnlichen Tagen nährte er sich nur von Suppe. Er schlürfte sie aus einem hölzernen Teller, mit einem hölzernen Löffel. Am Freitagabend nur aß er Forellen in Sauce mit Meerrettich. Im Städtchen kannte ihn jedermann. Man sah ihn jeden Tag zweimal ins Bethaus rennen, hin und zurück. Auf dünnen Beinen huschte er dahin, in weißen Strümpfen und in Sandalen, über die er im Winter schwere Galoschen stülpte. Sein Mantel flatterte. Tief über den Augen ruhte die schwere Pelzmütze, ein ausgefranstes Fell. Sein schütterer Bart wehte. Seine harte Nasenschiene stieß gegen die Luft, es sah aus, als wollte sie dem Angesicht einen Weg bahnen. Nichts und niemanden sah er. Versunken und verloren war er in seiner Demut und in seiner Frömmigkeit und in Gedanken an die heiligen Worte, die er schon gelesen hatte, und an die Freude auf jene, die noch zu lesen waren. Jedermann achtete ihn, auch die Bauern aus der Umgebung kamen, wenn sie in Not waren, ihn um Rat und Fürsprach zu bitten. Obwohl es schien, daß er die Welt und die Menschen noch niemals gesehen hatte, erwies es sich doch, daß er die Welt und die Menschen verstand. Seine Ratschläge waren trefflich, und seine Fürbitten halfen.

Um die irdischen Dinge des alltäglichen Lebens kümmerte sich seine Frau. Bei den wenigen reichen und wohlhabenden Leuten Zlotogrods hatte sie sich das Geld für die Konzession und für den Einkauf der Ware erbettelt. Ach! Welche Waren! Man bekam Zwiebeln, Milch, Käse, Eier, Knoblauch, getrocknete Feigen, Rosinen, Mandeln, Muskatnüsse und Safran. Aber wie winzig waren die Mengen, und wie furchtbar war die Beschaffenheit dieser Lebensmittel! In der kleinen, dunkelblau getünchten Küche mischte sich alles. Es sah aus, als wenn Kinder Verkäufer spielten. Das Säckchen mit den Zwiebeln und dem Knoblauch ruhte auf dem großen Eimer, in dem sich die saure Milch befand. Rosinen und Mandeln standen in Häufchen über dem Weißkäse, durch ein Fettpapier von ihrem Untergrund geschieden. Neben den zwei Rahmtöpfchen hockten, eine Art von Wachlöwen, die zwei gelben Katzen. In der Mitte, vom Plafond herab, hing an einem schwarzen, hölzernen Haken eine große, verrostete Waage. Und die Gewichte standen auf dem Fensterbrett.

So arme Leute gab es in der Gegend nicht, die bei Blume Singer eingekauft hätten. Und dennoch konnten sie immerhin noch leben – so hilft Gott den Armen. Ein klein wenig Herz schenkt Er den Reichen, deshalb kommt von Zeit zu Zeit einer von ihnen und kauft irgend etwas, was er nicht braucht und was er auf der Straße fortschütten wird.

XXXVI

Dies also war der Laden, in den am nächsten Morgen der Eichmeister Eibenschütz mit dem Gendarmen Piotrak eindrang. Obwohl ein starker Frost herrschte, sammelte sich doch ein gutes Dutzend Leute vor dem Laden an, und aus der Judenschule gegenüber liefen die Kinder hinaus. Es war etwa acht Uhr morgens, und Mendel Singer kam aus dem Bethaus. Als er die Ansammlung vor dem Häuschen sah, erschrak er, denn er fürchtete, es brenne bei ihm. Einige der Neugierigen liefen ihm entgegen und riefen: »Der Gendarm ist gekommen! Der Eichmeister ist gekommen!« Er stürzte hinein. Und er erschrak noch mehr, als er vor einem Brand erschrocken wäre. Ein leibhaftiger Gendarm mit einem Gewehr stand da, indes Eibenschütz die Waren, die Waage und die Gewichte prüfte. Die zwei Katzen waren verschwunden.

Der Rahm war sauer, die Milch geronnen, der Käse wurmig, die Zwiebeln faul, die Rosinen verschimmelt, die Feigen verdorrt, die Waage haltlos und die Gewichte falsch. Man schritt zur Amtshandlung. Man mußte aufschreiben. Als der Gendarm sein großes schwarzes Kaliko-Dienstbuch herauszog, war es Mendel Singer und seiner Frau, als zückte er gegen sie beide die gefährlichste von allen seinen gefährlichen Waffen. Der Eichmeister diktierte, und der rote Gendarm schrieb. Ein Feuer wäre eine Kleinigkeit gewesen.

Die Konventionalstrafe betrug genau zwei Gulden fünfundsiebenzig Kreuzer. Bevor sie nicht erledigt waren, konnte man den Handel nicht weiterführen. Der Ankauf einer neuen Waage und neuer Gewichte kostete weitere drei Gulden. Woher nimmt ein Mendel Singer zwei Gulden fünfundsiebenzig und weitere drei? Gott ist sehr gütig, aber Er kümmert sich nicht um so winzige Beträge.

All dies überlegte Mendel Singer. Deshalb ging er an den Eichmeister heran und nahm die Pelzmütze ab und sagte: »Euer Hochgeboren, Herr General, ich bitte Sie, streichen Sie alles aus. Sie sehen, ich habe Frau und Kinder!«

Eibenschütz sah die hageren, erhobenen Hände, die mageren, knochigen Wangen, den schütteren, armen Bart und die schwarzen, feuchten, flehenden Augen. Er wollte etwas sagen. Er will zum Beispiel sagen: Es geht nicht, lieber Mann, es ist Gesetz. Er will sogar sagen: Ich hasse dieses Gesetz und mich auch dazu. Aber er sagt nichts. Warum sagt er nichts? Gott hat ihm den Mund verschlossen, und der Gendarm stößt Mendel Singer fort. Ein Blick von ihm genügt. Ein Blick von ihm ist wie eine Faust. Und sie gehen, mit Gewichten, Waage und dem schwarzen Buch. Wenn die Frau Mendel Singer heute noch etwas verkauft, und sei es auch nur eine einzige Mandel, wird sie auf vier Monate eingesperrt.

Die paar Neugierigen und die Kinder, die draußen gelauert haben, laufen davon.

»Das hätten wir nicht tun dürfen!« sagt Eibenschütz zu Piotrak. »Es ist trotzdem ein redlicher Mann!«

»Redlich ist niemand!« sagt der Gendarm Piotrak, »und Gesetz ist Gesetz.« Aber selbst dem Gendarmen ist nicht ganz wohl.

Sie fuhren ins Amt und hinterlegten die Sachen beim Schreiber und hatten beide das Gefühl, daß sie etwas trinken müßten. Gut! Sie fuhren also zur Schenke Litwaks. Es war heute Mittwoch, also Markttag in Zlotogrod, und die Schenke war voll von Bauern, Juden, Viehhändlern und Roßtäuschern. Als sich der Eichmeister und der Gendarm setzten, an den großen Tisch, an dem auf glattgescheuerten Bänken schon gute zwei Dutzend Leute nebeneinanderhockten, ging zuerst ein verdächtiges Murmeln und Raunen los, dann begann man lauter zu sprechen, und irgendeiner nannte den Namen Mendel Singer.

Im gleichen Augenblick erhob sich ein untersetzter, breitschultriger, langbärtiger Mann von der Bank gegenüber. In einem großen Bogen spie er über den Tisch, über alle Gläser hinweg, mit meisterlicher Zielsicherheit genau in das Glas des Eichmeisters. »Alles andere kommt noch!« schrie er, und ein großer Tumult entstand. Alle erhoben sich von den Bänken, und Eibenschütz und der Gendarm versuchten, über den Tisch hinüberzusteigen. Sie erreichten die Tür aber erst in dem Augenblick, in dem der breitschultrige Bärtige sie aufgestoßen hatte. Eine Weile sahen sie ihn noch auf der weißen, beschneiten Landstraße dahinlaufen. Er lief sehr schnell, ein dunkler, geduckter Strich auf dem weißen Schnee, dem Tannenwald zu, der zu beiden Seiten die Straße säumte. Er verschwand links, als hätte ihn der Wald verschluckt.

Es war Nachmittag, es begann schon zu dunkeln. Der Schnee nahm eine leicht bläuliche Färbung an.

»Wir werden ihn schon kriegen«, sagte der Gendarm.

Sie kehrten zurück.

Es ließ dem Gendarmen Piotrak wirklich keine Ruhe. Hätte er nicht die volle Rüstung gehabt und die schweren Winterstiefel, die ihm aber das Reglement vorschrieb, so hätte er wohl den Leichtfüßigen verfolgen können. Er war aber sicher, daß er ihn noch finden und eruieren könnte, und das tröstete ihn. Wahrscheinlich war er ein schwerer Verbrecher. Hoffentlich war er ein schwerer Verbrecher.

Der Gendarm Piotrak verhörte alle Leute in der Schenke, aber kein einziger wollte den Missetäter kennen. »Er ist nicht aus dieser Gegend!« sagten die Leute.

Eibenschütz aber hatte das Gefühl, daß er den Mann schon irgendwo gesehen hatte. Er wußte nicht, wo und wann. Nacht herrschte in seinem armen Kopf, und es wollte nicht dämmern. Er trank, damit es lichter werde, aber es wurde nur noch dunkler. Ringsum spürte er eine große Gehässigkeit der vielen Menschen, wie noch nie vorher.

Sie erhoben sich endlich, stiegen in den Schlitten und fuhren nach Szwaby. »Kapturak wird wissen, wer es war!« sagte unterwegs der Gendarm.

Dem Eichmeister fiel nichts ein. Nach einer Weile sagte er: »Mir ist es gleichgültig!«

»Mir nicht!« sagte der hartnäckige Piotrak.


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