Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XV

Zu Hause schrie der Säugling. Was ein Wunder! Säuglinge schreien. Sie wissen nicht, ob sie Bastarde sind oder nicht. Sie haben ein Recht, zu wimmern und zu schreien. Übrigens übertönten in Eibenschütz' Ohren die leise klingenden Ohrringe der Euphemia auch das laute Schreien des Säuglings. Eibenschütz dachte gar nicht mehr an seine Frau und an das Kind des Josef Nowak.

Als er sein Haus betrat, dachte der Eichmeister nur daran, daß er der Hebamme nicht begegnen dürfte. Dies allein war seine Sorge. Aber es gelang ihm keineswegs. Sie hatte gehört und gesehen, wie er ankam. Und sie ging ihm entgegen mit der beruflichen Fröhlichkeit, die ihr eigen war, und berichtete ihm alles, was er nicht zu wissen wünschte: daß der Junge prächtig sei und daß sich die Mutter wohl befinde.

Eibenschütz dankte ihr gehässig. Immer noch klingelten in seiner Erinnerung und in seinem Herzen die goldenen Münzen an den goldenen Ohrringen. Er fühlte sich sehr unsicher, sehr unsicher fühlte er sich. Zuweilen war es ihm, als sei er kein Mensch mehr, sondern ein Haus, und er wäre imstande, seinen nahen Einsturz vorauszuahnen, als wäre er ein Haus oder eine Mauer: Es barst und bröckelte in ihm, und er fühlte kaum noch den Boden unter seinen Füßen. Er selbst schwankte, das ganze Haus schwankte, es schwankte auch der Sessel, auf den er sich setzte, um sein Frühstück einzunehmen. Der Hebamme wegen ging er jetzt hinein, in das Schlafzimmer, in dem seine Frau Regina seit ihrer Niederkunft wieder untergebracht war. Skandale wollte er nicht. Der Hebamme wegen.

Er sagte zu seiner Frau flüchtig und gehässig: »Guten Morgen« und betrachtete den Säugling Josef Nowaks, den ihm die Hebamme mit beruflichem Diensteifer entgegenstreckte. Der Säugling wimmerte. Er roch zudringlich nach Muttermilch und Urin. Eibenschütz dankte Gott, daß es nicht sein eigener Sohn war. Er empfand ein wenig Schadenfreude darüber, daß es der Sohn des verhaßten Josef Nowak war. Aber lauter noch als die Schadenfreude tönten in seinem Herzen die klingelnden Ohrringe.

Am Nachmittag hatte er eine Dienstfahrt mit dem Wachtmeister Slama zu unternehmen, nach Slodky. Sie langweilte ihn, diese Dienstfahrt, warum ging es nicht nach Szwaby? Es klingelten sachte die Ohrringe der Euphemia.

Der Wachtmeister Slama kam, ihn abzuholen. Man spannte den Schimmel vor das Wägelchen. Es war April, kurz nach Ostern. Der Himmel mit seinen zartweißen Wölkchen und seinem hellen Blau war jugendlich. Das Windchen, das dem Eichmeister entgegenwehte, war geradezu neckisch und ausgelassen. Die Felder zu beiden Seiten der Landstraße begannen eben, fröhlich zu grünen, und die Schneereste in den Gräben waren grau wie Asche.

»Heute oder morgen kommen die Schwalben!« sagte der Wachtmeister der Gendarmerie Franz Slama. Es kam dem Eichmeister Eibenschütz seltsam, aber auch anmutig vor, daß der Wachtmeister, trotz der Pickelhaube auf dem Haupt, trotz dem Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett zwischen den Knien, von den Schwalben sprach.

»So spät kommen sie hierher?«

»Ja«, sagte der Wachtmeister Slama, »es ist ein weiter Weg hierher.«

Und sie schwiegen. Und das Wägelchen rollte, und das Windchen wehte, und über der Welt wölbte sich der jugendliche Himmel mit seinen zartblauen Wölkchen.

Es war Freitag, ein Tag, den der Eichmeister nicht liebte: nicht aus Aberglauben, sondern weil es im ganzen Bezirk, in der Gegend überhaupt, ein Markttag war. Da gab es viel zu tun, nicht in den Läden, sondern auf den offenen Märkten. Die Kunden liefen einfach weg, wenn sie Gendarmen und Beamte kommen sahen.

Es entstand auch diesmal ein großer Schrecken auf dem Marktplatz von Slodky. Als das gelbe Wägelchen am Grenzrand des Marktfleckens erschien, schrie jemand, ein Junge, den man als Posten aufgestellt hatte: »Sie kommen! Sie kommen!« Die Weiber ließen die Fische, die sie eben hatten kaufen wollen, wieder in die Bottiche fallen. Die frischgeschlachteten, noch blutenden Hühner fielen mit hartem Schlag auf die Tische der Verkaufsstände zurück.

Das noch lebende Geflügel selbst schien zu erschrecken. Hühner, Gänse, Enten und Puten rannten zappelnd, krähend, schnatternd, schwerfällig und hastig die Flügel schlagend, durch die breite, kotige Fahrbahn, an deren beiden Seiten die Verkaufsstände aufgestellt waren. Während die Käufer, die doch gar keinen Anlaß hatten, vor der Behörde zu fliehen, es lediglich aus Torheit taten, aus Haß und Mißtrauen und aus unbestimmter Furcht, überlegten die Händler, die ihre Standplätze nicht verlassen durften, weil sie sich ja sonst erst recht verdächtig gemacht hätten, was zu unternehmen sei. Zuerst schmissen sie ihre Gewichte in die Straßenmitte, in den silbergrauen Schlamm. Es sah fast aus wie eine Schlacht und als bekämpften sie sich zu beiden Seiten der Marktgasse mit ihren schweren Gewichten.

Als der einzige unter den Händlern benahm sich kaltblütig nur der Leibusch Jadlowker. Er hatte zwar keine Konzession, in Slodky Fische zu verkaufen. Dennoch verkaufte er Fische in Slodky. Stark und breit stand er da, neben seinem Bottich, beinahe so breit wie der Bottich. Zwar hatte er keine Konzession, aber auch keine falschen Gewichte. Das Gesetz kannte er: Ein Eichmeister hatte nichts mit Konzessionen zu tun. Mochte er nur kommen. Er beobachtete indessen die Hechte und die Karpfen, die sich im Bottich tummelten. Dumme Fische, die wahrscheinlich glaubten, sie lebten immer noch in Flüssen. Was weiß ein armer Fisch?

Ach, und was weiß ein armer Mensch, Leibusch Jadlowker?

Und kennt er auch alle Gesetze und alle Sitten und Gebräuche und Charakteranlagen der Beamten: Es kann ein Augenblick kommen, da steht plötzlich ein unbekannter Paragraph auf, und wenn es nicht auf den Paragraphen ankommt, so erwacht zum Beispiel eine ungeahnte Leidenschaft in einem Beamten. Beamte sind auch Menschen.

XVI

Der Eichmeister Eibenschütz war auch nur ein Mensch. Das leise Klingeln der Ohrringe Euphemias konnte er nicht loswerden. Manchmal hielt er sich die Ohren zu. Aber es klingelte ja drinnen, nicht draußen. Es war kaum noch auszuhalten. Man mußte ganz schnell und flüchtig sogar den Markt von Slodky kontrollieren, und dann war es vielleicht noch Zeit, nach Szwaby zurückzukutschieren.

Er fuhr durch den wüsten, verwüsteten Markt. Die Räder seines Wägelchens rollten munter über die fortgeworfenen Gewichte hinweg, und die Hufe Jakobs gruben sich noch tiefer in den Schlamm. In der Mitte des Marktes hielt Eibenschütz an. Stumm und steif, wie Wachspuppen in einem Panoptikum, standen die Händler hinter den Ladentischen. Von einem Laden zum andern ging Anselm Eibenschütz, neben ihm der Gendarm. Man zeigte ihm Waagen und Gewichte, echte Waagen, echte Gewichte. Ach, er wußte wohl, daß es die falschen waren, die niemals benutzt wurden. Er prüfte die Punzierungen, er untersuchte Kummen, Fächer, Schubladen, Winkel, Verstecke. Bei der Geflügelhändlerin Czaczkes fand er sieben falsche Pfund- und Kilogewichte. Er schrieb sie auf, sie tat ihm leid. Es war eine alte, hagere Jüdin, mit geröteten Augen, einer harten Nase und einem zerknitterten, pergamentenen Angesicht. Man hätte sich eigentlich wundern müssen, wie es möglich war, daß so viele Runzeln auf so spärliche Wangenhäute geraten waren. Sie tat ihm leid, die arme Czaczkes. Dennoch mußte er sie aufschreiben. Offenbar waren ihre Hände zu kraftlos gewesen, um rechtzeitig die Gewichte hinauszuwerfen, wie es die andern getan hatten.

Sie begann sofort zu schreien: »Gewalt! Gewalt! Gewalt geschieht mir«, so schrie sie sinnlos, mit ihrer heiseren Stimme, es war etwas von Zirpen darin, von Krähen, von Schnattern. »Nicht aufschreiben, nicht aufschreiben!« rief sie, sie flatterte mit den Armen, raufte sich die braune Perücke, die über ihren silbergrauen Haaren saß und begann sofort, ihre mageren Hühner, ihre armselige Ware hinauszuschmeißen in die Straßenmitte, in den Schlamm. »Diebe, Räuber, Mörder!« schrie sie. »Nehmt mir alles, nehmt mir alles! Nehmt mir das Leben!« Aus dem Kreischen fiel sie unmittelbar in ein herzzerbrechendes Schluchzen. Es besänftigte sie aber keineswegs, im Gegenteil, es schien sie noch zu größerer Heftigkeit zu reizen. Denn während ihre Tränen aus den entzündeten Augen strömten und ihre hageren Wangen überströmten wie ein Regen, warf sie noch immer alles hin, was ihr in die Hände kam, ein Teeglas, den Löffel, den Samowar. Vergeblich bemühte sich da der Eichmeister Eibenschütz, sie zu besänftigen. Sie griff endlich nach dem Messer, mit dem sie das Geflügel zu verschneiden pflegte. Sie stürzte aus ihrem Verschlag heraus, mit dem gezückten, großen, sägeartig gezähnten Messer. Ihre Perücke verschob sich, man sah unter den falschen braunen Haaren die echten wirren Knäuel ihrer grauen Locken, und der Eichmeister wich einen Schritt zurück, nicht des Messers wegen, sondern wegen der Haare. Der Gendarmeriewachtmeister Slama, mit geschultertem Gewehr, stand noch immer regungslos.

»Man muß sie abführen!« sagte er. Er ergriff ihre hocherhobene Hand, in der das Sägemesser drohte. In diesem Augenblick stürzten alle Händler aus ihren Buden hervor. Ein ungeheures Geschrei erhob sich. Man hätte glauben können, die ganze lebendige Welt schriee und empörte sich gegen die Verhaftung der Frau Soscha Czaczkes. Der Wachtmeister Slama tat ein übriges: er fesselte die Alte. Und so, keifend, schreiend, krächzend unverständliche und sinnlose Flüche, ging sie dem Gefängnis entgegen, zwischen den beiden Männern, dem Gendarm und dem Eichmeister.

Was den Eichmeister anbetrifft, so war er sehr aufgeregt. Er hatte nicht gewollt, daß man eine arme, törichte jüdische Geflügelhändlerin einsperrte. Er selbst stammte von Juden ab. Er erinnerte sich noch an seinen Großvater, der einen großen Bart getragen hatte und der gestorben war, als er, Anselm, acht Jahre alt gewesen war. Auch an das Begräbnis erinnerte er sich. Es war ein jüdisches Begräbnis. Eingehüllt in die weißen Leichengewänder, ohne Sarg, fiel der alte Großvater Eibenschütz in das Grab, und sehr schnell wurde es zugeschaufelt.

Ach, er war in einer gar schlimmen Lage, der Eichmeister Eibenschütz. Weh, sehr weh tat ihm sein eigenes Schicksal. Das Gesetz einzuhalten, war er entschlossen. Redlich war er, redlich, und sein Herz war gütig und streng zugleich. Was sollte er machen mit der Güte und Strenge zugleich? Zu gleicher Zeit läutete in seinen Ohren das goldende Läuten der kleinen Ohrringe der Frau Euphemia.

Er schritt dahin, als wäre er selbst gefesselt. Er mußte sich trotzdem noch an dem und jenem Laden aufhalten. Indessen schrie die Frau Czaczkes fürchterlich, und der Gendarm hielt sie an der Kette fest, während Eibenschütz die Waagen und Gewichte kontrollierte, an verschiedenen Ständen. Er kontrollierte flüchtig und hastig. Es widersprach seinem soldatischen und seinem beamtlichen Gewissen, aber was hätte er tun sollen? Die Frau schrie, das Volk der Händler benahm sich bedrohlich. Er wollte hurtig sein und dennoch gewissenhaft. Er wollte mitleidig, nachsichtig sein, und die Frau schrie dennoch, und außerdem läutete es fortwährend in den Ohren: die Ohrringe der Euphemia. Schließlich bat er den Wachtmeister Slama, die Frau Czaczkes freizulassen. »Wenn Sie nicht mehr schreien«, sagte Slama zur alten Händlerin, »lasse ich Sie frei, wollen Sie?« Ja, freilich wollte sie. Sie wurde freigelassen. Und sie rannte davon, den Weg zurück, mit flatternden Armen. Sie glich einem Kranich.

Schließlich gelangte Eibenschütz vor den Bottich Jadlowkers. »Was machen Sie hier?« fragte er. »Haben Sie auch eine Konzession, Fische zu verkaufen?« »Nein«, sagte Jadlowker, und sein ganzes breites Angesicht lächelte, es war, als lächelte irgendeine kleine, sehr häßliche Sonne, eine Sonne der Häßlichen. »Nein«, sagte Jadlowker, »ich vertrete nur einen Freund, meinen Freund, den Fischhändler Schächer.«

»Papiere?« fragte der Eichmeister. – Er wußte nicht, weshalb ihn plötzlich ein so heftiger Zorn gegen den armen Leibusch Jadlowker ergriffen hatte.

»Sie haben nur Gewichte zu prüfen!« sagte Jadlowker, der sich in den Gesetzen auskannte. »Sie haben nicht das Recht, nach Papieren zu fragen!«

»Sie leisten Widerstand!« sagte der Eichmeister Eibenschütz. Er wußte nicht, weshalb er den Leibusch Jadlowker so haßte. Er wußte nicht, warum er immerfort im Herzen, im Gehirn, überall, das gefährliche Klingeln der Ohrringe hörte.

Bei dem Wort »Widerstand« trat der Wachtmeister näher. »Wo kommen Sie her?« fragte er den Jadlowker.

»Ich habe die Grenzschenke in Szwaby«, antwortete Jadlowker.

»Das weiß ich«, sagte der Wachtmeister Slama. »Ich war schon in Ihrer Schenke. Jetzt reden wir dienstlich. Keine Vertraulichkeiten: verstanden?«

Er stand da, der Wachtmeister Slama, im Abendschein. Die Sonne schickte noch den letzten Rest ihrer Kraft über den Marktplatz. Sie vergoldete auch eine Wolke, die über dem Platz dahinschwebte, und erweckte zugleich ein gefährliches Funkeln in der Pickelhaube des Gendarmen. Auch sein Bajonett blitzte.

Man weiß nicht, was damals in Leibusch Jadlowker vorging. Er stürzte sich plötzlich auf den Gendarmeriewachtmeister, das Fischmesser in der Hand. Er stieß wüste Verwünschungen gegen den Kaiser, gegen den Staat, gegen das Gesetz und sogar gegen Gott aus.

Der Eichmeister Eibenschütz und der Wachtmeister Slama überwältigten ihn endlich. Der Wachtmeister holte diesmal die wirklichen Ketten aus der Diensttasche: brave, biedere Ketten.

So führten sie den Mann nach Zloczow ins Bezirksgefängnis.

Von Szwaby war keine Rede mehr. Immer noch klang in den Ohren des Eichmeisters das sachte Klingeln der Ohrringe der Frau Euphemia.


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