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Seit mehreren Wochen war nun schon der Jadlowker im Hause Kapturaks gesessen. Er konnte es nicht aushalten, er machte also einen Ausflug. Er hatte gedacht, an einem Markttag in Zlotogrod, in der Schenke Litwaks gar, würde er gar keinen Bekannten treffen. Siehe da: es kamen der neue Gendarm und der alte Feind, der Eibenschütz. Das war unbedacht, ja leichtsinnig, durch das Ausspucken Aufmerksamkeit zu erregen.
Er nahm einen sehr umständlichen Weg, um aus dem Wald, in den er geflüchtet war, nach dem Hause Kapturaks zurückzugelangen. Der Frost war stark, zum Glück konnte man sich trauen, über die Sümpfe zu gehen. Er wartete im Walde, bis die Nacht vollends hereingebrochen war. Dann marschierte er südwärts, den ganzen Bogen lang, den die Sümpfe um das Städtchen bildeten. Der Frost war zwar ein Glück, aber man fror entsetzlich. Es stach und es peitschte den ganzen Körper. Im kurzen Pelz, den Jadlowker trug, fror er genauso, als wenn er nur im Hemd gewesen wäre.
Es war schon tiefe Nacht, als er das Haus Kapturaks erreichte. Jetzt begann seine Furcht, die er unterwegs mit aller Gewalt unterdrückt hatte, ihn mit verdoppelter Stärke zu erfüllen: nämlich die Furcht, daß der Gendarm schon auf ihn warten könnte. Er entschloß sich, ganz leise an den Fensterladen zu pochen. Er atmete auf, als er Kapturak heraustreten sah. Kapturak winkte ihn heran. Eine neue Furcht ergriff ihn: konnte man selbst Kapturak trauen? – Wem denn sonst? sagte er sich im nächsten Augenblick, und er ging heran.
Sie traten ein, Kapturak schickte seine Frau hinaus in die Küche. »Setz dich, Jadlowker«, sagte Kapturak. »Was machst du? Willst du dich selbst und mich umbringen? Bist du ein erwachsener Mensch? Bist du ein Junge? Machst du Streiche? Schulbubenstreiche?«
»Ich konnte nicht anders«, sagte Jadlowker.
»Man hat dich wahrscheinlich erkannt«, sagte Kapturak. »Ich habe den Vorfall ja gleich nachher von Litwak erzählt bekommen. Ich wußte sofort, daß du es bist. Ich habe mir natürlich nichts anmerken lassen. Was willst du nun tun?«
Der halberfrorene und ratlose Jadlowker – seine Ohren brannten ganz rot, zu beiden Seiten, rote Lampen – sagte: »Ich weiß nichts!«
»Ich habe beschlossen«, erklärte Kapturak, »dich einzusperren. Besser als im Kerker in Zloczow wirst du es bei mir haben.«
Wo verbirgt man einen gefährdeten Gast? Unerfahrene Leute verbergen ihn im Keller. Und das ist falsch. Wenn eine Hausdurchsuchung kommt, gehen die Gendarmen zuerst in den Keller. Aus einem Keller kann man nicht fliehen. Erfahrene Leute aber sperren einen gefährdeten Gast auf dem Dachboden ein. Dahin kommen die Gendarmen zuletzt. Außerdem hört man alles von oben her besser. Drittens gibt es eine Dachluke. Man hat frische Luft, und man kann rechtzeitig entkommen.
So stieg auch Jadlowker die steile Leiter empor, die zum Dachboden führte. Einen Stuhl und einen Strohsack, eine Flasche Schnaps und einen Krug Wasser bekam er noch.
Kapturak wünschte ihm gute Nacht, versprach, ihm regelmäßig Essen zu bringen, und ging. Aus Vorsicht schob er den Riegel vor, der an der Falltür des Dachbodens angebracht war. Als er die Leiter hinuntergestiegen war, blieb er eine Weile stehen und überlegte. Er überlegte, ob er die Leiter wegnehmen sollte oder nicht. Und er entschloß sich endlich, sie wegzunehmen. Er trug sie in den Hof und lehnte sie an das Dach. Er hatte beschlossen, dem Jadlowker Nahrung nur durch die Dachluke zu reichen.
Auf dem Dachboden war es kalt, kälter noch als in der Zelle, und Jadlowker riß den Strohsack am Kopfende auf und steckte sich ganz in den Sack hinein, und über den Kopf stülpte er den Pelz. Durch die offene Dachluke, die nicht zu schließen war, schimmerte weißblau die frostklare Nacht. Bevor er einschlief, sah er noch die reglosen Fledermäuse, die über ihm ringsum an den Wäscheschnüren ihren Winterschlaf hielten. Zum erstenmal in seinem Leben hatte der wilde Jadlowker Angst. Und aus Angst allein verfiel er in einen tiefen, dennoch unruhigen Schlaf.
Früh am Morgen erwachte er, der bittere Hauch des eisigen Morgens weckte ihn. Er kroch mühsam aus seinem Sack, tat einen Schluck aus der Flasche, zog sich den Pelz an und ging zur Dachluke. Scharen frisch erwachter Krähen zogen ihre Kreise um die Dächer, es sah aus, als flögen sie nur, um sich zu erwärmen. Er sah die rote Sonne aufgehn, sie sah aus wie eine Orange, und bei ihrem Anblick bekam er Hunger. Er wußte, er mußte noch gute zwei Stunden warten, bevor Kapturak mit dem Essen kommen würde. Er horchte nach der Falltür hin, gute zwei Stunden lang beschäftigte ihn nichts anderes als sein Hunger. Es war, als wäre der Hunger eine Angelegenheit des Kopfes und nicht des Magens. Kapturak erschien endlich mit Tee und Brot, aber nicht an der Tür, sondern an der Luke. Alles reichte er sehr langsam hinein, auf dem kurzen Weg, die Leiter hinauf, war der Tee schon kalt geworden, so groß war die Kälte. Jadlowker trank und aß hastig. »Nichts Neues?« fragte er nur. »Noch nicht«, antwortete Kapturak, stieg wieder die Leiter herunter und stellte sie ein bißchen seitwärts.
Nachdem Jadlowker gesättigt war, begannen ihn andere Gedanken und Empfindungen zu beschäftigen. Er dachte plötzlich und ohne zu wissen, warum, an die schönen Karpfen und Hechte, die er auf dem Fischmarkt am Donnerstag immer verkauft hatte. Es beschäftigte ihn der Gedanke, daß er, um sie zu töten, sie am Schwanz gepackt und gegen einen Prellstein gestoßen hatte, und dabei erinnerte er sich daran, daß man Menschen auf die umgekehrte Weise umbringt. Man nimmt einen Stein – es kann auch ein Zuckerhut sein – und stößt ihn gegen den Kopf des Menschen. Seltsame Gedanken kommen einem, wenn man auf einem Dachboden eingesperrt ist. Man denkt daran zum Beispiel, daß man Feinde im Leben hat, und der größte aller Feinde ist der Eichmeister Eibenschütz, der Urheber allen Unglücks, der Liebhaber der Euphemia obendrein. Sameschkin ist auch ihr Liebhaber, aber das gehört in ein anderes Kapitel. Sameschkin hat alte Stammrechte, und außerdem ist er kein Beamter. Und außerdem hat er Jadlowker nicht ins Kriminal gebracht. Wenn der Eibenschütz nicht vorhanden wäre, so könnte man ruhig leben. Im Frühling geht Sameschkin weg. Der Wachtmeister Slama ist versetzt. Wer erkennt den Jadlowker in einem blonden Vollbart? So viele fremde Menschen kommen in diese Gegend! Man heißt ja gar nicht Jadlowker. Man hat schon einmal seinen Namen geändert! Man hat schon Fische beim Schwanz gepackt und mit dem Kopf gegen den Prellstein gehauen. Umgekehrt macht man es mit den Menschen. Man nimmt einen Zuckerhut und schlägt hinterrücks damit auf den Kopf? Aber wo? Aber wann? Eibenschütz ist nicht in der Nacht da, im Hafen von Odessa.
Wenn Eibenschütz nicht wäre, so könnte man ruhig leben. Er ist aber da. Er darf nicht mehr dasein, er darf nicht mehr dasein, denkt Jadlowker. Er darf nicht mehr dasein. Daran denkt er fortwährend. Die Krähen setzen sich manchmal an die Dachluke. Jadlowker wirft ihnen einige Speisereste zu. Er sitzt und friert und wartet auf den Frühling, auf die Freiheit und auf die Rache.
Eines Tages geschah etwas Sonderbares: der staatliche Oberförster Stepaniuk fand im Grenzwald einen erhängten Mann. Er war kalt, starr und blau, als man ihn abschnitt. Der Bezirksarzt Kiniower sagte, er sei schon viele Tage tot, vor einer Woche etwa hätte er sich erhängt. Es war ein unbekannter Mann, und der Gendarm Piotrak verständigte den Untersuchungsrichter. Der kam aus Zlotogrod. Er überführte die Leiche ins dortige Schauhaus. Aus dem ganzen Bezirk wurden die Einwohner, je ein Dutzend, zu bestimmten Tagen vorgeladen, damit sie den Toten agnoszierten. Man hätte sie gar nicht vorzuladen brauchen. Aus Neugier allein strömten sie zusammen. Auch Sameschkin, obwohl er nicht vorgeladen war, weil er nicht zum Bezirk gehörte, ging hin, aus Neugier. Er allein aber erkannte den Toten: es war der Pferdehirt Michael Klajka. Vor zwei Jahren hatte man ihn eingesperrt. Er hatte zu jenen Sträflingen gehört, die man zur Bestattung der Cholerakranken bestimmt hatte. Und es war geschrieben und versiegelt, daß er im Spital an der Cholera verstorben war und an dem und dem Tag bestattet.
Wie? Hatte er sich von den Toten erhoben, um sich dann im Grenzwald zu erhängen? Eine Untersuchung wurde eingeleitet. Auch einige Sträflinge, die man aus dem Gefängnis holte, erkannten den Mitgefangenen, den Michael Klajka. Es dauerte nur eine Woche, und man verhaftete zwei Bezirksschreiber, und sie gaben zu, daß sie bestochen worden waren und falsche Abgangszeugnisse ausgestellt hatten. Sie gestanden auch, daß Kapturak sie bestochen hatte.
Man wartete noch eine Woche. Man verständigte vom Ergebnis der Untersuchung den Gendarmeriewachtmeister Piotrak und den Eichmeister Eibenschütz, und man gab ihnen den Auftrag, weiterhin, wie bisher, mit Kapturak in der Grenzschenke zu verkehren. Sie verkehrten auch weiterhin mit ihm und spielten Tarock. Er fühlte sich ganz sicher. Er wußte nichts von der Verhaftung der beiden Bezirksschreiber, und das Geld, das ihm die Verwandten der totgemachten Sträflinge bezahlt hatten, war längst in Sicherheit, jenseits der Grenze, beim Geldwechsler Piczemk.
Ein paar Tage später, ziemlich früh am Morgen, kurz, nachdem er Jadlowker das Frühstück auf der Leiter hinaufgetragen hatte, hörte er ein wohlbekanntes Klingeln, das Klingeln eines Schlittens. Der Schlitten hielt, das Klingeln zitterte noch eine Weile nach, kein Zweifel, daß der Schlitten vor seinem Tor hielt. Ihm ahnte nichts Gutes, was macht so früh am Morgen ein Schlitten vor seinem Hause? Er öffnete die Fensterladen. Im Schlitten saßen der Gendarm Piotrak und der Eichmeister Eibenschütz. Er hatte gar keine Zeit mehr, die Leiter umzulegen. Er überlegte sehr schnell, daß es besser wäre, sofort hinauszulaufen und die grauenhaften Gäste zu begrüßen. Er lief also hinaus und rief, schon von der Tür her: »Welch eine Überraschung! Welch eine Überraschung!«
Beide stiegen ab und Eibenschütz sagte: »Wir wollten Ihnen einen kurzen Besuch machen. Es ist noch zu früh, Litwak hat noch geschlossen. Wir bleiben nur ein Viertelstündchen bei Ihnen, wenn Sie erlauben, Zeit genug, um einen Schnaps und einen Tee zu trinken. Das haben Sie doch, wie?« – Es war für Kapturak kein Zweifel mehr, daß sie gekommen waren, weil sie ihn verdächtigten, er beherberge jemanden, oder er verberge zumindest etwas Verdächtiges. Er sagte: »Ich gehe den Schnaps holen«, und er verließ das Zimmer und kletterte sehr geschwind die Leiter hinauf. »Sie sind da«, rief er durch die Luke. Hinunter ging er nicht mehr die einzelnen Stufen, er glitt hinunter, mit Händen und Schenkeln an beiden Leisten der Leiter. Er rannte in die Küche, um den Schnaps zu holen. Freudig trat er wieder ins Zimmer mit der Flasche und drei Gläschen.
»Haben Sie einen Keller?« fragte der Gendarm Piotrak.
»Ja«, sagte Kapturak, »aber den Schnaps habe ich nicht aus dem Keller geholt. Es ist zu kalt im Keller.«
»Woher haben Sie ihn sonst geholt?« fragte Piotrak.
»Vom Dachboden«, sagte Kapturak und lächelte. Es war, als hätte er einen Witz gemacht und als entschuldigte er sich zugleich dafür, daß er einen gemacht hatte.
Der rothaarige Gendarm hielt es wirklich für einen Witz und lachte. Kapturak klopfte sich auf die Schenkel und beugte sich vor. Aus Ergebenheit, nicht aus Eitelkeit, lachte er mit. Der Gendarm und der Eichmeister leerten ihre Gläser und standen auf. »Danke für die Bewirtung«, sagten sie wie aus einem Munde. Sie stiegen wieder in den Schlitten, Kapturak begleitete sie. Er sah, daß sie in die Richtung Pozloty dahinglitten.
Als sie seinen Augen entschwunden waren, nahm er die Leiter aus dem Hof und stellte sie wieder in den Hausflur. Er war entschlossen, Jadlowker wegzuschicken, ihm ahnte nichts Gutes. Flink stieg er hinauf und öffnete die Falltür und trat ein. Er sah Jadlowker unruhig hin und her wandeln, zwischen den Stricken, an denen die Fledermäuse hingen. »Setz dich!« sagte Kapturak, »wir müssen reden!« – Jadlowker wußte sofort, worum es sich handelte. »Ich muß also fort«, sagte er, »aber wohin?« – »Wohin, das müssen wir eben überlegen!« erwiderte Kapturak. »Es scheint, daß man dich nicht mehr zu den Toten rechnen will, daher dieser unerwartete Besuch bei mir. Es tut mir leid, ich muß dich wegschicken. Du mußt selbst zugeben, daß ich dich wie ein eigenes Kind behandelt habe, obwohl ich dein Gläubiger bin. Und keinen Pfennig habe ich von dir genommen!« – »Wohin soll ich gehen?« fragte Jadlowker. Er saß jetzt frierend im Pelz auf dem Sessel. Durch die kleine, runde Dachluke, die wie ein Schiffsfenster aussah, stürzte der Frost herein, ein grauer Wolf, ein wütender, ein hungriger grauer Wolf. Es war dunkel, obwohl die Sonne draußen schien. Aber durch die runde Dachluke schickte der eisblaue, unerbittliche Himmel nur spärliches Licht auf den Dachboden. Es herrschte da oben eine Art frostigen blauen Halbdunkels. Beide Männer sahen fahl aus.
Wohin? Wohin? – das war die Frage. »Die anderen alle«, sagte Kapturak, »habe ich befreit und habe sie laufen lassen, wohin sie wollten. Es war vielleicht ein Fehler. Ich hätte sie vielleicht zusammenhalten müssen. Aber mit dir – ich weiß nicht, was da geschehen soll. Ich glaube, es ist am besten, du gehst nach Szwaby zurück, nach Hause. Wer sollte dich dort erkennen? Euphemia wird dich nicht verraten, und Sameschkin ist ein dummer Kopf, er wird dich nicht erkennen. Bleibt noch der Eibenschütz übrig! Allerdings, der Eibenschütz!« – »Was macht man also mit ihm?« fragte Jadlowker. Er erhob sich. Er konnte unmöglich sitzen bleiben, wenn es sich um Eibenschütz handelte.
Kapturak, der die ganze Zeit still gestanden war, begann, auf und ab zu wandeln. Es sah so aus, als wollte er es sich warm machen, aber in Wirklichkeit fror er gar nicht, es war ihm geradezu heiß vor lauter Nachdenken. Lange schon hatte in ihm der Gedanke gelebt, daß es in dieser Welt besser wäre, wenn der Eichmeister Eibenschütz nicht da wäre.
»Der Eibenschütz muß weg«, sagte er – und blieb stehen.
»Wieso?« fragte Jadlowker.
»Zuckerhut!« sagte Kapturak, – nichts anderes. Er blieb eine Weile stehen. Dann sagte er: »Wir fahren hinunter, heute abend. Zuckerhut!« wiederholte er. »Ich hole dich, Jadlowker!«
Bevor er den Dachboden verließ, machte Kapturak noch ein Zeichen mit beiden Händen. Es sah aus, als hielte er einen Zuckerhut in den Händen und als schlüge er ihn auf irgend jemanden nieder. Leibusch Jadlowker nickte.