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Er blieb in dieser Nacht sehr lange in der Grenzschenke, bis zum frühen Morgengrauen, bis zur Stunde, in der der Gemeindepolizist Arbisch kam, um die Deserteure abzuholen. Zum erstenmal seit vielen Wochen war der Himmel an diesem Morgen bewölkt. Die Sonne ging, als Eibenschütz aus dem Tor der Schenke hinausfuhr, rot und klein, einer Orange ähnlich, am Himmel auf. In der Luft roch es schon süß und heiter und naß nach dem längsterwarteten Regen. Ein lindes Windchen wehte Eibenschütz entgegen. Obwohl er die ganze Nacht getrunken hatte, war er frisch und gleichsam gewichtslos. Sehr jung fühlte er sich, und es war ihm, als ob er bis zu dieser Stunde noch gar nichts erlebt hätte, überhaupt gar nichts. Sein Leben sollte erst beginnen. Er war schon etwa eine Stunde gefahren und mitten auf dem Wege nach Hause, als der Regen, sachte zuerst, allmählich immer stärker, zu fallen begann. Ringsum atmete alles nasse, linde Güte. Alles unterwegs schien sich dem Regen willig zu ergeben. Die Linden am Wege neigten ihre Häupter. Die Weidensträucher zu beiden Seiten der gangbaren Pfade im Sumpf von Zubrowka gar schienen sich emporgerichtet zu haben und wollüstig im warmen Gerinn zu erschauern. Fast auf einmal setzte auch der Gesang der Vögel ein, den der Eichmeister so lange schon vermißt hatte. Am lautesten flöteten die Amseln. Seltsam – sagte sich der Eichmeister – und ungewöhnlich war es auch, daß die Vögel mitten durch den Regen pfiffen, zwitscherten und trillerten, wahrscheinlich begrüßten sie ihn – dachte er weiter – ebenso wie ich. Aber wie kommt es überhaupt, daß ich einen Regen begrüße? Was geht mich der Regen an? Ich muß mich stark verändert haben in dieser Gegend! Was geht mich der Regen an? Was kümmern mich die Vögel? Plötzlich, er wußte selbst nicht, warum, zog er die Zügel an, und der Schimmel hielt still. Da sitzt er nun auf dem Bock, der Eichmeister Eibenschütz, der Regen strömt auf ihn herab, der weiche Strohhut schlappt auf seinem Kopf wie ein nasser Lappen. Er hält still im Regen, statt weiterzufahren, wie es sich gehört.
Er kehrt plötzlich um. Er knallt mit der Peitsche. Der Schimmel setzt sich in Galopp. Kaum eine halbe Stunde später ist er wieder in Szwaby. Es regnet immer noch in Strömen.
Eibenschütz läßt sich ein Zimmer im Gasthof geben. Er erzählt Onufrij, daß unterwegs der Boden zu aufgeweicht sei und daß kein Mensch weiterfahren könne. So möchte er lieber hier den Regen überschlafen. Man gibt ihm ein Zimmer. Er schläft leicht und traumlos und erwacht erst am Abend.
Längst hat der Regen aufgehört. Das Laub an den Bäumen vor den Fenstern ist trocken. Die Steine im Hof der Schenke sind trocken, die Sonne ist just im Begriff, im vollen Glanz unterzugehen. Der Himmel ist wolkenlos.
Der Eichmeister geht in die Wirtsstube.
Er wartet auf Euphemia, sie kommt nicht. Er sitzt da, den Kopf in die Hände gestützt. Er weiß auch gar nicht recht, was er hier soll. Durch den Lärm, den die anderen Gäste verursachen, hört er das unerbittliche, harte Ticken der Wanduhr. Allmählich beginnt er zu glauben, daß er nicht freiwillig hierhergekommen ist, sondern daß ihn irgend jemand hierhergebracht hat. Er erinnert sich nur nicht, wer es gewesen ist, er weiß auch nicht, wer es gewesen sein kann.
Die Tür geht auf, man merkt es am Windzug, Kapturak tritt ein. Er geht geradewegs an den Tisch des Eichmeisters. »Eine Partie?« fragt er. –
»Gut, spielen wir.«
Man spielt eine Partie Tarock, eine zweite und eine dritte. Man wartet vergeblich auf Euphemia. Man verliert alle drei Partien.
Verloren ist auch der Tag, verloren ist auch die Nacht. Man weiß nicht, was man machen soll. Man spricht kein Wort, auch nicht zu Kapturak. Man wartet auf Euphemia. Sie kommt nicht.
Gegen drei Uhr nachts begann ein Deserteur, Ziehharmonika zu spielen. Er spielte das Lied: »Ja lubyl tibia« – und alle begannen zu weinen. Sie weinten nach der Heimat, die sie eben selbst aufgegeben hatten. Sie hatten mehr Sehnsucht nach der Heimat in diesem Augenblick als Sehnsucht nach der Freiheit.
Allen standen Tränen in den Augen. Trocken blieben nur die Augen Kapturaks. Auch eine Ziehharmonika konnte ihn nicht rühren. Er selbst brachte die Deserteure über die Grenze. Er lebte davon. Er lebte von dem Heimweh der Deserteure, von ihrer Sehnsucht nach der Freiheit.
Selbst der Eichmeister Eibenschütz wurde wehmütig. Er lauschte der Melodie: »Ja lubyl tibia« – und er fühlte seine Augen feucht werden. Kapturak fragte, fast in dem Augenblick, in dem die Ziehharmonika zu spielen anfing, ob Eibenschütz nicht eine neue Partie spielen wollte. – »Ja«, sagte Eibenschütz, »warum nicht?« Und sie spielten die vierte Partie Tarock. Eibenschütz verlor wieder.
Der Morgen graute schon, als Eibenschütz aufstand. Er ging die Treppe hinauf und mußte sich mit beiden Händen am Geländer festhalten.
Er torkelte in sein Zimmer. In den Kleidern legte er sich aufs Bett, so wie einst während der Manöver. Er schlief traumlos und ganz ruhig. Das erste Vogelgezwitscher weckte ihn. Er erhob sich sofort, zugleich auch wußte er, wo er sich befand: in der Grenzschenke, und er verwunderte sich darüber keineswegs.
Er hatte keinerlei Zeug sich zu waschen. Er konnte sich nicht rasieren. Es bekümmerte ihn. Er kam sich beschmutzt und auch verletzt vor. Dennoch ging er hinunter.
Der kräftige Sommermorgen strömte heftig durch die geöffneten Fenster. Auf dem Fußboden schliefen noch die Deserteure. Auch die Morgensonne vermochte nicht, sie zu wecken, und nicht der schmetternde Gesang der morgendlichen Amseln.
Mitten zwischen schlafenden Deserteuren, die zu seinen Füßen lagen, saß der Eichmeister Eibenschütz und trank Tee.
Onufrij bediente ihn. »Wo ist Euphemia?« fragte der Eichmeister. »Ich weiß nicht«, sagte Onufrij. »Ich möchte sie sehen«, sagte Eibenschütz. »Ich habe ihr etwas Wichtiges zu sagen.«
»Gut«, sagte Onufrij – und Eibenschütz blieb sitzen. Sie kam auch bald, Euphemia. Er schämte sich vor ihr, ungewaschen, wie er war, und mit dem Bart von gestern.
»Ich habe die ganze Nacht auf Sie gewartet«, sagte er.
»Nun werden Sie mich ja sehen können!« antwortete sie. »Sie bleiben ja hier?«
Er hatte gar nicht gewußt, daß er hierhergekommen war, um hierzubleiben. Wie einfach war das. Natürlich! Was hatte er denn zu Hause zu suchen? »Ja, ja«, sagte er zur offenen Tür hinaus in den jungen Morgen. Die Männer auf dem Boden erwachten langsam. Sie hockten noch eine Weile stumpf da, dann rieben sie sich die Augen, dann erst schienen sie zu merken, daß es Morgen war. Sie erhoben sich und gingen, einer nach dem anderen, hinaus in den Hof zum Brunnen, um sich zu waschen.
Eibenschütz blieb allein mit Euphemia in der großen Schankstube, die sich plötzlich geweitet hatte. Es war, als dehnte sie der Morgen immer weiter aus. Es roch nach dem Morgen und auch nach dem Gestern, nach den Kleidern und dem Schlaf der Männer und nach Branntwein und Met und auch nach Sommer und auch nach Euphemia. Alle Gerüche stürmten jetzt auf den armen Eibenschütz ein. Sie verwirrten ihn, und er unterschied sie doch genau.
Gar vieles, sehr vieles ging in seinem Kopf durcheinander. Er begriff, daß er nichts mehr Vernünftiges sagen könnte, und er mußte doch etwas tun, und Euphemia saß neben ihm. Er umfing sie plötzlich und küßte sie herzhaft und heftig. Dann, als die Männer vom Brunnen sich wieder der Tür näherten, sagte er, schlicht und redlich: »Ich liebe dich!«, und schnell stand er auf. Er ließ einspannen. Er fuhr heim, seine Sachen holen.