Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Joseph Roth

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XXXIX

Am Abend fuhren sie im Schlitten hinaus, nach Szwaby, Kapturak und Jadlowker. Jadlowker hüllte sich in einen Schafspelz mit hohem Kragen, damit man ihn nicht erkenne.

Es war bereits finstere Nacht, als sie ankamen und durch das breite, offene Tor der Grenzschenke hineinfuhren. Jadlowker pochte an die Hintertür, das hochgewölbte, rot angestrichene Tor, das zur Landstraße führte. Kapturak ging geradewegs in die Schenke.

Es gab wenig Gäste heute, es war Dienstag. Es dauerte lange, ehe Onufrij das Pochen hörte und hinausging, um das rückwärtige Tor zu öffnen.

»Ich bin es«, sagte Jadlowker, »laß mich schnell hinein. Ist der Gendarm da?«

»Komm, Herr«, sagte Onufrij, der gar nicht wußte, daß Leibusch Jadlowker zu den Toten gehörte. »Bist du aus dem Kriminal entkommen?«

»Ja, mach schnell!« sagte Jadlowker, und dann, als sie an die Laterne kamen: »Erkennt man mich?«

»Nur an der Stimme, Herr!« sagte Onufrij.

»Wo ist Euphemia?« fragte Jadlowker.

»Noch im Laden!« flüsterte Onufrij. »Und vor dem Laden steht Sameschkin mit den Kastanien.«

»Es ist gut«, sagte Jadlowker. »Geh hinein!«

Der Hund, Pavel hieß er, sah Jadlowker entgegen, mit freudig schnuppernder, erhobener Schnauze und wedelndem Schwanz. »Bell nicht! Schrei nicht!« flüsterte ihm Jadlowker zu. Der Hund sprang still und schweigsam an ihm hoch und leckte ihm die Hände.

Jadlowker sah zuerst durch die Fenster, die in den Hof gingen. Die Schenke war beinahe leer. Er hatte nicht vergessen, unterwegs aus dem Schlitten zu steigen, als sie, Kapturak und er, an der gefrorenen Struminka vorbeifuhren, und einen der kantigen, großen Steine auszugraben, aus dem Schnee, deren es dort eine Unzahl gab. Diesen Stein band er ins Taschentuch.

Er ging vom Fenster zurück, lauerte vor dem Tor. Eine ungeheuerliche, unwiderstehliche Lust erfüllte ihn, zu töten. Er dachte gar nicht mehr an den eigentlichen Zweck seines Mordens, sondern nur an das Morden selbst. Er dachte gar nicht an seine eigene Sicherheit, sondern nur an das Töten. Eine große Welle von Wollust, von Haß und Tötenwollen ging durch sein Herz. Erbarmungslos war alles in dieser Nacht und in dieser Welt. Fremd, kalt und silbern, in einem frostigen, nahezu gehässigen Silber standen heute die Sterne am Himmel. Von Zeit zu Zeit sah Jadlowker empor. Heute haßte er den Himmel und die Sterne. Und im Kerker hatte er sich so nach ihnen gesehnt!

Warum haßte er heute den Himmel, der Jadlowker? Glaubt er, daß Gott oben sitzt, hinter den Sternen? Vielleicht glaubt er es, aber er will es sich nicht zugeben. Immer wieder, immer wieder sagt eine Stimme in ihm: Gott ist da. Gott sieht dich. Gott weiß, was du vorhast. Aber eine andere Stimme in ihm antwortet: Gott ist nicht da, der Himmel ist leer, und die Sterne sind kalt und fern und grausam, und du darfst machen, was du willst.

Also wartet Jadlowker auf das bekannte Schlittengeklingel des verhaßten Eibenschütz. Das Taschentuch, in dem der Stein eingewickelt liegt, hat er mit den Zipfeln um sein Handgelenk gebunden; um das rechte Handgelenk. Er wartet. Eibenschütz wird kommen.

XL

Eine halbe Stunde später kam Eibenschütz wirklich, leider in Begleitung des Gendarmen Piotrak. Jadlowker, der gedacht hatte, der Eichmeister würde allein kommen, sah bereits, daß er nichts auszurichten hatte. Vorerst verbarg er sich im Schatten der Scheune, die am Rande des Hofes gegenüber dem Tor stand, und wartete. Als er sah, daß der Eichmeister den Gendarmen vorausgehen ließ und daß er selbst den Schimmel ausspannte, erbebte sein Herz in wonniger, mörderischer Hoffnung. Bald danach näherte sich auch der Eichmeister dem Stall, um den Schimmel anzubinden an den großen, eisernen Ring, der an der Stalltür angebracht war.

Während Eibenschütz den Schimmel anband, stürzte Jadlowker aus dem Stall hervor. Eibenschütz wollte noch einen Schrei ausstoßen, aber er sank sofort nieder, der Schrei erstarb in der Kehle. Jadlowker schlug mit dem Taschentuch, in dem der kantige Stein eingebettet war, gegen die Stirn seines Feindes, des Eichmeisters. Eibenschütz fiel mit gewaltigem, erschreckendem Krach zu Boden. Er war ein schwerer Mann, für so schwer hätte ihn Jadlowker niemals gehalten. Der Schimmel war noch nicht genügend festgekoppelt gewesen, die Schlinge löste sich, und der Gaul begann durch den Hof zu wandern, mit schleifenden Zügeln. Jadlowker beugte sich zuerst über den Eichmeister Eibenschütz. Kalt und tot war er, keinen Atemzug gab er von sich. Dann faßte Jadlowker den Schimmel und koppelte ihn fest an den eisernen Ring der Scheunentür. Hierauf kroch er in die Scheune.

Zwei Stunden später erst kam der Wachtmeister Piotrak hinaus, um nach Eibenschütz zu sehen. Vor der Scheune fand er den Eichmeister anscheinend leblos, und der Gendarm rief den Knecht Onufrij, und sie beide schleppten den schweren Kadaver bis zum Schlitten. Onufrij holte Stricke, man schnallte den unbeweglichen Mann fest. Quer lag er über dem winzigen Schlitten. Man spannte den Schimmel an, der Gendarm nahm die Zügel. Man fuhr nach Zlotogrod, geradewegs ins Krankenhaus.

Der Wachtmeister Piotrak glaubte zwar, er führe einen Toten; den Eichmeister, den er so neben dem Stall und der Scheune getroffen hatte, hätte der Schlag plötzlich getroffen. Aber dem war nicht so. Der Eichmeister begann zwar zu sterben, aber er lebte noch. Was weiß er davon, der arme Eibenschütz, daß man ihn auf den Kopf mit einem Stein geschlagen hat? Was weiß er davon, daß er mit Stricken auf einen Schlitten gebunden ist? Er erlebt, während man ihn für einen Toten hält, etwas ganz anderes:

Er ist kein Eichmeister mehr, er ist selbst ein Händler. Lauter falsche Gewichte hat er, tausend, zehntausend falsche Gewichte. Er steht da, hinter einem Ladentisch, die falschen zehntausend Gewichte vor sich. Der Ladentisch kann sie gar nicht alle fassen. Und jeden Moment kann der Eichmeister kommen.

Auf einmal klingelt es auch – die Tür hat eine Glocke –, und herein kommt der große Eichmeister, der größte aller Eichmeister – so scheint es Eibenschütz. Der große Eichmeister sieht ein bißchen aus wie der Jude Mendel Singer und ein wenig auch wie Sameschkin. Eibenschütz sagt: »Ich kenne Sie ja!« Aber der große Eichmeister antwortet: »Es ist mir ganz gleich. Dienst ist Dienst! Wir prüfen jetzt Ihre Gewichte!«

Gut, mögen sie jetzt die Gewichte prüfen, sagt sich der Eichmeister Eibenschütz. Falsch sind sie, aber was kann ich dagegen machen? Ich bin ein Händler wie alle Händler in Zlotogrod. Ich verkaufe nach falschen Gewichten.

Hinter dem großen Eichmeister steht ein Gendarm mit Helmbusch und Bajonett, und den kennt Eibenschütz gar nicht. Er fürchtet sich aber vor ihm, das Bajonett funkelt zu sehr. Der große Eichmeister beginnt, die Gewichte zu prüfen. Schließlich sagt er – und Eibenschütz ist höchst erstaunt: »Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen! Wir glauben, daß alle deine Gewichte richtig sind. Ich bin der Große Eichmeister.«

In diesem Augenblick erreichte der Gendarm das Spital von Zlotogrod. Man lud den Eichmeister ab, und als der wachhabende Arzt ankam, sagte er nach einem Augenblick zum Gendarmen Piotrak: »Der Mann ist tot! Was bringen Sie ihn noch her?«


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