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Wenn der erste Anblick, der sich ihm darbietet, ein trauriger ist, so ist gleichwol die erste Wirkung desselben auf ihn ein freudiges Gefühl. Indem er sich bewußt wird, von wie vielen Nebeln er frei ist, fühlt er sich glücklicher als er zu sein meinte. Er nimmt an den Leiden seiner Mitmenschen Antheil, allein diese Theilnahme ist freiwillig und süß. Er hat einen doppelten Genuß: mit dem angenehmen Gefühl, Mitleid mit den Leiden Anderer zu empfinden, verbindet er gleichzeitig die Freude, sich von denselben frei zu wissen. Er fühlt sich auf jenem Höhepunkte der Kraft, wo sich dieselbe nicht an ihrem Wirkungskreise in uns genügen läßt, sondern uns anspornt, die Thätigkeit, welche nicht von unserm eigenen Wohlsein in Anspruch genommen wird, nach Außen hin zu richten. Um fremdes Leid bedauern zu können, muß man es allerdings kennen, braucht es jedoch nicht zu fühlen. Hat man gelitten oder hegt man Besorgniß leiden zu müssen, so bedauert man diejenigen, welche leiden; so lange man indeß selbst leidet, bedauert man nur sich. Da wir nun Alle den Leiden des Lebens unterworfen sind und Jeder den Anderen nur so viel Theilnahme schenkt, als er für sich selbst gerade nicht bedarf, so ergibt sich daraus, daß das Mitleid ein außerordentlich süßes Gefühl sein muß, da es in beredter Weise unserer Ueberzeugung, daß wir uns in einer günstigeren Lage befinden, Ausdruck verleiht, und daß dagegen ein harter Mensch stets unglücklich sein wird, weil sein Herz so vollauf mit sich selbst beschäftigt ist, daß ihm kein Überschuß von Theilnahme übrig bleibt, welchen er den Leiden Anderer widmen könnte.
Wir lassen uns in unserem Urtheile über das Glück leider in zu hohem Grade von dem äußeren Scheine leiten. Wir verlegen es in unserem Geiste dorthin, wo es am wenigsten zu finden ist, wir suchen es, wo es nimmer eine Stätte finden kann; Fröhlichkeit ist nur ein höchst zweideutiges Zeichen derselben. Häufig verbirgt sich unter einer heiteren Außenseite nur ein Unglücklicher, der Andere zu täuschen und sich selbst zu betäuben sucht. Solche Leute, die in Gesellschaft so lustig, so zugänglich, so heiter sind, zeigen daheim fast Alle ein finsteres und mürrisches Wesen und an ihren Dienstleuten lassen sie ihren Aerger über die Mühe aus, welche ihnen das ihren Gesellschaften bereitete Vergnügen gekostet hat. Die wahre Zufriedenheit ist weder lustig noch ausgelassen; eifersüchtig auf ein so süßes Gefühl, sucht man es recht zu genießen und bleibt sich desselben auch beim Genüsse stets bewußt; man ist besorgt, es könnte entfliehen. Ein wahrhaft glücklicher Mensch spricht und lacht wenig; er verschließt sein Glück gleichsam in seinem Herzen. Rauschende Spiele, ausgelassene Freude bergen Ekel und Ueberdruß in sich. Melancholie dagegen ist die Freundin einer reinen Freude. Rührung und Thränen begleiten die süßesten Genüsse und selbst der höchste Grad des Entzückens entlockt uns eher Thränen als Lachen.
Wenn es auch Anfangs den Anschein hat, als ob die Menge und Mannigfaltigkeit der Lustbarkeiten zum Glücke beitrüge, die Einförmigkeit eines geregelten und gleichmäßigen Lebens dagegen Langeweile hervorrufen müßte, so findet man gleichwol bei näherer Betrachtung, daß der süßeste Seelenzustand auf einem Maßhalten im Genusse beruht, welches weder Begierde noch Ueberdruß entstehen läßt. Die Unruhe der Begierden stachelt zu immer neuen Genüssen an, ruft Unbeständigkeit hervor, die Leere rauschender Vergnügungen erzeugt Langeweile. Wir werden unsern Zustand jedoch niemals langweilig finden, so lange wir keinen angenehmeren kennen. Von allen Menschen in der ganzen Welt tragen die Wilden am wenigsten Verlangen nach neuen Genüssen und fühlen sich am wenigsten gelangweilt. Alles ist ihnen gleichgiltig. Sie suchen ihren Genuß nicht in den Dingen, sondern in sich selbst. Sie verbringen ihr Leben mit Nichtsthun und langweilen sich dabei nie.
Der Weltmann erscheint immer in fremder Maske. Da sich seine Gedanken fast nie mit ihm selbst beschäftigen, so ist er sich stets fremd und fühlt sich unangenehm berührt, sobald er zur Einkehr in sich gezwungen ist. Was er ist, bedeutet in seinen Augen nichts, der Schein gilt ihm Alles.
Es ist mir nicht möglich, mir jenen jungen Mann, von dem ich oben sprach, anders als mit einem gewissen frechen, süßlichen und affectirten Zuge im Gesichte vorzustellen, welcher Mißfallen erregen und schlichte Leute abstoßen muß. Mein Zögling dagegen zeichnet sich nach meiner Vorstellung durch ein interessantes und einfaches Antlitz aus, auf welchem sich innere Zufriedenheit und wahre Heiterkeit der Seele abspiegelt, welches Achtung und Vertrauen einflößt und nur auf den Erguß der Freundschaft zu warten scheint, um denen, die ihm nahe treten, die seinige zu schenken. Man wähnt, daß die Gesichtsbildung nichts als die Entwickelung der von der Natur schon von Anbeginn an vorgezeichneten Züge sei. Ich dagegen bin der Ansicht, daß außer dieser Entwickelung die Gesichtszüge eines Menschen sich noch durch die wiederholentliche und gewohnheitsmäßige Einwirkung gewisser Seelenzustände unmerklich herausbilden und dadurch erst eine bestimmte Physiognomie annehmen. Nichts ist gewisser, als daß sich diese Seelenzustände auf dem Gesichte abspiegeln, und sobald sie zur Gewohnheit geworden sind, bleibende Eindrücke auf demselben zurücklassen müssen. Hierin liegt die Berechtigung für meine Behauptung, daß die Physiognomie den Charakter zu erkennen gibt und daß man bisweilen von dem Einen auf das Andere schließen kann, ohne erst geheimnißvolle Erklärungen zu Hilfe zu nehmen, welche Kenntnisse voraussetzen, die wir nicht besitzen.
Ein Kind hat nur zwei deutlich ausgeprägte Seelenzustände: Freude und Schmerz; es lacht oder weint; die dazwischen liegenden Abstufungen kennt es nicht. Unaufhörlich geht es von einer dieser Erregungen zur andern über. Dieser beständige Wechsel tritt der Bildung eines bleibenden Eindrucks auf seinem Gesichte und dadurch der Ausprägung einer bestimmten Physiognomie hinderlich entgegen. In dem Alter dagegen, wo es für Eindrücke empfänglicher geworden ist und lebhafter und dauernder erregt wird, lassen die tieferen Eindrücke auch schwerer zu verwischende Spuren zurück, und seinem gewohnten Seelenzustande verdanken seine Gesichtszüge einen Charakter, welchen die Zeit unauslöschbar macht. Man kann indeß gar nicht selten die Beobachtung machen, daß Menschen auf verschiedenen Altersstufen ihren Gesichtsausdruck ändern. Ich selbst habe mehrfach diese Erfahrung gemacht, und mich, wenigstens bei denjenigen, die ich genau beobachten und verfolgen konnte, stets überzeugt, daß dann auch in ihren gewohnten Neigungen ein Wechsel eingetreten war. Schon diese Beobachtung allein scheint mir, wenn sie hinreichende Bestätigung findet, entscheidend und in einer Abhandlung über Erziehung, wo es darauf ankommt, sich ein richtiges Urtheil über die Vorgänge in der Seele nach den äußeren Kennzeichen zu bilden, nicht am unrechten Orte zu sein.
Ich weiß nicht, ob der von mir erzogene junge Mann deshalb weniger liebenswürdig sein wird, weil er die Kunst nicht erlernt hat, herkömmliche Manieren nachzuahmen und Gefühle zu heucheln, die er nicht hat. Aber darum handelt es sich hier auch gar nicht. Ich weiß nur, daß er liebreicher sein wird, und es kommt mir schwer an, zu glauben, daß derjenige, der nur sich liebt, sich in so hohem Grade sollte verstellen können, daß er einen eben so angenehmen Eindruck hervorbrächte wie derjenige, welcher in seiner Liebe zu Anderen nur eine Steigerung des Gefühls seines Glückes findet. Was aber dies Gefühl selbst anlangt, so denke ich mich darüber hinreichend ausgesprochen zu haben, um die Aufmerksamkeit eines verständigen Lesers auf diesen Punkt zu richten und den Beweis zu liefern, daß ich mir nicht widersprochen habe.
Ich komme also auf meine Methode zurück und sage: Wenn das kritische Alter herannaht, so lasset die jungen Leute nur solche Dinge sehen, die geeignet sind, sie zurückzuhalten, nicht aber solche, die aufregend auf sie wirken. Gebt ihrer Einbildungskraft keine Nahrung und beschäftigt sie deshalb nur mit Dingen, die die Sinnlichkeit nicht entflammen, sondern die Thätigkeit derselben zurückhalten. Entfernt sie aus den großen Städten, wo der Putz und die unzüchtige Aufdringlichkeit der Frauen die Unterweisungen der Natur beschleunigt und ihnen zuvorkommt, wo Alles ihren Augen Vergnügungen ausmalt, die sie nicht eher kennen lernen sollen, als bis sie im Stande sind, eine richtige Auswahl unter ihnen zu treffen. Bringt sie in ihre früheste Heimat zurück, wo die ländliche Einfachheit eine weniger schnelle Entwicklung der Leidenschaften ihres Alters zuläßt. Sollte sie jedoch ihre Liebe zu den Künsten auch ferner an die Stadt fesseln, so wendet diese Liebe als Mittel an, sie von einem gefährlichen Müßiggange fern zu halten. Verwendet die größte Sorgfalt auf die Wahl ihres Gesellschaftskreises, ihrer Beschäftigungen und Vergnügungen. Laßt sie nur den Anblick rührender, aber züchtiger Bilder genießen, welche sie ergreifen, ohne sie zu verführen, welche ihr Gefühl anfachen, ohne ihre Sinnlichkeit aufzuregen. Bedenket übrigens, daß überall Uebertreibungen zu befürchten sind, und daß maßlose Gemüthserregungen stets mehr Unheil stiften, als man dadurch zu verhüten vermag. Es handelt sich nicht darum, aus eurem Zögling einen Krankenwärter, einen barmherzigen Bruder zu machen, seine Augen durch den fortwährenden Anblick von Leiden und Schmerzen zu verletzen, ihn von Krankenbett zu Krankenbett, von Hospital zu Hospital, vom Richtplatz in die Gefängnisse zu schleppen. Der Anblick des menschlichen Elends soll einen wohlthätigen Einfluß auf ihn ausüben, ihn aber nicht verhärten. Tritt uns lange Zeit immer nur derselbe Anblick entgegen, so werden wir endlich gegen die Eindrücke desselben unempfindlich. Mit der Zeit gewöhnt man sich an Alles. Ein zu häufig wiederkehrender Anblick beschäftigt unsere Einbildungskraft nicht mehr, und doch ist diese es allein, welche uns fremdes Leid mitfühlen läßt. In Folge ihrer öfteren Anwesenheit bei dem Todeskampfe und den Leiden Anderer verlieren Geistliche und Aerzte allmählich alles Mitgefühl. Euer Zögling lerne deshalb das menschliche Loos und das Elend seiner Mitmenschen kennen, aber er darf nicht allzu oft Zeuge desselben sein. Ein einziger Gegenstand wird, wenn er gut gewählt ist und ihm in dem rechten Augenblicke gezeigt wird, ihn einen Monat lang aufregen und zu ernsten Betrachtungen veranlassen. Nicht sowol der gehabte Anblick selbst, als vielmehr die Rückerinnerung an das, was er gesehen hat, liegt dem Urtheile zu Grunde, welches er darüber fällt, und den bleibenden Eindruck, den er von einem Gegenstände empfängt, verdankt er weniger dem Gegenstande selbst, als dem Gesichtspunkte, unter welchem er Veranlassung, findet, sich desselben zu erinnern. So werdet ihr, wenn ihr euch auf wenige Beispiele, Lehren und Bilder beschränkt, den Stachel der Sinnlichkeit auf lange Zeit abstumpfen, und dadurch, daß ihr der von der Natur selbst eingeschlagenen Richtung folgt, sie von allen Irrwegen ablenken.
Nach Maßgabe der Einsichten, welche sich euer Zögling erworben hat, wählt nun auch solche Begriffe aus, welche sich auf dieselben beziehen, und in dem Maße, als sich seine Begierden entzünden, wählt Bilder, die geeignet sind, sie niederzuhalten. Ein alter Soldat, der sich in gleich hohem Grade durch die Reinheit seines Wandels wie durch seinen Muth auszeichnete, erzählte mir einst, wie sein Vater, ein sehr verständiger, aber auch sehr frommer Mann, als er die Wahrnehmung gemacht habe, daß ihn, den Sohn, schon frühzeitig seine Neigung zu den Frauen hinziehe, nichts unversucht gelassen habe, um dieselbe zu unterdrücken. Als sich jedoch der Vater nicht mehr habe verhehlen können, daß der Sohn aller aufgebotenen Sorgfalt ungeachtet Miene mache, sich der väterlichen Überwachung gänzlich zu entziehen, sei er auf den Einfall gerathen, ihn in ein Hospital für Syphilitische zu führen. Ohne ihn vorher davon in Kenntniß zu setzen, habe er ihn in einen Saal eintreten lassen, in welchem eine große Anzahl dieser Unglücklichen unter einer mit furchtbaren Schmerzen verbundenen Kur für den ausschweifenden Lebenswandel, der sie hierher geführt, habe büßen müssen. Bei diesem gräßlichen Anblicke, der alle Sinne zu gleicher Zeit aufgeregt, sei der junge Mensch beinahe unwohl geworden. »Geh, elender Wüstling,« habe ihm darauf der Vater in heftigem Tone zugerufen, »folge der verächtlichen Neigung, die dich fortreißt; bald wirst du dich nur allzu glücklich fühlen, in diesem Saale Aufnahme zu finden, wo du, ein Opfer der schimpflichsten Schmerzen, deinen Vater zwingen wirst, Gott für deinen Tod zu danken.«
Diese wenigen Worte im Vereine mit dem ergreifenden Gemälde, welches sich vor den Augen des jungen Mannes entrollte, machten einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn. Durch seinen Stand dazu verurtheilt, seine Jugend in Garnisonstädten zu verleben, ertrug er lieber alle Spöttereien seiner Kameraden, als daß er sich dazu verstanden hätte, ihre Ausschweifungen nachzuahmen. »Ich bin auch ein Mensch gewesen,« sagte er zu mir, »und habe meine Schwächen gehabt, aber bis in mein jetziges Alter habe ich nie eine öffentliche Dirne ohne Grausen anzusehen vermocht.« Lehrer, wenige Worte, lerne aber Ort, Zeit und Personen wählen; und ferner gehe bei all deinem Unterrichte von Beispielen aus, dann kannst du des Erfolges sicher sein.
Auf die Anwendung des Kindesalters kommt nicht viel an. Fehler, die sich während desselben einschleichen, lassen sich noch heilen, und das Gute, zu dem vielleicht der Keim gelegt wird, kann auch später nachgeholt werden. Anders verhält es sich aber mit der ersten Periode des Jünglingsalters, in der der Mensch erst eigentlich zu leben beginnt. Mit Rücksicht auf die Anwendung, die man von diesem Alter machen soll, darf man wol behaupten, daß es nie lange genug dauere, und daß seine Wichtigkeit eine ununterbrochene Aufmerksamkeit erheische. Deshalb lege ich ein ganz besonderes Gewicht auf die Kunst, es zu verlängern. Eine der besten Vorschriften in Bezug auf die richtige Anwendung desselben ist, Alles so viel als möglich zu verzögern. Richtet es so ein, daß alle Fortschritte langsam und sicher seien. Verhindert, daß der Jüngling in dem Augenblicke Mann werde, wo ihm seinerseits nichts mehr zu thun übrig bleibt, um es zu werden. So lange der Körper noch im Wachsthume begriffen ist, werden auch die Lebensgeister, welche die Bestimmung haben, dem Blute Balsam und den Fibern Kraft zu verleihen, gebildet und bereitet. Wenn ihr sie aber veranlaßt, eine andere Richtung zu nehmen, wenn das, was zur völligen Ausbildung eines Individuums bestimmt ist, zur Bildung eines anderen dienen muß, dann werden alle Beide dem Zustande der Schwäche verfallen, und das Werk der Natur bleibt unvollkommen. Auch die Geistesthätigkeiten leiden unter dieser Vergeudung der Lebenssäfte, und die Seele, welche die Kraftlosigkeit des Körpers theilt, zeigt sich in ihren Verrichtungen schwach und matt. Große und kräftige Glieder bringen eben freilich weder Muth noch Genie; ich begreife recht wohl, daß die Seelenstärke nicht die Begleiterin der Körperkraft sein kann, wenn die Organe, auf denen die Vereinigung der Seele und des Leibes beruht, im Uebrigen von schlechter Beschaffenheit sind. Wie gut sie indeß auch immer beschaffen sein mögen, so werden sie doch stets nur eine schwache Thätigkeit auszuüben vermögen, wenn sie ihre Kraft nur aus einem erschöpften, verarmten Blute ergänzen können, dem gerade jene Substanz fehlt, welche allen Federn der Maschine Kraft und Bewegung verleiht. Im Allgemeinen bemerkt man bei Männern, die in ihren Jünglingsjahren vor einer frühzeitigen Verderbniß behütet worden sind, mehr Seelenstärke als bei solchen, bei welchen ein ausschweifendes Leben schon in dem Augenblicke begann, wo sie sich befähigt fanden, sich demselben zu überlassen. Hierin liegt auch ohne Zweifel einer der Gründe, weshalb die Völker, welche sich durch Reinheit der Sitten auszeichnen, gewöhnlich solche, welche lockere Sitten haben, an gesunder Vernunft und an Muth übertreffen. Letztere glänzen einzig und allein durch gewisse kleinliche, den Charakter der Verschmitztheit an sich tragende Eigenschaften, die sie Witz, Scharfsinn, Feinheit nennen; aber jene großen und edelen Erweisungen der Weisheit und Vernunft, die den Menschen durch schöne Handlungen, durch Tugenden und durch wahrhaft nützliche Bestrebungen auszeichnen und ehren, finden sich sicherlich nur bei den Ersteren.
Die Lehrer pflegen die Klage zu erheben, daß das diesem Alter eigene Feuer die Jugend unlenksam mache, und ich habe mich durch den Augenschein davon überführt. Aber liegt die Schuld nicht in ihnen selbst? Sollten sie nicht wissen, daß man diesem Feuer, sobald es einmal die Sinnlichkeit in Flammen gesetzt hat, niemals eine andere Richtung zu geben vermag? Werden etwa die langen und frostigen Predigten eines Pedanten in dem Geiste seines Zöglings das Bild der Freuden, die er genossen hat, wieder verwischen? Werden sie aus seinem Herzen die Lüste verbannen, die es quälen? Werden sie die Glut einer Sinnlichkeit ersticken, deren Anwendung ihm schon bekannt ist? Wird sich nicht sein ganzer Zorn gegen die Hindernisse kehren, welche sich dem einzigen Glücke, von dem er eine Vorstellung hat, entgegenstellen? Und was wird er in dem harten Gesetze, welches man ihm vorschreibt, ohne es ihm gleichzeitig zum Verständniß bringen zu können, anders erblicken, als die Laune und den Haß eines Mannes, der darauf ausgeht, ihn zu peinigen? Ist es so seltsam, daß er sich dagegen auflehnt und ihn nun von ganzem Herzen haßt?
Ich sehe sehr wohl ein, daß man sich durch Nachsicht weniger widerwärtig machen und eine scheinbare Autorität bewahren kann. Aber mir fehlt völlig das Verständniß, welchen Nutzen eine Autorität schafft, welche man über seinen Zögling nur dadurch zu bewahren vermag, daß man die Laster, die sie unterdrücken sollte, groß zieht? Das ist genau dasselbe, als wenn ein Reiter ein unbändiges Roß, um es zu bändigen, in einen Abgrund springen ließe.
Weit davon entfernt, daß dieses jugendliche Feuer ein Hinderniß der Erziehung sei, trägt es vielmehr zur Vollendung und Beendigung derselben bei; es verleiht euch Gewalt über das Herz eines Jünglings, sobald er aufhört weniger stark zu sein als ihr. Die ersten Aeußerungen seiner Leidenschaft bilden die Zügel, an denen ihr alle seine Regungen zu lenken vermögt; er war frei, jetzt aber sehe ich ihn unterworfen. So lange er noch nichts liebte, hing er nur von sich selbst und seinen Bedürfnissen ab; sobald er jedoch liebt, ist er von den Gegenständen seiner Liebe abhängig. Auf diese Weise bilden sich die ersten Bande, die ihn an das menschliche Geschlecht fesseln. Gebet euch indeß, wenn ihr euch bemüht, seine erwachende Liebe auf dasselbe zu lenken, nicht dem Wahne hin, als ob sie sofort alle Menschen umfassen und der Ausdruck »Menschengeschlecht« irgend eine Bedeutung für ihn haben werde. Nein, diese Liebe wird sich anfänglich auf seines Gleichen beschränken, und als seines Gleichen wird er nicht Unbekannte, sondern nur Solche anerkennen, mit denen er in freundschaftlichen Verhältnissen steht, Solche, welche ihm Gewohnheit lieb oder nothwendig gemacht hat, Solche, an denen er augenscheinlich bemerkt, daß sie seine ganze Anschauungs- und Empfindungsweise theilen, Solche, die er denselben Leiden ausgesetzt sieht, die er selbst erduldet, und die für dieselben Freuden empfänglich sind, an denen er seine Lust gehabt hat, mit einem Worte Solche, deren völlige Uebereinstimmung mit seiner Natur ihn mit der größten Zuneigung zu ihnen erfüllt. Erst nach allseitiger Ausbildung seines Naturells, nach vielfältigen Reflexionen über seine eigenen und an Anderen beobachteten Empfindungen, wird er sich so weit emporschwingen, seine individuellen Vorstellungen zu dem abstracten Begriffe der Menschheit zu verallgemeinern und seinen persönlichen Neigungen noch diejenigen anzureihen, die ihn mit seiner Gattung in jeder Beziehung in Uebereinstimmung zu setzen vermögen.
Von dem Augenblicke an, wo er der eigenen Zuneigung fähig wird, wird er auch für die ihm entgegenkommende Liebe Anderer empfänglich Die Zuneigung kann der Erwiderung entbehren, nie aber die Freundschaft. Letztere ist ein gegenseitiger Austausch, ein Vertrag wie jeder andere, aber der heiligste von allen. Für das Wort Freund gibt es kein anderes Correlativ. Ein jeder Mensch, der nicht der Freund seines Freundes ist, ist sicherlich ein Schurke, da man Freundschaft nur durch Erweisung oder Erheuchelung von Freundschaft erlangen kann. und in Folge dessen auf die Zeichen derselben aufmerksam. Begreift ihr, welche neue Herrschaft ihr dadurch über ihn erlangen werdet? Mit welchen Fesseln habt ihr sein Herz umschlungen, ehe er es gewahr wurde! Welche Gefühle werden sich seiner nicht bemächtigen, wenn ihm erst die Augen über sich selbst aufzugehen beginnen und er nun mit einem Male sehen wird, was ihr für ihn gethan habt; wenn er erst im Stande sein wird, sich mit anderen jungen Leuten seines Alters und euch mit anderen Erziehern zu vergleichen! Ich sage ausdrücklich: Wenn er es sehen wird! Hütet euch aber wohl, ihn darauf aufmerksam zu machen; wenn ihr es ihm sagt, wird er es nicht mehr wahrnehmen. Verlangt ihr von ihm als eine Art Vergeltung für die Mühe, die ihr euch mit ihm gegeben habt, Gehorsam, so wird er sich einbilden, ihr wolltet denselben durch List von ihm erzwingen; er wird sich einreden, ihr hättet euch nur gestellt, ihm ohne allen Anspruch auf Dank einen Dienst zu leisten, in Wahrheit hättet ihr jedoch die Absicht gehabt, ihn mit einer Schuld zu beladen und durch einen Vertrag zu binden, zu welchem er in keiner Weise seine Zustimmung gegeben habe. Umsonst werdet ihr hinzufügen, daß ja das, was ihr von ihm verlangt, nur zu seinem Besten diene; ihr verlangt einmal, und verlangt kraft dessen, was ihr ohne seine Zustimmung gethan habt. Wenn ein Unglücklicher das Geld annimmt, mit dem man ihm ein Geschenk zu machen vorgibt, und dadurch wider seinen Willen angeworben wird, so schreit ihr über Ungerechtigkeit; seid ihr aber nicht noch viel ungerechter, wenn ihr von eurem Zöglinge den Lohn für eine Sorgfalt fordert, die er gar nicht von euch verlangt hat?
Die Undankbarkeit würde viel seltener sein, wenn die Wohlthaten auf Wucher nicht so allgemein wären. Es ist ein so natürliches Gefühl, daß man den liebt, welcher uns Gutes erweist. Die Undankbarkeit findet sich nicht im menschlichen Herzen, wohl aber der Eigennutz. Es gibt weniger Undankbare, die eine Ursache zum Danke haben, als eigennützige Wohlthäter. Multos experimur ingratos, plures facimus, quia graves exprobratores exactoresque sumus ... Ita gratiam omnem corrumpimus, non tantum postquam dedimus beneficia, sed dum damus. Seneca, de benef. lib. I, cap. I. Sagt ihr offen, daß ihr mir eure Liebesgaben verkauft, so werde ich um den Preis feilschen. Stellt ihr euch aber, als machtet ihr ein wirkliches Geschenk, um nachher trotzdem einen euch beliebigen Preis darauf zu setzen, so übt ihr Betrug. Nur das Geschenk, bei dem man keinen Anspruch auf Dank erhebt, ist unschätzbar. Das Herz nimmt nur die Gesetze an, die aus ihm selber fließen. Will man ihm Fesseln anlegen, so gibt man ihm dadurch erst recht die Freiheit nur wenn man es frei läßt, vermag man es zu fesseln.
Wenn der Fischer den Köder auswirft, so kommt der Fisch herbei und schwimmt ohne Mißtrauen um denselben herum. Wenn er aber von dem unter der Lockspeise angebrachten Angelhaken erfaßt wird und fühlt, daß die Schnur zurückgezogen wird, bestrebt er sich, zu fliehen. Ist der Fischer nun etwa der Wohlthäter, der Fisch der Undankbare? Macht man je die Erfahrung, daß ein von seinem Wohlthäter vergessener Mensch diesen auch seinerseits vergißt? Im Gegentheil, es macht ihm Freude, beständig von demselben zu sprechen, und nie gedenkt er seiner ohne Rührung. Findet sich Gelegenheit, wo er ihm durch einen unerwarteten Dienst beweisen kann, daß er der empfangenen Wohlthaten noch immer eingedenk sei, mit welcher inneren Befriedigung erfüllt er dann die Pflicht der Dankbarkeit! Mit welcher süßen Freude gibt er sich ihm zu erkennen! Mit welchem Entzücken sagt er zu ihm: »Jetzt ist die Reihe an mir!« – Wahrlich, darin spricht sich die Stimme der Natur aus. Sicherlich hat eine wahre Wohlthat noch nie einen Undankbaren gemacht.
Wenn also die Dankbarkeit ein natürliches Gefühl ist, und ihr die Aeußerung derselben nicht durch eigene Schuld verhindert, so könnt ihr euch versichert halten, daß euer Zögling, sobald er erst den Werth eurer Sorgfalt einzusehen beginnt, dieselbe zu würdigen wissen wird, vorausgesetzt, daß ihr ihren Preis nicht selbst festgesetzt habt, und könnt auch glauben, daß sie euch in seinem Herzen eine durch nichts zu erschütternde Autorität verschaffen wird. Bevor ihr jedoch dieses Vortheils völlig sicher seid, müßt ihr sehr auf eurer Hut sein, desselben nicht dadurch verlustig zu gehen, daß ihr euch bei ihm ein besonderes Ansehen geben wollt. Eure Dienste in seiner Gegenwart herausstreichen, heißt sie ihm unerträglich machen, sie vergessen, heißt sie ihm ins Gedächtniß rufen. Bis zu dem Zeitpunkte, wo eine männliche Behandlung ihm gegenüber nöthig wird, darf nie die Rede davon sein, was er euch, sondern nur davon, was er sich selbst zu verdanken hat. Um ihn folgsam zu machen, lasset ihm volle Freiheit; entzieht euch ihm, damit er euch aufsuche; erhebt seine Seele zu dem edelen Gefühle der Dankbarkeit, indem ihr lediglich von seinem eigenen Interesse zu ihm redet. Ich habe gewünscht, daß man ihm nicht eher sage, daß Alles, was man für ihn gethan habe, zu seinem eigenen Besten sei, als bis er im Stande wäre, es zu verstehen. Er würde aus einer solchen Erklärung nur eure Abhängigkeit herausgefühlt und euch als seinen Diener betrachtet haben. Jetzt jedoch, wo er zu fühlen beginnt, was lieben heißt, sagt ihm auch sein Gefühl, welch süßes Band einen Menschen mit dem, welchen er liebt, vereinigen könne; und in dem Eifer, mit dem ihr euch unaufhörlich um ihn beschäftigt, erblickt er nicht mehr die bloße Ergebenheit eines Sklaven, sondern die Liebe eines Freundes. Aber nichts hat einen größeren Einfluß auf das Menschenherz, als die Stimme offen bekannter Freundschaft, denn man weiß, daß sie sich stets nur in unserem Interesse erhebt. Man kann zwar annehmen, daß ein Freund sich selbst täuscht, nicht aber, daß er darauf ausgehe, uns zu täuschen. Bisweilen fühlt man sich mit seinen Rathschlägen nicht einverstanden, nie aber verachtet man sie.
Jetzt endlich sind wir bei der moralischen Ordnung angelangt. Wir haben soeben einen zweiten Mannesschritt gethan. Wenn hier der Ort dazu wäre, so würde ich nachzuweisen versuchen, wie sich schon bei den ersten Regungen des Herzens sofort die Stimme des Gewissens vernehmen läßt, und wie schon die ersten Gefühle der Liebe und des Hasses auch die ersten Begriffe von gut und böse in ihrem Gefolge haben. Ich würde anschaulich machen, daß Gerechtigkeit und Güte nicht bloße abstracte Worte, nicht bloße moralische Gebilde der Vernunft sind, sondern wirkliche Gefühle der durch die Vernunft erleuchteten Seele, welche nur eine von der Natur gebotene Fortbildung unseres ursprünglichen Seelenzustandes bilden; daß man durch die Vernunft allein und unabhängig vom Gewissen kein natürliches Gesetz aufzustellen vermag, und daß das ganze sogenannte Naturrecht Nichts als ein Hirngespinnst ist, wenn es sich nicht auf ein dem Menschenherzen natürliches Bedürfniß gründet. Sogar das Gebot, gegen Andere so zu handeln, wie wir wünschen, daß man gegen uns handele, findet seinen wahren Grund nur in dem Gewissen und in dem Gefühle; denn welcher unanfechtbare Grund könnte mich wol bestimmen, daß ich, obwol ich eben ich bin, so handeln soll, als ob ich ein Anderer wäre, vor allen Dingen wenn ich moralisch überzeugt bin, daß ich mich niemals in dem nämlichen Falle befinden werde? Und wer will mir dafür Bürgschaft ablegen, daß selbst bei der treuesten Befolgung dieses Grundsatzes meinerseits ihn auch Andere mir gegenüber zur Geltung bringen werden? Der Böse zieht aus der Rechtschaffenheit des Gerechten so wie aus seiner eigenen Unredlichkeit Vortheil. Er würde damit ganz zufrieden sein, wenn alle Welt, mit Ausnahme von ihm, rechtschaffen wäre. Was man auch immer darüber sagen möge, so steht doch so viel fest, daß dieser Vertrag für die Guten nicht eben sehr vortheilhaft ist. Wenn jedoch die Kraft meiner sich mittheilenden Seele mich mit meinem Nebenmenschen identificirt und ich mich gleichsam in ihm fühle, so will ich von ihm alles Leid fern wissen, um eben nicht selbst zu leiden. Ich nehme aus Liebe zu mir Antheil an ihm, und der Grund des Gebots liegt in der Natur selbst, die mir den Wunsch nach Wohlbefinden einflößt, welches an keinen bestimmten Ort gebunden sein darf. Hieraus ziehe ich den Schluß, daß es nicht wahr ist, daß die Vorschriften des Naturgesetzes allein auf die Vernunft gegründet seien. Sie haben einen festeren und sicherern Grund. Die aus der Selbstliebe stammende Menschenliebe ist das Princip der menschlichen Gerechtigkeit. Die Summe aller Moral ist im Evangelium gegeben. Allein ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, hier metaphysische und moralische Abhandlungen oder Lehrgänge irgend welcher Art zu schreiben; es genügt mir, die Reihenfolge und den Fortschritt unserer Gefühle und unserer Kenntnisse im Verhältnisse zu unserer sonstigen Lage anzudeuten. Andere werden vielleicht das, was ich hier nur flüchtig skizzire, ausführlicher auseinandersetzen.
Da bisher mein Emil nur auf sich selbst geachtet hat, so treibt ihn der erste Blick, welchen er auf seine Nebenmenschen wirft, zur Vergleichung mit denselben an, und das erste Gefühl, welches diese in ihm hervorruft, ist der Wunsch, die erste Stelle einzunehmen. Das ist nun der Punkt, wo sich die Selbstliebe in Eigenliebe verwandelt, und wo sich alle Eigenschaften, die Letztere stets in ihrem Gefolge mit sich führt, zu bilden beginnen. Um indeß zu entscheiden, ob diejenigen dieser Leidenschaften, welche in seinem Charakter zur Herrschaft gelangen werden, menschlich und sanft, oder grausam und bösartig, ob es Leidenschaften des Wohlwollens und des Erbarmens oder des Neides und der Begehrlichkeit sein werden, muß er sich darüber klar werden, welche Stellung er von nun an unter den Menschen einzunehmen gedenkt und welche Art von Hindernissen sich ihm aller Voraussetzung nach entgegenstellen werden, um diejenige in der That zu erlangen, die er sich zu erwerben wünscht.
Um ihn bei dieser Untersuchung zu leiten, muß man ihm die Menschen, nachdem man sie ihn zuvor nur nach den der ganzen Gattung gemeinsamen Eigenschaften kennen gelehrt hat, auch nach ihren Verschiedenheiten zeigen. Hier lenkt sich nun der Blick auf die Größe der natürlichen wie der bürgerlichen Ungleichheit unter den Menschen und auf das Gemälde der ganzen socialen Ordnung.
Man muß die Gesellschaft durch die Menschen und die Menschen durch die Gesellschaft studiren. Diejenigen, welche die Politik und die Moral gesondert von einander behandeln wollen, werden nie dazu gelangen, auch nur eine derselben richtig zu verstehen. Richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst nur auf die ursprünglichen Verhältnisse, so erkennen wir schon, einen wie hohen Einfluß sie auf die Menschen gewinnen und welche Leidenschaften sie wachrufen müssen. Ferner bemerken wir, wie mit dem Fortschreiten der Leidenschaften die Vermehrung so wie die Beschränkung dieser Verhältnisse gleichen Schritt hält. Die Unabhängigkeit und Freiheit der Menschen beruht weniger auf der Kraft der Arme als vielmehr auf der Mäßigung der Herzen. Wer wenig begehrt, hängt von Wenigen ab. Weil wir jedoch unsere eitlen Wünsche beständig mit unseren physischen Bedürfnissen verwechseln, so haben diejenigen, welche in letzteren die Grundlage der menschlichen Gesellschaft gefunden zu haben glauben, die Wirkungen regelmäßig für die Ursachen gehalten, und haben deshalb mit allen ihren Schlußfolgerungen niemals zu einem richtigen Resultate kommen können.
Im Naturzustande gibt es in der That eine wirkliche und unzerstörbare Gleichheit, weil der alleinige Unterschied zwischen Mensch und Mensch in diesem Zustande unmöglich groß genug sein kann, um den Einen in die Abhängigkeit des Andern zu bringen. Im bürgerlichen Zustande gibt es dafür eine Rechtsgleichheit, die aber nur in der Einbildung besteht, weil die zu ihrer Erhaltung bestimmten Mittel selbst an ihrer Zerstörung arbeiten und die öffentliche Gewalt, deren sich der Stärkere nur zur Unterdrückung des Schwächeren bedient, die Gleichheit vernichtet, welche die Natur zwischen ihnen hergestellt hatte. Der allgemeine Geist der Gesetze aller Länder hat sich unverkennbar die Aufgabe gestellt, stets den Starken gegen den Schwachen und den Besitzenden gegen den Nichtbesitzenden zu begünstigen. Dieser Uebelstand ist unvermeidlich und ohne Ausnahme. Aus diesem ersten Widerspruche leiten sich alle übrigen her, die in der bürgerlichen Ordnung zwischen Schein und Wirklichkeit hervortreten. Stets wird die Menge der Minorität und das öffentliche Interesse dem Sonderinteresse geopfert werden. Immer werden die Namen Gerechtigkeit und Unterordnung, denen ja eine gewisse Berechtigung zur Seite steht, der Gewalt als Werkzeuge und der Ungerechtigkeit als Waffen dienen. Hieraus ergibt sich, daß die bevorzugten Classen, welche den anderen Ständen Nutzen zu bringen behaupten, in Wahrheit nur auf Kosten der übrigen ihrem eigenen Nutzen nachjagen. Darnach läßt sich beurtheilen, welches Ansehen ihnen nach Recht und Vernunft gebührt. Um darüber ins Klare zu kommen, wie Jeder von uns sein eigenes Schicksal beurtheilen müsse, bleibt uns noch zu erwägen, ob der Rang, den sie sich beigelegt haben, auch wirklich zum Glücke derer, die ihn einnehmen, ausschlägt. Diese Untersuchung ist für uns jetzt von größter Wichtigkeit; um sie aber mit Erfolg anstellen zu können, müssen wir zunächst das menschliche Herz kennen zu lernen suchen.
Wenn es sich nur darum handelte, den jungen Leuten den Menschen in seiner Maske zu zeigen, so könnte man von diesem Beginnen dreist abstehen, weil er sich ihren Blicken nur allzu häufig ganz von selbst darbieten würde. Da indeß die Maske nicht der Mensch selbst ist, und sein äußerer Firniß sie nicht irre führen darf, so malt ihnen die Menschen, wenn ihr euch einmal diese Aufgabe gestellt habt, so wie sie in Wirklichkeit beschaffen sind, nicht um ihnen Haß gegen dieselben, sondern Mitleid mit ihnen und den Wunsch einzuflößen, ihnen nicht ähnlich werden zu wollen. Das ist meines Erachtens das richtigste Gefühl, von welchem der Mensch in Bezug auf seine Gattung erfüllt sein kann.
Von diesem Gesichtspunkte aus wird sich unschwer die Nothwendigkeit nachweisen lassen, von jetzt an einen dem bisher verfolgten ganz entgegengesetzten Weg einzuschlagen und den jungen Mann vielmehr durch die Erfahrung, welche er Andere machen sieht, als durch seine eigene zu unterrichten. Wird er von den Menschen getäuscht, so wird er sie hassen; nimmt er dagegen wahr, daß sie sich, während sie es an Achtung gegen ihn nicht fehlen lassen, gegenseitig täuschen, so wird er sie bemitleiden. Das Schauspiel der Welt, sagt Pythagoras, gleicht dem der olympischen Spiele; Etliche schlagen Buden auf und haben nur ihren Gewinn im Auge; Andere setzen, um Ruhm zu gewinnen, ihr Leben ein, und wieder Andere begnügen sich, den Spielen zuzuschauen, und das sind nicht die Schlechtesten.
Mein Wunsch wäre, man wählte die Gesellschaft eines jungen Mannes derart, daß er sich von denen, die mit ihm leben, nur eine gute Meinung bilden könnte, während man ihm gleichzeitig eine so genaue Weltkenntniß beibrächte, daß er von Allem, was sich in der Welt zuträgt, eine schlechte Meinung faßte. Er lerne, daß der Mensch von Natur gut ist, er fühle die Wahrheit lebendig in sich selbst und schließe von sich auf seinen Nächsten. Aber es darf seinen Blicken auch nicht entgehen, daß die Gesellschaft die Menschen verdirbt und verschlechtert; in ihren Vorurtheilen finde er die Quelle aller ihrer Fehler. Bei aller Achtung des Einzelnen verachte er die Menge. Er überzeuge sich davon, daß alle Menschen fast die gleiche Maske tragen, aber er erfahre auch, daß es Gesichter gibt, die schöner sind als die Maske, welche sie bedeckt.
Diese Methode hat unläugbar ihre Schattenseiten und bietet in der Praxis große Schwierigkeiten dar, denn wird der junge Mann zu früh Beobachter, haltet ihr ihn an, den Handlungen Anderer eine allzu große Aufmerksamkeit zu schenken, so tragt ihr selbst die Schuld, wenn sich in ihm ein Hang zum Spott und zur Satire herausbildet, wenn er sich ein absprechendes und vorschnelles Wesen aneignet. Er wird eine häßliche Freude darin finden, Alles auf das Uebelste auszulegen und selbst das wirklich Gute mit sehenden Augen nicht zu sehen. Wenigstens wird er sich an den Anblick des Lasters gewöhnen, und es dahin bringen, die Schlechten ohne Abscheu anzublicken, genau in derselben Weise, wie man sich daran gewöhnt, die Unglücklichen ohne Mitleid zu betrachten. Binnen Kurzem wird ihm die allgemeine Verderbniß weniger zur Lehre als zur Entschuldigung dienen. Er wird sich ganz einfach sagen, wenn der Mensch einmal so beschaffen sei, so wäre auch keine Ursache vorhanden, anders sein zu wollen.
Hegt ihr dagegen die Absicht, ihn nach Grundsätzen zu unterrichten und ihn nicht nur mit der Natur des menschlichen Herzens, sondern auch mit der Einwirkung der äußeren Ursachen bekannt zu machen, welche unsere Neigungen in Laster verwandeln, so wendet ihr, indem ihr seine Aufmerksamkeit plötzlich von sinnlichen Gegenständen auf intellectuelle hinlenkt, eine Metaphysik an, die er nicht zu begreifen im Stande ist; ihr verfallt in den Uebelstand, den ihr bisher so sorgfältig vermieden habt, ihm nicht durch die Anschauung gewonnene, sondern rein abstracte Lehren zu geben und in seinem Geiste an Stelle seiner eigenen Erfahrung und der Fortschritte seiner sich stetig entwickelnden Vernunft die Erfahrung und Autorität des Lehrers zu setzen.
Zur gleichzeitigen Beseitigung beider Hindernisse und um seiner Fassungskraft die Kenntniß des menschlichen Herzens zu erleichtern, ohne daß ich Gefahr zu laufen brauche, das seinige zu verderben, beabsichtige ich ihm die Menschen von ferne zu zeigen, sie ihm aus anderen Zeiten oder an anderen Orten und zwar dergestalt zu zeigen, daß er den Schauplatz zu überblicken vermag, ohne in die Möglichkeit versetzt zu sein, handelnd auf demselben aufzutreten. Damit ist der richtige Augenblick für den Beginn des Geschichtsunterrichts gegeben. Durch seine Vermittelung wird er ohne die Lehren der Philosophie in den Herzen lesen lernen, durch seine Beihilfe wird er die Menschen in der Eigenschaft eines einfachen Zuschauers, ohne Interesse und Leidenschaft, als ihr Richter, nicht aber als ihr Mitschuldiger und ihr Ankläger betrachten.
Will man die Menschen kennen lernen, muß man sie handeln sehen. In der Welt hört man sie nur sprechen; in ihren Reden treten sie zwar öffentlich hervor, aber ihre Handlungen verbergen sie. In der Geschichte stehen sie jedoch entschleiert vor uns, und man beurtheilt sie nach ihren Thaten. Selbst ihre Reden sind uns zu ihrer richtigen Beurtheilung behilflich, denn durch Vergleich ihrer Thaten und ihrer Worte erkennt man zugleich, was sie sind und welchen Schein sie sich geben wollen; je mehr sie sich verstellen, desto besser erkennt man sie.
Unglücklicherweise ist dieses Studium mit Gefahren und Uebelständen vielfacher Art verbunden. Es bietet Schwierigkeiten dar, sich auf einen Standpunkt zu stellen, von dem aus man seine Mitmenschen mit Billigkeit zu beurtheilen im Stande ist. Eine große Schattenseite der Geschichte liegt in dem Umstande, daß sie die Menschen weit mehr nach ihren schlimmen als nach ihren guten Seiten darstellt. Da sie unser Interesse nur durch Revolutionen und Katastrophen zu fesseln weiß, so bleibt sie stumm, so lange ein Volk in der Stille einer friedlichen Regierung zunimmt und in glücklichen Verhältnissen lebt; sie fängt erst dann wieder von demselben zu berichten an, wenn es, außer Stande sich selbst zu genügen, sich in die Angelegenheiten seiner Nachbarn mischt oder sich Letztere in die seinigen mischen läßt; erst dann stellt sie ein Volk in das glänzendste Licht, wenn es seinem Untergange bereits nahe ist. Alle unsere Geschichtswerke beginnen da, wo sie schließen sollten. Es fehlt uns nicht an eingehenden Werken über die geschichtliche Entwicklung derjenigen Völker, die zerfallen und zu Grunde gehen, um so mehr aber an Schilderungen solcher Völker, die sich einer ruhigen und gleichmäßigen Zunahme zu erfreuen haben. Sie sind so glücklich und so weise, daß die Geschichte nichts von ihnen zu berichten weiß. Und in der That können wir uns selbst in unsern Tagen davon überzeugen, daß man von den besten Regierungen am wenigsten spricht. Es ist uns also nur das Schlechte bekannt, das Gute vermag kaum Aufmerksamkeit zu erregen. Nur die Bösen gelangen zur Berühmtheit, die Guten gerathen in Vergessenheit oder werden Gegenstände des Gelächters, und so verleumdet die Geschichte eben so wie die Philosophie unaufhörlich das menschliche Geschlecht.
Dazu tritt ferner noch der Uebelstand, daß uns die Darstellungen der Geschichte keineswegs ein treues Abbild der wirklichen Thatsachen geben; sie ändern im Kopfe des Geschichtsschreibers ihre Form, gestalten sich nach seinen Interessen und erhalten durch seine Vorurtheile ihre besondere Färbung. Wer versteht wol die Kunst, seinen Leser genau an den Ort des Schauspiels zu versetzen, daß er einen Vorgang gerade so zu sehen im Stande ist, wie er sich ereignet hat? Unwissenheit oder Parteilichkeit tragen die Schuld, daß alle Thatsachen entstellt werden. Ein wie verschiedenes Gepräge kann man einem historischen Zuge ohne eigentliche Fälschung schon durch die bloße Erweiterung oder Verengerung der damit im Zusammenhange stehenden Nebenumstände geben! Laßt ihr den nämlichen Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, so wird er noch kaum als derselbe erscheinen, und trotzdem hat außer dem Auge des Beschauers nichts eine Aenderung erlitten. Genügt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Erzählung einer an sich wahren Thatsache, wenn man sie mir ganz anders zeigt, als sie sich in Wirklichkeit ereignet hat? Wie oft hat ein Baum mehr oder weniger, ein Felsen zur Rechten oder zur Linken, ein vom Winde plötzlich aufgejagter Staubwirbel, die Entscheidung einer Schlacht herbeigeführt, ohne daß Jemand diesen Umstand beachtet hätte! Hält dies aber etwa den Geschichtsschreiber ab, euch die Ursache der Niederlage oder des Sieges mit einer Sicherheit zu erklären, als ob er überall persönlich zugegen gewesen wäre? Was kann mir aber an der bloßen Aufzählung von Thatsachen gelegen sein, wenn mir die Ursachen derselben unbekannt bleiben? Und welche Lehren kann ich einem Ereignisse entnehmen, dessen wahre Ursache ich nicht kenne? Der Geschichtsschreiber gibt mir zwar eine an, aber leider nur eine von ihm selbst ersonnene; und sogar die Kritik, von der man so viel Wesen macht, hat es lediglich mit Conjecturen zu thun, ist nichts Anderes als die Kunst, unter mehreren Lügen diejenige auszuwählen, welche der Wahrheit am ähnlichsten sieht.