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Unterwegs spricht sich die Mutter, die sich in der That gekränkt fühlt, über die Sonderbarkeit dieser Handlungsweise ihrer Tochter gegenüber ziemlich hart aus. »Wie!« sagt sie, »sollte es wirklich so schwierig gewesen sein, den Meister zufrieden zu stellen, ohne sich dem Zwange zu fügen, da zu bleiben? Hat dieser junge Mann, der sonst so verschwenderisch ist und mit dem Gelde unnöthig erweise um sich wirft, dann, wenn es einmal angewandt wäre, keins mehr übrig?« – »O Mutter,« erwidert Sophie, »da sei Gott vor, daß sich Emil in Überschätzung des Geldes je desselben bediene, um eine persönliche Verpflichtung rückgängig zu machen, ungestraft sein Wort zu brechen und die Schuld zu tragen, daß es auch ein Anderer breche! Ich weiß, daß es ihm nicht schwer fallen würde, den Meister für den geringen Verlust, den ihm seine Abwesenheit verursachen könnte, zu entschädigen, aber dann würde er seine Seele von dem Reichthume knechten lassen, dann würde er sich daran gewöhnen, bei jeder Pflichtverletzung mit demselben einzutreten und sich dem Wahne hinzugeben, man könne sich Alles erlauben, wenn man nur zahle. Emil huldigt andern Anschauungen, und ich hoffe nicht die unschuldige Veranlassung zu sein, daß er sie ändert. Denkst du nicht, daß es ihm schwer genug gefallen ist, zu bleiben? Irre dich nicht, Mama, gerade um meinetwillen bleibt er, das habe ich deutlich in seinen Augen gelesen.«
Das beweist noch nicht, daß sich Sophie hinsichtlich der wahren Aufmerksamkeiten der Liebe einer großen Nachsicht rühmen könne. Im Gegentheile ist sie gebieterisch und anspruchsvoll. Lieber möchte sie gar nicht, als nur mäßig geliebt werden. Sie besitzt den edlen Stolz des Verdienstes, welches seinen Werth kennt, sich selbst achtet und verlangt, daß man es ehre, wie es sich selber ehrt. Sie würde ein Herz verschmähen, welches den vollen Werth des ihrigen nicht zu schätzen verstände und sie um ihrer Tugenden willen nicht eben so sehr, ja noch mehr lieben würde, als um ihrer Reize willen, ein Herz, welches seine Pflicht nicht höher als sie und sie wieder höher als jedes andere Gut stellte. Ihr Begehren ist gar nicht auf einen Geliebten gerichtet gewesen, dem kein anderes Gesetz als ihr Wille gilt. Der Mann, über den sie herrschen will, hat sich nicht vorher durch sie seiner männlichen Würde dürfen berauben lassen. So verschmäht Circe die Gefährten des Ulysses, die sie herabgewürdigt hat, und ergibt sich ihm allein, den sie nicht zu verwandeln vermochte.
Sehen wir von diesem unverletzlichen und heiligen Rechte ab, so ist Sophie auf alle ihr gebührenden Rechte über alle Maßen eifersüchtig und wacht aufmerksam darüber, wie streng es Emil mit seinen Ehrfurchtsbezeigungen gegen sie nimmt, wie eifrig er ihren Wünschen nachzukommen sucht, mit welcher Freude er sich bemüht, sie ihr an den Augen abzulesen, mit welcher Pünktlichkeit er in dem vorgeschriebenen Augenblicke eintrifft. Sie verlangt, daß er weder zu früh noch zu spät erscheine, sondern fordert Pünktlichkeit von ihm. Zu früh kommen hieße seinen Willen über den ihrigen stellen, zu spät kommen hieße dagegen sie vernachlässigen. Sophie vernachlässigen! Das würde nicht zweimal vorkommen. Ihr ungerechter Verdacht hätte einst beinahe Alles verdorben, allein Sophie ist billigdenkend und weiß ihr Unrecht wieder gut zu machen. Eines Abends erwartet man uns. Emil ist bestellt worden. Man geht uns entgegen, aber wir kommen nicht. »Was in aller Welt ist aus ihnen geworden? Welches Unglück ist ihnen zugestoßen? Kein Bote bringt Nachricht!« Der Abend verrinnt, wahrend man uns noch immer erwartet. Die arme Sophie befürchtet schon, daß wir gestorben sind. Sie ist untröstlich, ängstigt sich und weint die ganze Nacht. Noch am Abend hat man einen Boten ausgesendet, um Erkundigungen über uns einzuziehen und am nächsten Morgen Nachricht von uns zu bringen. Der Bote kehrt in Begleitung eines anderen von uns abgeschickten zurück, welcher uns mündlich entschuldigt und erzählt, daß wir uns vollkommen wohl befinden. Einen Augenblick später erscheinen wir selbst. Nun ändert sich mit einem Schlage die Scene. Sophie trocknet sich die Thränen ab, oder wenn sie noch solche vergießt, sind es Thränen der Wuth. Für ihr stolzes Herz ist es kein Gewinn, daß es über unser Leben beruhigt sein kann: Emil lebt und hat vergeblich auf sich warten lassen.
Bei unserer Ankunft will sie sich einschließen. Man verlangt, daß sie bleibt, und so muß sie denn bleiben. Sofort faßt sie jedoch ihren Entschluß und nimmt eine ruhige und zufriedene Miene an, welche auf Andere ihres Eindrucks nicht verfehlt haben würde. Der Vater kommt uns entgegen und sagt: »Sie haben Ihre Freunde in Sorge versetzt; es fehlt hier nicht an Personen, welche Ihnen nicht so leicht verzeihen werden.« – »Wer denn, Papachen?« fragt Sophie mit dem liebreizendsten Lächeln, das sie zu erzwingen vermag. »Was geht das dich an,« versetzt der Vater, »wenn du es nur nicht bist.« Sophie erwidert kein Wort und schlägt die Augen auf ihre Arbeit nieder. Die Mutter empfängt uns kalt und gezwungen. Emil geräth in Verlegenheit und wagt nicht Sophie anzureden. Da knüpft sie ein Gespräch mit ihm an, fragt nach seinem Befinden, ladet ihn ein, Platz zu nehmen und weiß sich so gut zu verstellen, daß sich der arme junge Mann, der sich noch nicht auf die Sprache heftiger Leidenschaft versteht, durch diese Kaltblütigkeit täuschen läßt und fast selbst empfindlich geworden wäre.
Um ihn aus seinem Irrthume zu reißen, will ich Sophiens Hand ergreifen und sie, wie ich mitunter thue, an meine Lippen führen. Sie zieht sie jedoch heftig und mit einem so scharf betonten »Mein Herr« zurück, daß diese unfreiwillige Bewegung Emil die Augen öffnet.
Da Sophie einsieht, daß sie sich verrathen hat, thut sie sich von nun an weniger Zwang an. Ihre angenommene Kaltblütigkeit verwandelt sich in ironische Verachtung. Auf Alles, was man zu ihr spricht, antwortet sie nur einsilbig und mit schleppender, unsicherer Stimme, als hege sie Furcht, den Ton der Entrüstung allzu scharf durchklingen zu lassen. Emil, halb todt vor Schrecken, blickt sie bekümmert an und sucht sie zu veranlassen, ihre Augen auf ihn zu richten, damit er in denselben ihre wahren Gefühle besser lesen könne. Durch sein Vertrauen nur noch mehr aufgebracht, wirft ihm Sophie einen Blick zu, der ihm die Lust benimmt, sie zu einem zweiten herauszufordern. Bestürzt und zitternd wagt Emil zu seinem großen Glücke nicht mehr zu sprechen oder sie auch nur anzusehen, denn wäre er auch nicht schuldig gewesen, hätte aber ihren Zorn geduldig ertragen können, so würde sie ihm nie verziehen haben.
Da es mir scheint, als ob jetzt der richtige Augenblick für mich gekommen ist, persönlich einzugreifen und die nöthigen Aufschlüsse zu geben, so wende ich mich wieder an Sophie. Ich nehme abermals ihre Hand, die sie mir jetzt nicht mehr entzieht, weil sie im Begriffe steht, ohnmächtig zu werden. Sanft sage ich zu ihr: »Liebe Sophie, uns hat gestern ein Unglück getroffen. Allein Sie sind zu verständig und gerecht, um uns ungehört zu verurtheilen. Hören Sie uns an.« Sie erwidert darauf nichts, und so beginne ich denn zu erzählen:
»Gestern um vier Uhr machten wir uns auf den Weg, da wir vorgeschriebenermaßen um sieben Uhr hier eintreffen sollten. Wir nehmen uns stets etwas mehr Zeit, als unbedingt nothwendig ist, um uns vor unserer Ankunft noch etwas ausruhen zu können. Drei Viertel des Weges hatten wir bereits zurückgelegt, als wir plötzlich ein klägliches Jammergeschrei vernahmen. Es drang aus einer Bergschlucht in einiger Entfernung von uns hervor. Wir folgen dem Geschrei und finden einen unglücklichen Bauer, der bei seiner Heimkehr aus der Stadt in etwas angetrunkenem Zustande so gefährlich von dem Pferde gestürzt war, daß er das Bein gebrochen hatte. Wir schreien, wir rufen um Hilfe, aber Alles vergebens; Niemand antwortet. Wir versuchen den Verwundeten auf das Pferd zu heben, kommen aber damit nicht zu Stande. Bei der geringsten Bewegung hat der Unglückliche furchtbare Schmerzen auszustehen. So bleibt uns denn schließlich nichts Anderes übrig, als das Pferd in einem abgelegenen Dickicht anzubinden, aus unseren Armen eine Tragbahre zu machen, den Verwundeten darauf zu legen und ihn so sanft als möglich fortzutragen. Wir schlagen den Weg ein, der seiner Behauptung zufolge nach seiner Wohnung führen mußte. Es war eine so weite Strecke, daß wir genöthigt waren, uns wiederholentlich auszuruhen. Völlig erschöpft erreichen wir endlich unser Ziel. Zu unserm schmerzlichen Erstaunen bemerken wir, daß uns das Haus bereits bekannt ist, und daß der Unglückliche, den wir mit so großer Muhe hierher getragen haben, derselbe Mann ist, der uns an dem Tage, an welchem wir diese Gegend zum ersten Male betraten, mit solcher Herzlichkeit aufgenommen hatte. In der Aufregung, in der wir uns sämmtlich befanden, hatten wir uns bis zu diesem Augenblicke nicht wieder erkannt.«
»Er hatte nur zwei kleine Kinder. Seine Frau, die neuen Mutterfreuden entgegenging, wurde, als sie ihn in diesem Zustande eintreffen sah, von solchem Schrecken ergriffen, daß sie heftige Wehen bekam und wenige Stunden darauf entbunden wurde. Was sollten wir nun wol unter solchen Verhältnissen in einer so entlegenen Hütte thun, wo auf Beistand nicht zu rechnen war? Emil war schnell entschlossen, holte das im Walde zurückgelassene Pferd, ritt mit verhängtem Zügel nach der Stadt und sah sich nach einem Wundarzte um. Diesem überließ er das Pferd, und da er nicht schnell genug eine Wärterin aufzutreiben vermochte, kam er in Begleitung eines Dieners zu Fuß zurück, nachdem er einen anderen zuvor an Sie abgeschickt hatte. Mittlerweile bemühte ich mich, da ich mich, wie Sie sich leicht vorstellen können, zwischen einem Manne, der das Bein gebrochen hatte, und einer Frau in Kindesnöthen in höchster Verlegenheit befand, nach besten Kräften Alles im Hause vorzubereiten, was meiner Ansicht nach für Beider Hilfe nothwendig sein konnte.«
»Lassen Sie mich die weiteren Einzelheiten übergehen, da es sich ja um sie nicht handelt. Es war bereits zwei Uhr nach Mitternacht, ehe sich Einer von uns einen Augenblick Erholung gönnen konnte. Erst kurz vor Tagesanbruch sind wir in unserem hiesigen Absteigequartier angelangt, in welchem wir nur die Stunde Ihres Erwachens abgewartet haben, um Ihnen über unser Mißgeschick Rechenschaft abzulegen.«
Ich schweige, ohne noch irgend etwas hinzuzufügen. Allein noch ehe Jemand das Wort ergriffen, tritt Emil an seine Geliebte heran und sagt mit erhobener Stimme und größerer Festigkeit, als ich ihm zugetraut hätte: »In Ihren Händen ruht, wie Sie wohl wissen, mein Schicksal. Sie können mich vor Schmerz sterben lassen; meinen Sie jedoch nicht, daß ich um Ihretwillen die Pflichten der Menschlichkeit vergessen könnte. Sie sind mir noch heiliger als die, welche ich gegen Sie zu erfüllen habe. Selbst um Ihretwillen werde ich sie nie verläugnen.«
Statt aller Antwort erhebt sich Sophie bei diesen Worten, schlingt einen Arm um seinen Hals und küßt ihn auf die Wange. Während sie ihm darauf mit unnachahmlicher Anmuth die Hand reicht, sagt sie zu ihm: »Emil, nimm diese Hand, sie ist dein! Sei, sobald du willst, mein Gemahl und mein Herr; ich werde mir Mühe geben, diese Ehre zu verdienen.«
Kaum hat sie ihn umarmt, so klatscht der Vater freudig in die Hände und ruft: »Noch einmal, noch einmal!« Und sofort gibt ihm Sophie, ohne sich erst lange bitten zu lassen, noch zwei Küsse auf die andere Wange, erschrickt aber fast in demselben Augenblicke über Alles, was sie so eben gethan hat, sucht in den Armen ihrer Mutter Schutz und verbirgt ihr vor Scham erglühendes Antlitz an der mütterlichen Brust.
Ich brauche wol die allgemeine Freude nicht erst zu schildern. Jeder muß sie nachempfinden können. Nach dem Mittagsessen fragt Sophie, ob die Entfernung wol einen Besuch dieser armen Kranken gestatte. Sophie wünscht es und es ist ein gutes Werk. Man geht deshalb zu ihnen und findet sie in zwei besonderen Betten. Auf Emils Veranstaltung war das eine derselben hingebracht worden. Auch trifft man Leute zu ihrer Pflege bei ihnen. Wiederum hatte Emil dieselben angenommen. Für alles Uebrige ist aber bis jetzt so wenig Fürsorge getroffen, daß sie nicht weniger unter dem überall hervortretenden Mangel als unter ihren Krankheiten leiden. Sophie läßt sich von der guten Frau eine Schürze reichen und gibt ihr dann in ihrem Bette die möglichst bequeme Lage. Darauf leistet sie dem Manne denselben Dienst. Ihre sanfte und weiche Hand weiß Alles aufzufinden, was den Kranken Schmerz verursachen könnte, und bettet ihre leidenden Glieder so weich als möglich. Sobald sich ihnen Sophie nur naht, fühlen sie sich schon erleichtert. Man sollte meinen, daß sie Alles erräth, was im Stande ist, ihnen wehe zu thun. Das sonst so empfindliche und zum Ekel geneigte Mädchen läßt sich weder von der Unreinlichkeit noch von dem üblen Geruche zurückschrecken und weiß beides zu entfernen, ohne Jemandes Beistand zu bedürfen und ohne die Kranken zu belästigen. Sie, die sich stets durch einen so hohen Grad von Sittsamkeit auszeichnet, ja bisweilen einen gewissen Grad von Stolz zur Schau trägt, sie, die um Alles in der Welt auch nicht mit einer Fingerspitze das Bett eines Mannes berührt haben würde, wendet den Verwundeten ohne alles Bedenken hin und her und bringt ihn in eine bequemere Lage, um darin länger aushalten zu können. Der Eifer der Barmherzigkeit hat eben so hohen Werth als die Sittsamkeit. Was sie thut, vollbringt sie zugleich mit solcher Leichtigkeit und Gewandtheit, daß sich der Kranke, fast ohne eine Berührung empfunden zu haben, erleichtert fühlt. Weib und Mann segnen Beide das liebenswürdige Mädchen, das sie bedient, sie beklagt und tröstet. Sophie ist ihnen ein Engel des Himmels, den ihnen Gott sendet; sie besitzt eines Engels Gestalt und Liebreiz, eines Engels Milde und Güte. Gerührt und mit Bewunderung betrachtet Emil sie im Stillen. Mann, liebe deine Genossin! Gott gibt sie dir als Trösterin in deinen Sorgen, als Gehilfin in deinen Leiden: Siehe, das ist das Weib!
Man läßt den jungen Weltbürger taufen. Die beiden Liebenden übernehmen Pathenstelle und haben keinen glühenderen Wunsch, als bald Anderen Gelegenheit zu demselben Liebesdienste geben zu können. Sie wünschen den ersehnten Augenblick herbei, sie glauben schon unmittelbar vor demselben zu stehen. Alle Bedenken Sophiens sind gehoben. Allein die meinigen erwachen erst. Noch sind die beiden Liebenden nicht da, wo sie zu sein glauben. Es muß Alles nach der Reihe gehen.
Nachdem sie sich zwei Tage lang nicht gesehen haben, trete ich eines Morgens mit einem Briefe in der Hand in Emils Zimmer und sage, während ich ihn fest anblicke, zu ihm: »Was würdest du thun, wenn man dir mittheilte, daß Sophie gestorben ist?« Er stößt einen gellenden Schrei aus, erhebt sich händeringend und schaut mich lautlos und mit verstörten Blicken an. »Antworte doch!« fahre ich mit gleicher Ruhe fort. Nun aber tritt er, durch meine Kaltblütigkeit gereizt, mit zornfunkelnden Augen auf mich zu, und indem er in einer fast drohenden Haltung vor mir stehen bleibt, ruft er: »Was ich thun würde? ... Noch weiß ich es nicht. So viel aber weiß ich, daß ich den, welcher mir diese Nachricht brächte, nie in meinem Leben wiedersehen würde.« – »Beruhige dich nur,« erwidere ich lächelnd, »sie lebt, befindet sich wohl und denkt an dich. Heute Abend werden wir erwartet. Jetzt aber laß uns einen Spaziergang machen und ein wenig mit einander plaudern.«
Die Leidenschaft, die ihn beherrscht, gestattet ihm nicht mehr, sich wie sonst rein auf Ausbildung des Verstandes abzielenden Unterhaltungen hinzugeben. Jetzt muß ich diese Leidenschaft selbst als Mittel benutzen, damit er meinen Belehrungen von Neuem ein offenes Ohr schenkt. Das wollte ich durch jene schreckliche Einleitung bewirken. Jetzt bin ich dessen sicher, daß er mich anhören wird.
»Wir sollen glücklich sein, lieber Emil; das ist der Zweck eines jeden empfindenden Wesens. Dies ist der Hauptwunsch, den uns die Natur einflößte, und überhaupt der einzige Wunsch, der uns nie verläßt. Wo aber ist das Glück zu finden? Wer kennt es? Jeder sucht nach demselben, aber Niemand findet es. Man reibt sein Leben damit auf, daß man dem Glücke rastlos nachjagt, und man stirbt, ohne es erreicht zu haben. Als ich dich, mein junger Freund, bei deiner Geburt in meine Arme nahm und das höchste Wesen zum Zeugen der Verpflichtung anrief, die ich zu übernehmen den Muth hatte; als ich gelobte, meine Lebenstage dem Glücke der deinigen zu weihen, wußte ich da wol selbst, wozu ich mich verpflichtete? Nein, ich wußte lediglich, daß ich mein Glück nur sichern würde, wenn ich das deinige begründete. Mein Bemühen war darauf gerichtet, den Grundstein zu einem Glücke zu legen, an welchem wir Beide Theil nehmen konnten.«
»So lange wir nicht wissen, was wir thun sollen, besteht unsere ganze Weisheit darin, in Unthätigkeit zu verharren. Von allen Grundsätzen ist dies derjenige, an welchen sich der Mensch vorzugsweise halten muß und den er zugleich am wenigsten zu befolgen versteht. Sucht man das Glück, ohne zu wissen wo es ist, so läuft man Gefahr, sich von ihm immer weiter zu entfernen, setzt man es bei jedem Irrwege stets von Neuem auf das Spiel. Aber es versteht nicht Jedermann, sich ruhig zu verhalten. Bei der Unruhe, mit welcher uns die Sucht nach Wohlbefinden erfüllt, laufen wir in dem Haschen nach demselben lieber in der Irre umher, als daß wir, um es zu suchen, in Unthätigkeit bleiben; und haben wir uns einmal von der Stelle entfernt, von der aus wir es zu erkennen vermöchten, so wissen wir uns nie wieder auf dieselbe zurückzufinden.«
»Obgleich ich mich in der nämlichen Unwissenheit befand, suchte ich doch diesen Fehler zu vermeiden. Als ich die Sorge für dich übernahm, war ich entschlossen, nicht einen einzigen unnützen Schritt zu thun, und auch dich davon abzuhalten. Ich hielt mich auf dem Wege der Natur, in der Voraussetzung, daß sie mir auch den zum Glücke weisen würde. Es hat sich herausgestellt, daß beide zusammenfielen, und daß ich, ohne es zu wissen, schon auf dem Wege zum Glücke war.«
»Sei du selbst mein Zeuge, sei mein Richter, nie werde ich dich als solchen ablehnen. Deine ersten Lebensjahre sind den späteren nicht zum Opfer gebracht worden. Alle Güter, mit welchen dich die Natur ausgestattet, hast du reichlich genossen. Von den Uebeln, welchen sie dich unterwarf und gegen die ich dich nicht habe schützen können, hast du doch nur diejenigen empfunden, welche dich gegen die übrigen abzuhärten vermochten. Nur um ein größeres Leiden zu vermeiden, hast du ein kleineres erdulden müssen. Weder Haß noch Sklaverei hast du kennen gelernt. Frei und zufrieden, bist du gerecht und gut geblieben, denn Leiden und Laster sind unzertrennlich mit einander verbunden, und erst dann wird der Mensch schlecht, wenn er unglücklich wird. Mögest du dir die Erinnerung an deine Kindheit bis in die spätesten Tage deines Lebens bewahren! Ich fürchte bei deinem guten Herzen nicht, daß du sie dir je ins Gedächtniß zurückrufen wirst, ohne die Hand zu segnen, die sie leitete.«
»Als du in das Alter der Vernunft tratest, habe ich dich vor den Vorurtheilen der Menschen bewahrt; als dein Herz lebhafter zu klopfen begann, habe ich dich vor der Herrschaft der Leidenschaften behütet. Wäre ich im Stande gewesen, dir diese innere Ruhe bis an dein Lebensende zu erhalten, so würde ich mein Werk in Sicherheit gebracht haben und du würdest beständig so glücklich sein, wie es ein Mensch nur zu sein vermag. Aber umsonst habe ich deine Seele, lieber Emil, in den Styx getaucht, es ist mir nicht gelungen, sie überall unverwundbar zu machen. Ein neuer Feind steht wider dich auf, den du noch nicht zu besiegen gelernt hast, und vor dem ich dich nicht habe schützen können. Dieser Feind bist du selbst. Natur und Schicksal hatten dich frei gelassen. Mißgeschick vermochtest du zu ertragen, Schmerzen des Körpers konntest du aushalten, die der Seele waren dir noch unbekannt. Du warst nur in so weit abhängig, wie es die menschliche Lage mit sich bringt. Jetzt dagegen hängst du von all den Neigungen ab, die du selbst in dir groß gezogen hast. Dadurch, daß du wünschen lerntest, hast du dich zum Sklaven deiner Wünsche gemacht. Von welchen Schmerzen kann deine Seele ergriffen werden, ohne daß du dich im Geringsten änderst, ohne daß dich irgend etwas kränkt, ohne daß irgend etwas dein Wesen berührt! Welche Leiden kannst du empfinden, ohne krank zu sein! Wie oft kannst du den Tod erleiden, ohne zu sterben! Eine Lüge, ein Irrthum, ein Zweifel kann dich in Verzweiflung stürzen.«
»Du sahst auf dem Theater, wie Helden, die sich dem Uebermaße ihres Schmerzes überließen, die Scene mit wahnsinnigem Geschrei erfüllten, einen weibischen Kummer bezeigten, wie Kinder weinten und sich so den öffentlichen Beifall erwarben. Erinnerst du dich, wie du dich über dieses Jammern, dieses Geschrei und Wehklagen von Männern ärgertest, bei denen man nur Beweise von Standhaftigkeit und Festigkeit hätte erwarten dürfen? Wie, sagtest du voller Entrüstung, sind das die Beispiele, die man uns zur Nachachtung, und die Muster, die man uns zur Nachahmung aufstellt? Ist man etwa besorgt, daß der Mensch nicht klein, nicht unglücklich, nicht schwach genug sei, wenn man seiner Schwäche nicht unter dem Trugbilde der Tugend noch Weihrauch streut? Mein junger Freund, sei dergleichen Auftritten gegenüber in Zukunft nachsichtiger, denn du bist auch schon einer ihrer Helden geworden.«
»Du kannst leiden und sterben. Bei physischen Leiden weißt du dich dem Gesetze der Notwendigkeit zu fügen, aber der Leidenschaft deines Herzens hast du noch kein Gesetz auferlegt, und doch liegt die Ursache zu der Störung unseres Lebens weit mehr in unseren Neigungen als in unsern Bedürfnissen. Unsere Wünsche sind sehr viel umfassend, während unsere Kraft völlig unzureichend ist. Des Menschen Wünsche hängen an tausenderlei Dingen, an und für sich hängt der Mensch dagegen an nichts, nicht einmal am Leben. Mit der Vermehrung seiner Neigungen nehmen auch seine Leiden zu. Alles ist nur geschaffen, um ein vergängliches Leben auf Erden zu führen. Früher oder später wird uns Alles entschlüpfen, was wir lieb haben, und trotzdem hangen wir daran, als ob es ewig dauern sollte. Welcher Schrecken überfiel dich bei dem bloßen Gedanken, Sophie könnte gestorben sein! Hast du denn wirklich erwartet, daß sie ewig leben könnte? Stirbt Niemand ihres Alters? Sie muß sterben, mein Kind, und vielleicht noch vor dir. Wer will wissen, ob sie in diesem Augenblicke noch lebt? Die Natur hatte dich nur einem einzigen Tode unterworfen; du selbst unterwirfst dich noch einem zweiten, und befindest dich nun in der Lage zweimal zu sterben.«
»Da du deinen regellosen Leidenschaften dergestalt unterworfen bist, wirst du bald aufrichtig zu bedauern sein. Stets Entbehrungen, stets Verluste, stets Unruhe! Nicht einmal an dem, was dir geblieben ist, wirst du einen rechten Genuß haben. Die Furcht, Alles zu verlieren, wird bewirken, daß du nie deines Besitzes froh wirst. Dafür, daß du nur deinen Leidenschaften hast nachgeben wollen, wird es dir nie möglich werden, sie zu befriedigen. Während du unablässig Ruhe suchst, wird sie beständig vor dir fliehen. Du wirst dich elend fühlen und schlecht werden. Und wie sollte es nicht dahin kommen, da du deine zügellosen Begierden als alleiniges Gesetz anerkennst? Wenn du unfreiwillige Entbehrungen nicht zu erdulden vermagst, wie willst du dann im Stande sein, dir freiwillig solche aufzuerlegen? Wie würdest du deine Neigung der Pflicht zum Opfer bringen und deinem Herzen widerstehen können, um deiner Vernunft Gehör zu geben? Du, der du schon den Ueberbringer der Todesnachricht deiner Geliebten nicht wiedersehen willst, wie würdest du den Anblick dessen zu erdulden vermögen, der sie dir lebend rauben wollte und sich dir zu sagen erkühnte: ›Sie ist todt für dich, die Tugend scheidet dich von ihr.‹ Wenn du einmal durchaus unter allen Umständen mit ihr leben mußt, gleich viel ob Sophie verheirathet ist oder nicht, ob du frei bist oder nicht, ob sie dich liebt oder haßt, ob man dir ihre Hand gewährt oder verweigert: so hat dies für dich Alles nichts auf sich, du willst sie einmal und mußt sie deshalb um jeden Preis besitzen. Sage selbst, vor welchem Verbrechen wird der wol zurückbeben, der nur die Wünsche seines Herzens als Gesetze anerkennt und sich nichts zu versagen weiß, was dasselbe begehrt?«
»Mein Kind, es gibt kein Glück ohne Muth, keine Tugend ohne Kampf. Das Wort Tugend wird von taugen abgeleitet, welches so viel wie tüchtig sein bedeutet. Die Tüchtigkeit, die innere Kraft, ist das Fundament aller Tugend. Die Tugend findet sich nur bei Wesen, die bei all ihrer natürlichen Schwäche doch Willenskraft besitzen. In letzterer allein besteht das Verdienst des rechtschaffenen Mannes. Obgleich wir Gott Güte zuschreiben, so verbinden wir mit seinem Wesen doch nicht den Begriff der Tugend, weil er keiner Anstrengung bedarf, um das Gute zu thun. Mit der Erklärung dieses so häufig gemißbrauchten Wortes habe ich so lange Anstand genommen, bis du im Stande warst, mich zu verstehen. Man vergleiche Montaigne, liv. II, chap. XI. So lange die Uebung der Tugend keine Anstrengung kostet, braucht man sie noch nicht zu kennen. Die Nothwendigkeit stellt sich erst in dem Augenblicke heraus, wo die Leidenschaften erwachen: für dich ist derselbe jetzt gekommen.«
»Indem ich dich in aller Einfachheit der Natur erzog, habe ich dich, statt dir beschwerliche Pflichten zu predigen, vor Lastern bewahrt, welche diese Pflichten eben erst beschwerlich erscheinen lassen. Ich habe dir die Lüge weniger verhaßt als unnütz gemacht. Ich habe dir weniger eingeprägt, einem Jeden das Seine zu geben, als dich vielmehr dazu angehalten, dich nur um das Deine zu kümmern. Ich habe dich mehr zu einem guten als zu einem tugendhaften Menschen erzogen. Wer indeß blos gut ist, bleibt es nur so lange, als er Gefallen daran findet. Im Sturme der menschlichen Leidenschaften scheitert die Güte und geht zu Grunde. Der Mensch, der blos gut ist, zeigt diese Güte nur gegen sich.«
»Wer ist demnach ein tugendhafter Mensch? Derjenige, der seine Neigungen zu bezähmen versteht. Denn alsdann dient ihm seine Vernunft, sein Gewissen zur Richtschnur; er thut seine Pflicht, bleibt auf dem für richtig erkannten Wege und nichts vermag ihn von demselben zu entfernen. Bis jetzt warst du nur scheinbar frei, du besaßest nur die unsichere Freiheit eines Sklaven, der noch keinen Befehl erhalten hat. Von nun an sei in Wirklichkeit frei! Lerne dein eigener Herr werden! Gebiete deinem Herzen, Emil, und du wirst tugendhaft sein.«
»Wiederum hast du also eine neue Lehrzeit durchzumachen, und diese Lehrzeit ist mühseliger als die erste, denn die Natur befreit uns zwar von den Leiden, die sie selbst uns auferlegt, oder lehrt sie uns wenigstens ertragen, aber sie gibt uns kein Mittel gegen diejenigen an die Hand, welche ihre Quelle in uns selbst haben; in Bezug auf diese überläßt sie uns ganz uns selbst. Sie gibt zu, daß wir als Opfer unserer Leidenschaften unseren grundlosen Schmerzen unterliegen und uns sogar noch der Thränen rühmen, über die wir weit eher erröthen sollten.«
»Zum ersten Male ist jetzt deine Leidenschaft erwacht. Es ist vielleicht die einzige, welche deiner würdig ist. Verstehst du es, sie als Mann zu beherrschen, so wird sie auch die letzte sein. Alle übrige wirst du bezwingen und nur dem Ansporn der Tugend gehorchen.«
»In dieser Leidenschaft liegt, wie ich sehr wohl weiß, nichts Verbrecherisches. Sie ist eben so rein wie die Seelen, die sie empfinden. Die Einsamkeit bildete sie und die Unschuld gab ihr Nahrung. Glückliche Liebende! In euch gesellen sich die Reize der Tugend zu denen der Liebe, und das süße Band, das eurer wartet, ist nicht weniger der Lohn eurer Sittsamkeit als der eurer Zuneigung. Aber sage mir, du aufrichtiger Mensch, hat dich diese an sich so reine Leidenschaft deshalb weniger unterjocht? Bist du weniger ihr Sklave geworden? Und würdest du, wenn sie morgen aufhörte, unschuldig zu sein, sie von morgen an ersticken? Schon jetzt, in diesem Augenblicke, gilt es deine Kräfte zu versuchen; es ist zu spät dazu, wenn es darauf ankommt, sie anzuwenden. Es ist nothwendig, daß diese gefährlichen Versuche fern von der Gefahr angestellt werden. Man übt sich nicht erst dem Feinde gegenüber im Kampfe. Noch vor dem Kriege rüstet man sich zu demselben. Nach vollendeter Rüstung tritt man dem Feinde erst entgegen.«
»Es ist eine irrthümliche Anschauung, wenn man zwischen erlaubten und verbotenen Leidenschaften unterscheidet, um sich den ersteren hinzugeben und die letzteren zu bekämpfen. Alle sind gut, sobald man ihrer Herr bleibt, alle sind dagegen auch wieder schlecht, sobald man sich ihrer Herrschaft unterwirft. Die Natur verbietet uns nun, unsere Neigungen über das Maß unserer Kräfte auszudehnen, die Vernunft verbietet das zu wollen, was wir nicht erreichen können, während das Gewissen zwar nicht verbietet, daß die Versuchung an uns herantritt, wol aber, daß wir uns von derselben besiegen lassen. Es steht nicht in unserm eigenen Belieben, Leidenschaften zu haben oder nicht zu haben, aber es hängt von uns ab, über sie zu herrschen. Alle Empfindungen, welche wir beherrschen, sind berechtigt, alle aber, die uns beherrschen, sind sündhaft. In der Liebe eines Mannes zu dem Weibe eines andern liegt nichts Strafbares, wenn er sich durch diese unglückliche Leidenschaft nicht verleiten läßt, das Gesetz der Pflicht zu verletzen; er macht sich aber durch die Liebe zu seiner eigenen Frau strafbar, wenn er der Liebe Alles opfert.«
»Erwarte von mir keine weitschweifige moralische Lehren; ich habe dir nur eine einzige zu geben, welche alle übrige in sich schließt. Sei ein Mensch, laß dein Herz die Schranken deiner menschlichen Stellung nicht überschreiten. Erforsche und erkenne diese Schranken. Wie eng sie auch sein mögen, so ist man doch nie unglücklich, so lange man innerhalb derselben bleibt. Erst dann wird man es, wenn man sie überschreiten will, erst dann, wenn man in seinen unsinnigen Begierden das Unmögliche für möglich betrachtet, seine menschliche Stellung vergißt, um in einer Traumwelt zu leben, aus der man doch immer wieder in das Reich der Wirklichkeit zurücksinkt. Die einzigen Güter, deren Entbehrung uns schmerzlich ist, sind diejenigen, auf welche wir ein Anrecht zu besitzen glauben. Die augenscheinliche Unmöglichkeit, in ihren Besitz zu gelangen, lenkt unsere Gedanken von ihnen ab. Hoffnungslose Wünsche vermögen uns nicht zu martern. Einen Bettler ficht der Wunsch, König zu sein, wenig an. Ein König wird nur danach streben, Gott zu sein, wenn er nicht mehr Mensch zu sein glaubt.«
»Die Illusionen des Stolzes sind die Quelle unserer größten Uebel. Die Betrachtung des menschlichen Elends macht den Weisen dagegen stets maßvoll. Er verharrt auf der ihm angewiesenen Stelle und bereitet sich keine Unruhe mit dem fruchtlosen Wunsche, aus ihr herauszutreten. Er vergeudet seine Kräfte nicht mit dem vergeblichen Streben, sich den Genuß dessen zu verschaffen, was er sich doch nicht erhalten kann, und indem er sie sämmtlich darauf verwendet, seines wirklichen Besitzes froh zu werden, wächst seine Macht und sein Reichthum in Wahrheit um so viel, als er weniger denn wir erstrebt. Kann ich sterbliches und vergängliches Wesen wol auf dieser Erde, wo Alles wechselt und vergeht, und von der ich morgen wieder verschwinden werde, ewige Bande knüpfen? O Emil, o mein Sohn, was würde mir noch bleiben, wenn ich dich verlöre? Und dennoch muß ich mich mit dem Gedanken an deinen Verlust vertraut machen, denn wer weiß, wie bald du mir entrissen wirst.«
»Willst du folglich glücklich und weise leben, so hänge dein Herz nur an die Schönheit, welche nie vergeht. Richte deine Wünsche nach deinen Verhältnissen, ordne deine Neigungen deinen Pflichten unter, unterwirf auch das Moralische dem Gesetze der Nothwendigkeit. Lerne verlieren, was dir entrissen werden kann, lerne auf Alles verzichten, wenn es die Tugend erheischt, dich über die Ereignisse hinwegsetzen, dein Herz von ihnen lösen, ohne daß sie es zerreißen, lerne muthig sein unter Widerwärtigkeiten, damit du nie elend werdest, und fest in deiner Pflicht, damit du dich nie strafbar machst. Dann wirst du dem Schicksal zum Trotz glücklich und den Leidenschaften zum Trotz weise sein; dann wirst du sogar im Besitze vergänglicher Güter eine Freude empfinden, die nichts zu stören vermag. Du wirst sie besitzen, ohne daß sie dich besitzen, und du wirst fühlen, daß der Mensch, dem doch Alles entgleitet, nur das recht genießt, was er zu verlieren weiß. Es ist freilich wahr, daß dir die Illusionen eingebildeter Freuden verloren gehen, dafür wirst du aber auch von den Schmerzen verschont bleiben, die ihre Frucht sind. Du wirst bei diesem Tausche viel gewinnen, denn während jene Freuden selten und nichtig sind, sind diese Schmerzen häufig und wirklich. Nachdem du so viele trügerische Meinungen zurückgewiesen hast, wirst du auch derjenigen siegreich widerstehen, welche dem Leben einen zu hohen Werth beilegt. Du wirst das deinige ohne Unruhe zurücklegen und es ohne Schrecken beenden. Du wirst dich von ihm eben so wie von allem Uebrigen losreißen. Mögen Andere, von Schrecken ergriffen, dem Wahne huldigen, daß sie mit dem Austritt aus dem Leben zu sein aufhören, du wirst vielmehr, da du dich von der Nichtigkeit desselben überzeugt hast, fest glauben, daß das wahre Leben jetzt erst beginnt. Der Tod bildet für den Bösen des Lebens Ende, für den Gerechten den eigentlichen Anfang.«
Emil hört mich mit einer von Unruhe gemischten Aufmerksamkeit an. Er besorgt einen traurigen Schluß dieser Einleitung. Ihm ahnt, daß ich ihm die Notwendigkeit, die Seelenkraft zu üben, nur vorhalte, um ihn darauf vorzubereiten, daß ich ihn dieser harten Uebung unterwerfen will. Wie ein Verwundeter zittert, sobald er den Wundarzt nahen sieht, so glaubt er auf seiner Wunde schon die schmerzende, wenn auch heilsame Hand zu fühlen, die ihn von dem Verderben zurückhält.
Ungewiß, beunruhigt und ungeduldig zu erfahren, was ich eigentlich im Schilde führe, fragt er mich, anstatt zu antworten, obwol mit einiger Bangigkeit. »Was muß ich thun?« beginnt er fast zitternd, und ohne zu wagen, die Augen zu mir zu erheben. »Was du thun mußt?« erwidere ich festen Tones, »du mußt Sophie verlassen.« – »Was sagen Sie?« ruft er leidenschaftlich aus, »Sophie verlassen! Sie verlassen, sie hintergehen, ein Verräther an ihr werden, ein Schurke, ein Meineidiger!« – »Wie?« versetze ich, ihn unterbrechend, »mir kannst du zutrauen, daß ich dich anhalten werde, dir solche Namen zu verdienen?« – »Nein,« entgegnet er mit derselben Leidenschaftlichkeit, »weder Sie noch ein Anderer könnte mich dazu zwingen. Selbst wider Ihren Willen werde ich Ihr Werk aufrecht zu erhalten wissen; nie werde ich diese Namen verdienen.«
Auf diesen ersten Wuthausbruch hatte ich mich gefaßt gemacht. Ich ließ ihn, ohne in Aufregung zu gerathen, vorübergehen. Besäße ich nicht selbst die Mäßigung, die ich ihm predige, so würde es mir übel anstehen, sie ihm zu predigen! Emil kennt mich zu genau, um mir zuzutrauen, daß ich je etwas Schlechtes von ihm verlangen könnte, und er weiß sehr wohl, daß er eine schlechte Handlung begehen würde, wollte er Sophie in dem Sinne verlassen, welchen er diesem Worte beilegt. Er erwartet also doch schließlich, daß ich mich endlich erkläre. Und so fahre ich in meiner Rede denn weiter fort:
»Kannst du dir vorstellen, lieber Emil, daß ein Mann, in welcher Lage er sich auch befinde, glücklicher sein könnte, als du es seit drei Monaten bist? Wenn du es glaubst, so erkenne deinen Irrthum. Sinnengenuß ist vorübergehend, der gewohnte Herzenszustand verliert stets dabei. Du hast in Hoffnung schon einen größeren Genuß gehabt, als dir je in Wirklichkeit zu Theil werden wird. Die Phantasie, welche den Gegenstand unseres Sehnens verschönt, ist bei dem Besitze in Unthätigkeit. Mit Ausnahme des einzigen Wesens, welches durch sich selbst existirt, ist nur das schön, was nicht ist. Wenn dein gegenwärtiger glücklicher Zustand hätte dauernden Bestand haben können, so würdest du das höchste Glück gefunden haben. Aber alles Menschliche ist hinfällig, Alles ist endlich, Alles im Menschenleben ist vorübergehend. Selbst wenn der Zustand, welcher uns glücklich macht, immer dauern würde, so müßte doch die Gewohnheit des Genusses denselben wesentlich abschwächen. Wenn auch äußerlich keine Aenderung eintritt, so ist doch das Herz einem Wechsel unterworfen. Das Glück verläßt uns oder wir verlassen das Glück.«
»Während deines Liebesglückes ist die Zeit, welche du zu messen vergaßest, verflossen. Der Sommer ist vergangen, der Winter steht vor der Thür. Könnten wir auch unsere Ausflüge während einer so rauhen Jahreszeit fortsetzen, so würde man es doch nie dulden. So ungern wir uns auch dazu bequemen, so müssen wir dennoch unsere Lebensweise ändern; unsere jetzige darf nicht länger so fortdauern. Deine ungeduldigen Blicke geben mir zu verstehen, daß du glaubst, diese Schwierigkeit leicht heben zu können. Sophiens Geständniß so wie dein eigenes Sehnen geben dir ein leichtes Mittel an die Hand, den Schnee zu vermeiden und der Wanderung zu ihrem Besuche überhoben zu sein. Dieses Hilfsmittel ist unstreitig bequem. Ist aber der Frühling gekommen, so schmilzt zwar der Schnee, doch die Ehe bleibt. Allein man muß sein Sinnen auf alle Jahreszeiten richten.«
»Du willst Sophie heirathen, obwol du sie noch nicht fünf volle Monate kennst. Du willst sie nicht deshalb heirathen, weil sie für dich paßt, sondern weil sie dir gefällt. Als ob sich die Liebe noch nie über die Angemessenheit getäuscht hätte, und als ob anfängliche Liebe noch nie in Haß umgeschlagen wäre! Sie ist tugendhaft, ich weiß es. Ist das aber schon ausreichend? Genügt Einsamkeit allein, um in der Ehe die Herzen auf das innigste zu verbinden? Nicht ihre Tugend ziehe ich in Zweifel, aber ihr Charakter flößt mir Bedenken ein. Läßt sich der Charakter einer Frau etwa in einem Tage erkennen? Weißt du, in wie viel Lagen man sie gesehen haben muß, um ihr Gemüth völlig zu durchschauen? Gibt eine viermonatliche Zuneigung eine Bürgschaft für das ganze Leben? Vielleicht hat sie dich schon nach einer Abwesenheit von zwei Monaten wieder vergessen. Vielleicht wartet schon ein Anderer nur auf deine Entfernung, um dich aus ihrem Herzen zu verdrängen. Vielleicht wirst du sie bei deiner Rückkehr eben so gleichgiltig finden, als du sie bis jetzt für deine Liebe empfänglich fandest. Die Gefühle haben mit den Grundsätzen nichts zu schaffen. Sophie kann sehr sittsam bleiben und trotzdem dich zu lieben aufhören. Ich glaube freilich annehmen zu können, daß sie in ihrer Liebe unwandelbar und treu sein wird. Wer aber bürgt dir für sie und wer bürgt ihr für dich, so lange ihr euch noch keiner gegenseitigen Probe unterworfen habt? Wollt ihr mit dieser Probe warten, bis sie euch überflüssig ist? Wollt ihr, um euch kennen zu lernen, warten, bis ihr euch nicht mehr zu trennen vermögt?«
»Sophie zählt kaum achtzehn Jahre, während du kaum das zweiundzwanzigste zurückgelegt hast. Das ist das Alter für die Liebe, aber nicht für die Ehe. Was für einen Hausvater und eine Hausmutter würdet ihr abgeben! Um Kinder erziehen zu können, wartet wenigstens so lange, bis ihr selbst die Kinderschuhe ausgezogen habt. Weißt du, wie vielen jungen Frauen die Beschwerden einer zu früh eingetretenen Schwangerschaft den Körper geschwächt, die Gesundheit untergraben und das Leben verkürzt haben? Weißt du, wie viel Kinder kraftlos und schwach geblieben sind, weil sie in einem noch nicht völlig ausgebildeten Körper ihre erste Nahrung fanden? Wenn noch die Mutter eben so wie ihr Kind wachsen muß und sich deshalb der zum Wachsthum nothwendige Nahrungsstoff unter Zwei vertheilt, wenn also keines von ihnen das erhält, was ihnen nach der Bestimmung der Natur nöthig ist, wie ist es dann anders möglich, als daß Beide darunter zu leiden haben? Ich müßte dich sehr schlecht kennen, Emil, wenn ich dir nicht zutrauen sollte, daß du lieber später eine gesunde Frau und kräftige Kinder haben, als deine Ungeduld auf Kosten deiner Gattin und ihrer Gesundheit befriedigen möchtest.«
»Ich will nur noch einige Bemerkungen in Bezug auf dich selbst anknüpfen. Hast du wol, da du dich nach dem Gatten- und Vaterstande sehnst, schon über die damit verknüpften Pflichten nachgedacht? Dadurch, daß du ein Familienhaupt wirst, trittst du auch zugleich in die Reihen der vollberechtigten Glieder des Staats ein. Was heißt das, ein Staatsglied sein? Weißt du es? Die Pflichten, die dir als Menschen obliegen, hast du studirt; kennst du aber auch deine bürgerlichen Pflichten? Weißt du, was Regierung, Gesetz, Vaterland zu bedeuten hat? Weißt du, um welchen Preis es dir zu leben gestattet ist, und für wen du sterben mußt? Du bildest dir ein, Alles gelernt zu haben und weißt eigentlich doch noch nichts. Bevor du eine Stellung in der bürgerlichen Ordnung einnimmst, lerne letztere erst kennen und mache dich damit vertraut, welcher Rang dir in derselben gebührt.«
»Emil, du mußt Sophie verlassen. Ich will damit nicht sagen, daß du sie aufgeben sollst. Wärest du dessen fähig, so würde sie sich nur glücklich preisen können, wenn sie sich nie mit dir vermählte. Du mußt sie verlassen, um ihrer würdig zurückzukehren. Gib dich nicht dem eitlen Wahne hin, du habest sie jetzt schon verdient. O, wie viel bleibt dir noch zu thun! Eile, diese edle Aufgabe zu erfüllen; lerne eine Trennung von ihr auszuhalten; gewinne den Lohn der Treue, damit du sie dir bei deiner Rückkehr vor ihr als Ehre anrechnen und ihre Hand nicht als eine Gnade, sondern als eine Belohnung begehren kannst.«