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Ich habe dies Bekenntniß hier eingeschoben, nicht als eine Richtschnur für die Gedanken, an die man sich in Sachen der Religion zu halten hat, sondern als ein Beispiel der Art und Weise, wie man dies Thema in vernünftiger Weise behandeln kann, damit man sich nicht von der Methode, die ich aufzustellen gesucht habe, zu entfernen braucht. So lange man sich nicht von der Autorität der Menschen oder von den Vorurteilen des Landes, in welchem man geboren ist, beeinflussen läßt, können uns die bloßen Einsichten der Vernunft in die Einrichtung der Natur nicht weiter als bis zur natürlichen Religion führen, und auf sie beschränke ich mich bei meinem Emil. Wenn er noch eine andere haben soll, so steht mir nicht mehr das Recht zu, ihm hierbei als Führer zu dienen. Es ist allein seine Sache, sie zu wählen.
Wir arbeiten im Einklänge mit der Natur; während sie den physischen Menschen bildet, bemühen wir uns, den moralischen Menschen auszubilden. Allein wir vermögen nicht mit ihr gleichen Schritt zu halten. Der Körper ist bereits kräftig und stark, während die Seele noch kraftlos und schwach ist, und was Menschenkunst auch aufbieten möge, so eilt die körperliche Entwickelung der Vernunft doch stets voraus. Die zu frühzeitige körperliche Reife zurückzuhalten und die Vernunft anzuregen, haben wir bisher unsere Hauptsorge sein lassen, damit der Mensch immer so viel als möglich ein in sich einiger sei. Dadurch, daß wir sein Naturell entwickelten, haben wir seine erwachende Sinnlichkeit abgelenkt. Die geistigen Objecte mäßigten den Eindruck der sinnlichen Objecte. Indem wir mit ihm bis auf den Urgrund aller Dinge zurückgingen, haben wir die Sinne nicht die Herrschaft über ihn gewinnen lassen. Es war natürlich, daß wir uns von dem Studium der Natur zur Aufsuchung ihres Schöpfers erhoben.
In wie vieler Beziehung haben wir uns wieder einen neuen Einfluß über unseren Zögling verschafft, wenn wir erst bis dahin gelangt sind! Wie viel neue Mittel, zu seinem Herzen zu reden, sind uns dadurch an die Hand gegeben! Nun erst findet er sein wahres Interesse daran, gut zu sein, das Gute zu thun, auch ungesehen von der Menschen Augen und ohne Zwang der Gesetze, gerecht zu sein im Widerstreite des göttlichen Willens mit seinem eigenen, seine Pflicht zu erfüllen selbst mit Daransetzung seines Lebens, und die Tugend in seinem Herzen zu bewahren, nicht allein aus Liebe zur Ordnung, welcher Jeder stets die Liebe zu sich selbst vorzieht, sondern aus Liebe zum Urheber seines Daseins, einer Liebe, welche mit jener Selbstliebe zusammenschmilzt, um sich endlich der dauernden Glückseligkeit erfreuen zu können, welche ihm die Ruhe eines guten Gewissens und die Betrachtung des höchsten Wesens in einem anderen Leben verheißen, nachdem er das irdische gut angewendet hat. Schwindet dieser Glaube, dann erblicke ich unter den Menschen nur noch Ungerechtigkeit, Heuchelei und Lüge. Das Sonderinteresse, welches bei einem Conflicte verschiedener Interessen nothwendig das Uebergewicht erhält, lehrt Jeden, das Laster mit der Maske der Tugend zu schmücken. Alle andere Menschen sollen mein Bestes auf Kosten des ihrigen herbeiführen. Alles soll sich nur um mich drehen; mag das ganze Menschengeschlecht in Noth und Elend dahinsterben, wenn es nur so möglich ist, mir einen Augenblick des Schmerzes und Hungers zu ersparen. So klingt die innere Sprache eines jeden Ungläubigen, der sich nur auf seine Vernunft verläßt. Ja ich werde, so lange ich lebe, behaupten: Wer in seinem Herzen spricht: »Es ist kein Gott,« und trotzdem eine andere Sprache führt, der ist entweder ein Lügner oder ein Unsinniger.
Doch, lieber Leser, ich fühle nur zu wohl, daß du trotz aller meiner Mühe meinen Emil in einem ganz anderen Lichte erblicken wirst als ich. Du wirst ihn dir stets euren jungen Leuten ähnlich vorstellen, beständig leichtsinnig, ausgelassen, flatterhaft, von Lustbarkeit zu Lustbarkeit, von Vergnügen zu Vergnügen eilend, ohne sich je von irgend etwas fesseln zu lassen. Es wird dein Lachen erregen, wenn du siehst, wie ich aus einem feurigen, lebhaften, leidenschaftlichen, aufbrausenden jungen Manne einen beschaulichen Charakter, einen Philosophen, einen förmlichen Theologen bilde. Du wirst sagen: Dieser Träumer macht stets auf Hirngespinnste Jagd; indem er uns einen Zögling seines eigenen Machwerks vorhält, bildet er ihn nicht blos, nein, er erschafft ihn, läßt ihn fertig aus seinem Gehirne hervorgehen, und während er sich immer einbildet, der Natur zu folgen, entfernt er sich doch jeden Augenblick weiter von ihr. Wenn ich nun meinerseits meinen Zögling mit den eurigen vergleiche, so entdecke ich kaum etwas, was sie mit einander gemein haben könnten. Bei einer so verschiedenen Erziehung müßte es ja auch fast als ein Wunder erscheinen, wenn er ihnen in irgend einer Beziehung ähnlich wäre. Da er seine Kindheit in all der Freiheit, die jene sich im Jünglingsalter nehmen, zugebracht hat, so beginnt er sich in seinem Jünglingsalter selbst in das Gesetz zu fügen, dem man sie schon als Kinder unterwarf. Dieses Gesetz wird jenen zur Geißel, unter welche sie sich nur mit Schauder beugen; sie erblicken darin die unausgesetzte Tyrannei ihrer Lehrer und kommen endlich zu dem Wahne, daß sie nur dadurch aus der Kindheit herauszutreten vermögen, daß sie jede Art von Joch abschütteln; Niemand blickt mit so großer Verachtung auf die Kindheit, als diejenigen, welche eben aus ihr heraustreten, eben so wie die Rangunterschiede nirgends mit größerer Aengstlichkeit beachtet werden, als in dem Lande, in welchem die Ungleichheit nicht groß ist und Jeder deshalb befürchtet, mit einem unter ihm Stehenden verwechselt zu werden. dann suchen sie sich für den langen Zwang, in dem man sie gehalten hat, schadlos zu halten, wie ein Gefangener, wenn er endlich seiner Fesseln entledigt ist, seine Glieder streckt, dehnt und schüttelt. Emil dagegen setzt seine Ehre darin, ein Mann zu werden und sich freiwillig dem Joche der sich regenden Vernunft zu unterwerfen. Da sein Körper bereits völlig ausgebildet ist, so bedarf er der gewohnten Bewegung nicht länger, und beginnt nun sich von selbst ruhig zu verhalten, während sein erst halb entwickelter Geist seine Schwingen regt. So ist das Alter der Vernunft für jene das Alter der Ungebundenheit, für diesen das Alter der zunehmenden Urtheilskraft.
Wollt ihr aber wissen, wer von ihnen, sie oder er, hierin der Ordnung der Natur am nächsten kommt, so betrachtet den Abstand zwischen denjenigen, welche ihr mehr oder weniger fern stehen; betrachtet die jungen Leute auf dem Lande, und seht, ob sie sich derselben Ausgelassenheit hingeben, wie die eurigen. »In ihrer Kindheit,« sagt Herr le Beau, »sieht man die Wilden beständig thätig und unaufhörlich mit allerlei Spielen beschäftigt, die den Körper in steter Bewegung erhalten. Kaum sind sie aber in das Jünglingsalter getreten, so werden sie gesetzt und in sich gekehrt und betheiligen sich höchstens noch an ernsten und mit Gefahren verknüpften Spielen.« Abenteuer des Herrn C. le Beau, Parlamentsadvocaten; Bd. II. S. 70. Da Emil in aller Freiheit junger Bauern und Wilden aufgewachsen ist, so muß auch bei ihm, wenn er heranwächst, eine gleiche Veränderung und ein gleicher Stillstand wie bei jenen eintreten. Der ganze Unterschied besteht darin, daß seine Thätigkeit nicht nur Spiel und Ernährung zum Zwecke hat, sondern daß er unter seinen Arbeiten und Spielen auch denken lernte. Hat er nun auf diesem Wege jenes Ziel erreicht, so ist auch schon die Neigung in ihm vorhanden, die Bahn zu wandeln, welche ich ihn jetzt führen will. Die Gegenstände des Nachdenkens, die ich ihm darbiete, reizen seine Wißbegierde, weil sie an sich schön und für ihn völlig neu sind, und weil er im Stande ist, sie zu begreifen. Wie sollten sich dagegen eure jungen Leute, die sich durch eure faden Lectionen, durch eure langathmigen Moralpredigten und euer ewiges Katechismuslernen gelangweilt und ermattet fühlen, nicht gegen eine Geistesbildung sträuben, die man ihnen so abstoßend gemacht, sich nicht gegen die lästigen Vorschriften auflehnen, mit denen man sie unaufhörlich überschüttet hat, sich nicht gegen die Betrachtungen über den Schöpfer ihres Daseins verschließen, den man ihnen stets als Feind ihrer Freuden dargestellt hat? Alles dies hat ihnen nur Widerwillen, Abneigung und Ekel eingeflößt. Der Zwang hat sie davon zurückgeschreckt. Welches Mittel sollte nun, wo sie anfangen über sich selbst zu bestimmen, sie wol dazu bewegen können, daß sie sich auch ferner damit beschäftigen? Was ihr Wohlgefallen erregen soll, muß neu sein; mit dem, worüber man mit Kindern spricht, muß man sie verschonen. Mit meinem Zöglinge verhält es sich eben so. Sobald er ein Mann wird, rede ich mit ihm wie mit einem Manne und sage ihm nur solche Dinge, die ihm neu sind. Gerade, weil Andere sie langweilig finden, müssen sie seinem Geschmacke zusagen.
Indem ich auf diese Weise den Fortschritt der Natur zu Gunsten der Vernunft zurückhalte, lasse ich Emil doppelt Zeit gewinnen. Habe ich denn diesen Fortschritt aber in der That aufgehalten? Nein, ich habe nur die Einbildungskraft verhindert, ihn zu beschleunigen; ich habe durch Lehren anderer Art den unzeitigen Lehren, welche der Jüngling von anderer Seite her erhält, das Gleichgewicht gehalten. Wenn wir ihn, sobald ihn der Strom unserer erziehlichen Mittel mit fortreißt, durch andere Erziehungsmittel in eine entgegengesetzte Richtung hineindrängen, so heißt dies nicht, ihn von seinem rechtmäßigen Platze entfernen, sondern auf demselben erhalten.
Endlich erscheint nun aber auch der richtige Zeitpunkt der Natur; er muß kommen. Da der Mensch sterben muß, so muß er sich auch fortpflanzen, damit die Gattung fortdauere und die Weltordnung erhalten werde. Sobald euch nun die Zeichen, welche ich oben besprochen habe, zu erkennen geben, daß der kritische Augenblick sich naht, so gebet ihm gegenüber sofort den bisherigen Ton und zwar für immer auf. Er steht zwar noch unter eurer Obhut, ist aber nicht mehr euer Zögling. Er ist ein Mann, behandelt ihn deshalb auch von nun an als solchen.
Wie! Ich soll auf meine Autorität verzichten, wenn ich sie gerade am nöthigsten gebrauche? Ich soll den so eben erst in das mannbare Alter eingetretenen Jüngling in dem Augenblicke sich selbst überlassen, wo er sich am wenigsten selbst zu leiten versteht und am meisten zu Ausschweifungen geneigt ist? Ich soll mich meiner Rechte begeben, wenn es für ihn von der größten Bedeutung ist, daß ich dieselben in Anwendung bringe? Deiner Rechte? Wer redet denn von Verzichtleistung auf dieselben? Jetzt erst beginnen sie für denselben. Was ihr bis jetzt von ihm erlangtet, habt ihr nur auf dem Wege der Gewalt oder der List erreicht. Autorität und Gebote der Pflicht waren ihm unbekannt. Nur durch Anwendung von Zwang oder Täuschung konnte man ihn zum Gehorsam bringen. Nun überschauet aber die vielen neuen Bande, mit denen ihr sein Herz umgeben habt! Vernunft, Freundschaft, Dankbarkeit, tausendfache Regungen der Zärtlichkeit sprechen in einem Tone zu ihm, den er nicht mißverstehen kann. Das Laster hat ihn gegen ihre Stimme noch nicht taub gemacht. Bis jetzt ist er nur für die natürlichen Leidenschaften empfänglich. Die Hauptleidenschaft, die Liebe zu sich selbst, liefert ihn euch in die Hände, eben so die Gewohnheit. Entreißt ihn euch auch die Aufwallung eines Augenblicks, so führt ihn doch die Reue sofort wieder zu euch zurück. Das Gefühl, das ihn an euch fesselt, ist allein von Dauer; alle übrige sind flüchtig und verwischen sich gegenseitig. Laßt ihn nur nicht verderben, so wird er sich stets folgsam zeigen. Erst wenn er schon verdorben ist, beginnt er widersetzlich zu werden.
Ich räume ein, daß er, wenn ihr den in ihm aufsteigenden Begierden offen entgegenträtet und die neuen Bedürfnisse, die sich in ihm fühlbar machen, unklugerweise als Verbrechen behandeltet, euch nicht lange Gehör schenken würde; solltet ihr indeß von meiner Methode abgehen, so bürge ich euch für nichts mehr. Seid stets eingedenk, daß ihr nur Diener der Natur seid, dann werdet ihr nie als Feinde derselben auftreten.