Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Studiret ein Volk außerhalb seiner Städte, denn nur auf diese Weise werdet ihr es wirklich kennen lernen. Die bloße Beobachtung der Allen in die Augen fallenden Form einer Regierung, wie sie sich unter der Hülle des äußeren Prunkes der Verwaltung und nach dem Geschwätze der Regierungsorgane darstellt, ist völlig werthlos, wenn man nicht gleichzeitig nach den Wirkungen, die sie auf das Volk ausübt, ihr wahres Wesen und zwar auf allen Stufen der Verwaltung studirt. Da sich das Abweichende in der Form im Grunde genommen auf alle diese Stufen vertheilt, so kann man es auch nur dann kennen lernen, wenn man sich mit ihnen allen eingehend beschäftigt. In dem einen Lande verräth sich der Geist der Regierung durch das Verfahren der Unterbeamten; in einem andern Lande muß man der Wahl der Parlamentsmitglieder beigewohnt haben, um beurtheilen zu können, ob die Nation frei ist. Was für ein Land es aber auch immer sein möge, so ist es unmöglich, die Regierung kennen zu lernen, wenn man nur die Städte gesehen hat, weil sich der Geist derselben auf Stadt und Land nie in gleicher Weise äußert. Wie das eigentliche Land das Staatsgebiet ausmacht, so bildet auch die Landbevölkerung die Nation.

Dieses Studium der verschiedenen Völker in ihren entlegenen Provinzen und in der Einfachheit ihres ursprünglichen Geistes läßt uns eine allgemeine Wahrnehmung machen, die für mein Motto im höchsten Grade günstig und für das menschliche Herz sehr tröstend ist, nämlich die, daß alle Nationen bei einer solchen Beobachtung einen viel höheren Werth zu haben scheinen. Je mehr sie sich der Natur nähern, desto vorherrschender ist die Güte in ihrem Charakter. Nur dadurch, daß sie sich in Städte einschließen, daß die Cultur eine Wandelung in ihnen hervorbringt, werden sie schlechter und geben einigen, nicht sowol aus Bosheit als aus ihrer niederen Bildung hervorgegangenen Mängeln den Anstrich angenehmer, aber verderblicher Laster.

Diese Wahrnehmung lehrt, daß mit der Art zu reisen, welche ich vorschlage, ein neuer Vortheil verbunden ist. Da sich die jungen Leute nur kurze Zeit in den großen Städten, diesen Brutstätten einer entsetzlichen Sittenverderbniß, aufhalten, so sind sie weniger der Gefahr ausgesetzt, von derselben ergriffen zu werden, und bewahren sich unter einfacheren Menschen und in weniger zahlreichen Gesellschaften ein sichreres Urtheil, einen reineren Geschmack und züchtigere Sitten. Für meinen Emil ist übrigens eine solche Ansteckung nicht leicht zu fürchten, da er alle Eigenschaften besitzt, die vor ihr zu schützen im Stande sind. Unter all den Vorsichtsmaßregeln, die ich zu diesem Zwecke ergriffen habe, verdient nach meiner Ansicht die Liebe, die er im Herzen trägt, die erste Stelle.

Man scheint gar nicht mehr zu wissen, was wahre Liebe über die Neigungen junger Leute vermag, weil die, welchen ihre Erziehung anvertraut ist, sie eben so wenig kennen und ihre Zöglinge deshalb von derselben abzulenken suchen. Gleichwol aber muß ein junger Mann, wenn er nicht einen ausschweifenden Lebenswandel führen soll, wahrhaft lieben. Man kann sich durch den Schein leicht täuschen lassen. Man wird mir freilich tausend junge Leute anführen, die in dem Rufe stehen, auch ohne Liebe im höchsten Grade keusch zu leben. Aber man nenne mir auch nur einen einzigen älteren Mann, einen wirklichen Mann, der zu behaupten vermag, daß er seine Jugend in der That so verlebt habe, und dem man wirklich Glauben schenken darf. Bei allen Tugenden und allen Pflichten sucht man immer nur den Schein zu wahren. Ich aber, der ich nicht auf den Schein, sondern auf die Wirklichkeit ausgehe, müßte in großer Täuschung befangen sein, wenn es zu ihrer Erlangung noch andere als die von mir angegebenen Mittel geben sollte.

Der Gedanke, in Emils Herzen noch vor Antritt seiner Reise eine ernste Liebe anzufachen, beruht nicht etwa auf meiner Erfindung. Folgender Umstand hat mir denselben eingegeben.

Ich stattete in Venedig dem Erzieher eines jungen Engländers einen Besuch ab. Es war Winter, und wir saßen um den Kamin. Während dessen erhält der Erzieher seine Briefe von der Post. Er überfliegt sie und liest darauf einen derselben seinem Zöglinge laut vor. Da er in englischer Sprache abgefaßt war, verstand ich nichts davon, indeß entging es mir nicht, daß der junge Mann während des Vorlesens die sehr schönen Spitzenmaschetten, welche er trug, zerriß und sie eine nach der andern in das Feuer warf, was er so still als möglich that, offenbar, damit man es nicht bemerke. Ueber diesen sonderbaren Einfall verwundert, blicke ich ihm ins Gesicht und glaube wahrzunehmen, daß dasselbe eine Art Rührung verräth. Obgleich nun die äußern Kennzeichen der Leidenschaften bei allen Menschen ziemlich ähnlich sind, so haben dieselben gleichwol nationale Verschiedenheiten, über welche man sich leicht täuschen kann. Die Sprache des Gesichts ist bei den Völkern eben so verschieden wie die ihres Mundes. Ich warte, bis der Brief völlig vorgelesen ist, und frage den Erzieher, indem ich auf die bloßen Handgelenke seines Zöglings hinweise: »Darf man wissen, was dies bedeutet?« Als der Erzieher wahrnahm, was vorgegangen war, fing er zu lachen an, umarmte seinen Zögling mit offenbarer Befriedigung und gab mir, nachdem ihm Letzterer seine Zustimmung ausgedrückt hatte, die erbetene Aufklärung.

»Die Manschetten,« erzählte er, »welche Herr John so eben zerrissen hat, sind ihm von einer hiesigen Dame vor Kurzem geschenkt worden. Nun müssen Sie aber wissen, daß Herr John in seiner Heimat mit einem jungen Fräulein verlobt ist, die er innig liebt und welche in der That die höchste Liebe verdient. Jener Brief ist von der Mutter seiner Braut, und ich will Ihnen aus demselben die Stelle übersetzen, welche die Zerstörung, deren Zeuge Sie gewesen sind, verursacht hat.«

»Lucia läßt die Manschetten für Lord John nie aus der Hand. Miß Betty Roldham brachte den gestrigen Nachmittag bei ihr zu und wollte ihr durchaus bei ihrer Arbeit helfen. Da ich erfuhr, daß Lucia heute früher als gewöhnlich aufgestanden war, wünschte ich zu sehen, was sie eigentlich vorhatte, und fand sie damit beschäftigt, Alles, was Miß Betty gestern gearbeitet hatte, wieder aufzutrennen. Sie will nicht, daß an ihrer Gabe auch nur ein einziger Stich von einer anderen Hand als der ihrigen sei.«

Als Herr John bald darauf das Zimmer verließ, um andere Manschetten anzulegen, sagte ich zu seinem Erzieher: »Sie haben einen Zögling von vortrefflichem Gemüthe. Indeß, sagen Sie die Wahrheit, ist dieser Brief von Miß Bettys Mutter nicht auf Ihren Antrieb geschrieben? Ist er nicht eine Kriegslist, die Sie selbst gegen diese Dame mit den Manschetten ersonnen haben?« – »Nein,« entgegnete er, »es liegt hier wirklich keine gut gemeinte Täuschung vor; ich habe bei der Lösung meiner Aufgabe keine solche Kunstgriffe nöthig gehabt. Einfachheit und Eifer wußte ich bei meiner Arbeit zu verbinden, und Gott hat sie gesegnet.«

Der erwähnte Charakterzug dieses jungen Mannes ist nie meinem Gedächtnisse entfallen. Es war nicht anders möglich, als daß er auf einen Träumer, wie ich es bin, einen bleibenden Eindruck ausüben mußte.

Doch es ist Zeit, zu Ende zu kommen. Laßt uns Lord John zu Miß Lucia, d. h. Emil zu Sophie zurückführen. Mit einem Herzen, das seit seinem Scheiden an Zartheit nichts verloren hat, bringt er ihr einen erleuchteteren Geist zurück, seinem Vaterlande aber gereicht es zum Vortheil, daß er die Regierungen nach all ihren Lastern und die Völker nach all ihren Tugenden kennen gelernt hat. Ich selbst habe es zu veranstalten gewußt, daß er sich in jedem Volke mit irgend einem verdienstvollen Manne durch einen Vertrag der Gastfreundschaft nach Art der Alten verbunden hat, und werde nicht verdrossen darüber sein, wenn er diese Bekanntschaften durch einen regen brieflichen Verkehr zu unterhalten sucht. Ganz abgesehen davon, daß ein solcher Verkehr mit weit entlegenen Ländern nützlich sein kann und stets Annehmlichkeiten gewährt, so ist er jedenfalls ein vortrefflicher Schutz gegen die Herrschaft nationaler Vorurtheile, welche, da wir unser ganzes Leben lang mit ihnen zu kämpfen haben, früher oder später Gewalt über uns bekommen. Nichts ist geeigneter, ihnen diese Gewalt zu nehmen, als der unbefangene Verkehr mit verständigen und achtungswerthen Leuten, welche uns, da ihnen diese Vorurtheile fremd sind und sie dieselben durch ihre eigenen bekämpfen, so die Mittel an die Hand geben, sie einander unaufhörlich gegenüber zu stellen und uns vor allen zu hüten. Zwischen dem Verkehre mit Fremden, so lange sie sich in unserm Lande aufhalten, und dem Verkehre mit ihnen nach ihrer Rückkehr in die Heimat ist ein wesentlicher Unterschied. Im ersteren Falle beweisen sie stets gegen das Land, in welchem sie leben, eine gewisse Schonung, welche sie ihre wahren Gedanken über dasselbe verhehlen läßt oder sie während der Dauer ihres dortigen Aufenthalts mit günstigen Gedanken erfüllt. Nach ihrer Heimkehr tritt jedoch ein Umschlag ein, was zur Folge hat, daß sie bei ihren Urtheilen nur gerecht sind. Ich würde mich freuen, wenn ein Fremder, mit dem ich Rücksprache nähme, mein Vaterland besucht hätte, aber nach seiner Ansicht über dasselbe möchte ich ihn nur in seinem eigenen fragen.

Nachdem wir fast zwei volle Jahre darauf verwandt haben, einige der größeren und eine noch weit größere Anzahl der kleineren Staaten Europas zu durchstreifen, nachdem wir zwei oder drei Hauptsprachen erlernt, nachdem wir das wirklich Merkwürdige gesehen haben, sei es auf dem Gebiete der Natur oder dem der Künste, handle es sich um Regierungen oder Unterthanen: macht mich Emil, den die Ungeduld verzehrt, darauf aufmerksam, daß die zur Reise bestimmte Zeit abgelaufen sei. Darauf erwidere ich ihm: »Nun wohl, mein Freund, du wirst dich des Hauptzweckes unserer Reise erinnern. Du hast gesehen und beobachtet. Was ist nun das Endresultat deiner Beobachtungen? Was für einen Entschluß hast du gefaßt?« Ist nun meine Methode richtig, so wird er mir ungefähr folgende Antwort ertheilen müssen:

»Welchen Entschluß ich gefaßt habe? Das zu bleiben, wozu Sie mich erzogen haben, und zu den Fesseln, welche mir die Natur und die Gesetze angelegt, freiwillig nicht noch andere hinzuzufügen. Je mehr ich das Werk der Menschen in ihren Einrichtungen prüfe, desto mehr bricht sich in mir die Ueberzeugung Bahn, daß sie sich gerade durch ihr Jagen nach Unabhängigkeit selbst in Sklaverei stürzen, und daß sie sogar ihre Freiheit in vergeblichen Anstrengungen vergeuden, sich dieselbe zu sichern. Um nicht dem Strome der Dinge nachgeben zu müssen, lassen sie sich von Tausenderlei fesseln; wollen sie dann einen Schritt thun, so können sie nicht, und sind erstaunt, sich überall festgehalten zu sehen. Wie mir scheint, hat man, um sich frei zu machen, gar nichts zu thun. Es ist vollkommen ausreichend, daß man nicht aufhören will, es zu sein. Du allein, lieber Lehrer, hast mich frei gemacht, indem du mich lehrtest, mich der Nothwendigkeit zu unterwerfen. Sie möge an mich herantreten, wann es ihr beliebt, ich lasse mich ohne Zwang von ihr mit fortziehen; und da ich nicht Lust habe gegen sie anzukämpfen, so fasse ich für nichts, das mich zurückhalten könnte, Zuneigung. Auf unserer Reise habe ich mich nach irgend einem Erdwinkel umgesehen, wo ich gänzlich mein eigener Herr sein könnte; aber an welchem Orte wäre man wol unter den Menschen nicht mehr von ihren Leidenschaften abhängig? Alles wohl erwogen, habe ich gefunden, daß schon mein Wunsch einen Widerspruch in sich schließt. Denn sollte ich mein Herz auch sonst an nichts hängen, so würde ich mich doch immer von der Scholle fesseln lassen, auf der ich mich niedergelassen habe. Mein Leben würde mit dieser Scholle verknüpft sein, wie das der Dryaden mit ihren Bäumen. Ich habe mich davon überzeugt, daß ich, da Herrschaft und Freiheit einmal zwei unvereinbare Worte sind, nicht Herr einer Hütte sein könnte, ohne aufzuhören, meiner selbst Herr zu sein.«

Hoc erat in votis, modus agri non ita magnus. Horat. Sat. II, 6. »Das war immer mein Wunsch: ein Aeckerchen, nicht zu geräumig.«

»Ich erinnere mich, daß mein Vermögen die Ursache unserer Nachforschungen war. Sie bewiesen mir auf das Überzeugendste, daß ich mir Reichthum und Freiheit nicht gleichzeitig bewahren könnte. Wenn Sie jedoch wollten, daß ich frei und zugleich bedürfnißlos wäre, so verlangten Sie zwei Dinge, die sich nicht mit einander vereinen lassen, denn ich würde mich der Abhängigkeit von den Menschen nur dann entziehen können, wenn ich mich in die Abhängigkeit von der Natur begeben wollte. Was werde ich also mit dem Vermögen anfangen, das mir meine Eltern hinterlassen haben? Das Erste wird sein, daß ich mich von demselben unabhängig erhalte. Ich werde alle Bande lösen, die mich an dasselbe fesseln. Läßt man es mir, so wird es mir bleiben, raubt man es mir, so wird man mir dadurch noch nicht den Untergang bereiten. Ich werde mich nicht abquälen, es zu behalten, sondern fest an meinem Platze ausharren. Reich oder arm, ich werde frei sein. Ich werde es nicht allein in dem oder jenem Lande, in dieser oder jener Gegend, nein, ich werde es überall auf Erden sein. Für mich sind alle Fesseln des Vorurtheils zerrissen, ich kenne keine andere als die der Nothwendigkeit. Von Geburt an habe ich sie tragen lernen und werde sie bis an mein Ende tragen, denn ich bin ein Mensch. Und weshalb sollte ich sie nicht tragen dürfen, wenn ich frei bin, da ich sie als Sklave ja auch tragen müßte, und zum Ueberfluß noch die der Sklaverei.«

»Was kümmert mich meine Lage auf Erden? Was kümmert mich, wo ich bin? Ueberall, wo es Menschen gibt, bin ich bei meinen Brüdern; überall, wo es keine gibt, bin ich bei mir selbst. So lange ich im Stande sein werde, unabhängig und reich zu bleiben, habe ich Vermögen, um davon zu leben, und ich werde leben. Will mich dasselbe jedoch unterjochen, so werde ich es ohne Kummer fahren lassen. Ich besitze Arme zur Arbeit, und ich werde leben. Sollten mir aber die Arme fehlen, nun, so werde ich leben, wenn man mich ernährt, und sterben, wenn man mich im Stich läßt, muß ich ja doch eben so gut sterben, wenn man mich auch nicht im Stich läßt, denn der Tod ist nicht ein Leiden der Armuth, sondern ein Gesetz der Natur. Wann auch immer der Tod an mich herantreten möge, ich werde ihm stets trotzen; nie soll er mich überraschen, wenn ich mit Vorbereitungen zum Leben beschäftigt bin; nie soll er mich hindern, gelebt zu haben.«

»Das, mein Vater, ist der Entschluß, welchen ich gefaßt habe. Wäre ich ohne Leidenschaften, so würde ich in meiner Lage als Mensch unabhängig wie Gott selber sein, weil ich, da ich nur das wollte, was ist, nie gegen das Schicksal würde anzukämpfen brauchen. Wenigstens fesselt mich nur eine Kette; es ist die einzige, die ich je tragen werde, und ihrer darf ich mich rühmen. So kommen Sie denn, geben Sie mir Sophie, und ich bin frei.«

»Lieber Emil, ich bin sehr froh, aus deinem Munde solche männliche Worte zu vernehmen und aus ihnen die Gefühle deines Herzens zu erkennen. In deinem Alter kann mir diese übertriebene Uneigennützigkeit nicht mißfallen. Sie wird überdies nachlassen, wenn du erst Kinder hast, und du wirst dann genau das sein, was ein guter Familienvater und ein weiser Mann sein soll. Schon vor Antritt deiner Reise wußte ich, welche Wirkung sie in dir hervorbringen würde. Ich wußte, du würdest, wenn du dir unsere Einrichtungen einmal aus der Nähe ansähest, weit davon entfernt sein, ein Vertrauen in sie zu setzen, welches sie keineswegs verdienen. Unter dem Schutze der Gesetze strebt man vergebens nach Freiheit. Der Gesetze! Wo gibt es denn solche? Und wo finden sie Achtung? Unter diesem Namen hast du überall nur das Sonderinteresse und die Leidenschaften der Menschen herrschen sehen. Aber die ewigen Gesetze der Natur und der Ordnung bestehen. Dem Weisen vertreten sie die Stelle des positiven Rechts. Durch das Gewissen und die Vernunft stehen sie im Grunde seines Herzens geschrieben. Sie sind es, denen er sich, um frei zu sein, unterwerfen muß. Nur wer Böses thut, ist ein Sklave, denn er thut es stets gegen seinen Willen. Die Freiheit ist nicht das Ergebniß irgend einer bestimmten Regierungsform, sie wohnt vielmehr in dem Herzen des freien Mannes, der sie überall bei sich trägt, während der niedrig gesinnte Mensch überall die Knechtschaft in sich hegt. Der Eine würde in Genf ein Sklave, der Andere in Paris ein Freier sein.«

»Wollte ich von den Pflichten des Bürgers mit dir reden, so würdest du mich vielleicht fragen, wo denn das Vaterland ist, und glauben, mich dadurch in Verlegenheit gesetzt zu haben. Trotzdem würdest du dich irren, lieber Emil, denn wer kein Vaterland hat, hat doch wenigstens ein Land. Es gibt immer eine Regierung und Scheinbilder von Gesetzen, unter denen er in Frieden gelebt hat. Daß der sociale Vertrag nicht beobachtet worden ist, was thut das wol zur Sache, wenn ihn das Sonderinteresse eben so geschützt hat, wie es der allgemeine Wille gethan haben würde, wenn ihn die öffentliche Gewalt vor der Privatgewalt behütet hat, wenn ihn das Böse, das unter seinen Augen stattfand, mit Liebe zum Guten erfüllt hat und ihm unsere Einrichtungen selbst die Augen geöffnet haben, daß er ihre eigene Ungerechtigkeit erkennen und hassen mußte? O Emil, wo ist der rechtschaffene Mann, der seinem Lande nichts zu verdanken hätte? Wer er auch immer sein möge, er schuldet ihm, was für den Menschen das Herrlichste ist: die Sittlichkeit seiner Handlungen und die Liebe zur Tugend. Allerdings hätte er, wäre er mitten im Walde geboren, glücklicher und freier gelebt; da er indeß nichts zu bekämpfen gehabt hätte, um seinen Neigungen nachzukommen, so wäre er gut gewesen, ohne daß es ihm hätte zum Verdienst angerechnet werden können, so hätte er keinen Anspruch auf Tugend gehabt, während er ihn jetzt trotz seiner Leidenschaften erheben darf. Der bloße Schein der Ordnung führt ihn schon dazu, sie zu erkennen und zu lieben. Das allgemeine Wohl, welches Anderen nur als Vorwand dient, ist für ihn allein ein wirklicher Beweggrund. Er lernt sich bekämpfen, sich besiegen, sein Interesse dem allgemeinen Interesse zum Opfer zu bringen. Es ist eine Unwahrheit, daß ihm die Gesetze keinen Vortheil brächten; sie geben ihm den Muth, gerecht zu sein, selbst im Kreise schlechter Menschen. Es ist eine Unwahrheit, daß sie ihn nicht frei gemacht haben, jedenfalls haben sie ihn gelehrt, sich selbst zu beherrschen.«

»Sage demnach nicht: Was kümmert es mich, wo ich mich befinde. Es muß dich im Gegentheile gar viel kümmern, daß du gerade da bist, wo du alle deine Pflichten zu erfüllen vermagst, und eine dieser Pflichten ist die Anhänglichkeit an den Ort deiner Geburt. Deine Mitbürger beschützten dich als Kind, weshalb du sie jetzt, wo du erwachsen bist, lieben mußt. Du sollst in ihrer Mitte oder wenigstens an einem Orte leben, von dem aus du ihnen nützlich sein kannst, so weit es dir deine Kräfte gestatten, und an dem sie dich, sobald sie deiner bedürfen, zu finden wissen. Es sind Verhältnisse denkbar, wo ein Mann seinen Mitbürgern nützlicher sein kann, wenn er außerhalb der Grenzen seines Vaterlandes weilt, als wenn er im Schooße desselben lebt. Alsdann muß er sich nur von seinem Eifer leiten lassen und sein Exil ohne Murren tragen; selbst dies Exil gehört zu seinen Pflichten. Du aber, guter Emil, welchem nichts diese schmerzlichen Opfer auferlegt, du, der du dir nicht die traurige Aufgabe gestellt hast, den Menschen die Wahrheit zu sagen, lebe inmitten deiner Mitbürger, pflege ihre Freundschaft in ruhigem Verkehre, sei ihr Wohlthäter, ihr Vorbild. Dein Beispiel wird ihnen mehr als all unsere Bücher nützen, und das Gute, welches sie dich verrichten sehen, wird sie mehr rühren, als all unsere hohlen Redensarten.«

»Ich fordere dich zu diesem Zwecke nicht etwa auf, in den großen Städten zu leben. Im Gegentheile besteht eines der Beispiele, welches die Guten den Andern geben sollen, in dem patriarchalischen und ländlichen Leben, dem ursprünglichen Leben des Menschen, dem friedlichsten, natürlichsten und angenehmsten Leben für Jeden, dessen Herz noch unverdorben ist. Glücklich, mein junger Freund, das Land, wo man den Frieden nicht erst in einer Einöde zu suchen braucht. Allein wo ist dieses Land? Ein wohlthätiger Mensch kann seine Neigung inmitten der Städte, in denen er seinen Wohlthätigkeitssinn fast nur an Intriganten oder an Schelmen auszuüben vermag, schlecht befriedigen. Die Aufnahme, welche Tagediebe, die hier ihr Glück zu machen gedenken, in ihnen finden, trägt nur dazu bei, das Land vollends zu veröden, welches man gerade umgekehrt auf Kosten der Städte neu bevölkern sollte. Alle Menschen, welche sich aus der großen Gesellschaft zurückziehen, stiften eben dadurch Nutzen, daß sie sich aus ihr zurückziehen, da alle Laster der Menschen ihre Quelle in der zu dichten Bevölkerung finden. Sie stiften ferner dadurch Nutzen, daß sie in die einsamen Gegenden Leben, Gesittung und Liebe zu dem menschlichen Urzustände zurückbringen können. Ich werde gerührt bei dem Gedanken, wie viel Wohlthaten Emil und Sophie aus ihrer einfachen Zurückgezogenheit um sich her zu verbreiten im Stande sind, wie viel sie zur Belebung des Landes und zur Wiedererweckung des erloschenen Eifers der unglücklichen Landleute beitragen können. Ich sehe schon im Geiste, wie das Volk sich vervielfältigt, die Fruchtbarkeit der Felder zunimmt, das Land einen neuen Schmuck gewinnt, ich sehe, wie die Volksmenge und der Ueberfluß die Arbeiten in Feste verwandeln, höre, wie sich die Freudenrufe und Segnungen aus dem Kreise der ländlichen Spiele um das liebenswürdige Paar erheben, dem sie ihre neue Lebensfreudigkeit verdanken. Man betrachtet das goldene Zeitalter als ein Traumbild, und freilich wird es für Jeden, dessen Herz und Geschmack verdorben sind, ein solches bleiben. Es ist nicht einmal wahr, daß man es zurücksehnt, da dieses Sehnen stets eitel ist. Was müßte man also thun, um es wieder erstehen zu lassen? Nur Eins, aber leider etwas Unmögliches: man müßte es lieben.«

»Schon scheint es um Sophiens Wohnung wieder aufzublühen; ihr braucht nur mit einander zu vollenden, was ihre würdigen Eltern begonnen haben. Sei jedoch auf deiner Hut, lieber Emil, daß dir dieses süße Leben nicht die mühevollen Pflichten verleide, wenn dir je solche auferlegt werden sollten! Sei eingedenk, daß die Römer vom Pfluge zum Consulat gelangten. Beruft dich der Fürst oder der Staat in den Dienst des Vaterlandes, dann verlasse Alles, um auf dem dir angewiesenen Posten die ehrenvolle Thätigkeit eines Bürgers auszuüben. Sollte dir diese Thätigkeit jedoch beschwerlich fallen, so gibt es ein ehrenvolles und sicheres Mittel, sie wieder von dir abzuschütteln: übe sie mit solcher strengen Rechtlichkeit, daß man sie dir nicht lange läßt. Uebrigens braucht dich der Gedanke an die Last eines solchen Amtes nicht sehr zu beunruhigen, denn so lange die Männer dieses Jahrhunderts nicht ausgestorben sind, wird man dich schwerlich in den Staatsdienst berufen.«

Leider ist es mir nicht gestattet, Emils Rückkehr zu Sophie und das Ende ihrer Liebe, oder vielmehr den Anfang der ehelichen Liebe zu schildern, die sie für immer vereinigt, einer Liebe, die auf lebenslängliche Achtung, auf Tugenden, die nicht mit der Schönheit vergehen, und auf eine Übereinstimmung der Charaktere gegründet ist, welche den Umgang so freundlich gestaltet und den Zauber der ersten Vereinigung bis ins Alter hinein verlängert. Aber wenn alle diese Einzelheiten auch Gefallen erregen würden, so könnten sie doch keinen Nutzen stiften; und bisher habe ich mir nur solche Einzelheiten mitzutheilen erlaubt, die nicht allein zu interessiren vermochten, sondern deren Nutzen ich auch einzusehen glaubte. Sollte ich noch am Schlüsse meiner Aufgabe von dieser Regel abgehen? Nein, auch fühle ich nur zu wohl, daß meine Feder ermüdet ist. Zu schwach für ein so umfangreiches Werk, würde ich dasselbe gänzlich liegen lassen, wenn es nicht bereits so weit vorgeschritten wäre. Um es nicht unvollendet zu lassen, ist es Zeit, es zu beenden.

Endlich sehe ich den entzückendsten Tag für Emil und den glücklichsten für mich anbrechen. Meine Mühe sehe ich gekrönt und beginne mich ihrer Frucht zu erfreuen. Das einander würdige Paar wird durch ein unauflösliches Band vereint, ihr Mund spricht und ihr Herz bestätigt die Schwüre, die ihnen stets heilig sein werden: sie sind Gatten. Bei der Rückkehr aus dem Gotteshause lassen sie sich führen; sie wissen weder wo sie sind, noch wohin sie gehen, noch was um sie her geschieht. Sie hören nicht und antworten nur verwirrte Worte, ihre vor Aufregung blitzenden Augen sehen nichts mehr. O süßer Wahn! O menschliche Schwäche! Das Gefühl des Glücks vernichtet den Menschen; er ist nicht stark genug, es zu ertragen.

Nur wenig Leute verstehen am Hochzeitstage den Neuvermählten gegenüber den richtigen Ton zu treffen. Der ernste Anstand der Einen erscheint mir eben so unpassend wie das leichtsinnige Geschwätz der Andern. Wenn es nach mir ginge, ließe man diese jungen Herzen lieber Einkehr in sich selber halten und sich einer Erregung hingeben, die nicht ohne Reiz ist, anstatt sie so grausam davon abzulenken, um sie durch ein falsches Schicklichkeitsgefühl trübe zu stimmen oder durch übel gewählte Scherze in Verlegenheit zu setzen, durch Scherze, die, wenn sie auch zu jeder anderen Zeit gefallen sollten, an einem solchen Tage sicherlich nicht zu rechtfertigen sind.

Es entgeht mir nicht, daß meine beiden jungen Leute in der süßen Sehnsucht, die sich ihrer bemächtigt hat, auch nicht ein Wort von dem vernehmen, was man zu ihnen spricht. Darf ich, der so lebhaft wünscht, daß man jeden Tag seines Lebens genießen soll, sie wol einen so köstlichen verlieren lassen? Nein, ich will, daß sie ihn genießen, völlig genießen und er ihnen reiche Wonnestunden bringe. Ich entführe sie der Menge, die sich schwatzend und plaudernd um sie drängt, und bringe sie, indem ich abgelegene Spaziergänge mit ihnen aufsuche und das Gespräch auf sie selbst lenke, wieder zu sich selbst zurück. Aber nicht nur zu ihren Ohren, sondern vor allen Dingen zu ihren Herzen will ich reden, und ich bin mir des einzigen Gegenstandes, der sie an diesem Tage zu beschäftigen vermag, sehr wohl bewußt.

»Meine Kinder,« sage ich zu ihnen, indem ich Beider Hand ergreife, »es sind nun schon drei Jahre her, seit ich diese heftige und reine Flamme, welche euch heute glücklich gemacht hat, auflodern sah. Sie hat stets mehr um sich gegriffen. Ich lese in euren Augen, daß sie jetzt zu der höchsten Glut angefacht ist. Von nun an kann sie nur abnehmen.« – Leser, seht ihr nicht Emils leidenschaftliches Aufbrausen, sein heftiges Emporfahren, vernehmt ihr nicht seine Betheuerungen? Seht ihr nicht, mit welch verächtlicher Miene Sophie ihre Hand der meinigen entzieht? Bemerkt ihr nicht die zärtlichen Verheißungen, welche sich ihre Augen gegenseitig zublinken, einander anzubeten bis zum letzten Athemzuge? Ich lasse sie gewähren und fahre darauf fort.

»Ich habe oftmals gedacht, daß man sich die Erde in ein Paradies verwandeln würde, wenn man das erste Liebesglück bis zu den letzten Tagen der Ehe verlängern könnte. Allein bis jetzt ist dieser Fall noch nicht vorgekommen. Sollte es aber nicht eine völlige Unmöglichkeit sein, so seid ihr Beide dessen im höchsten Grade würdig, ein Beispiel zu geben, zu welchem euch Niemand als Vorbild diente und welches auch nur wenige Gatten nachahmen werden. Wollt ihr, meine Kinder, daß ich euch ein Mittel angebe, welches ich dazu für geeignet und zugleich für das einzige mögliche halte?«

Lächelnd blicken sie einander an und scheinen sich über meine Einfalt lustig zu machen. Emil will von meinem Mittel gar nichts wissen und meint, Sophie besitze ein noch weit besseres, was ihm für seine Person auch völlig genüge. Sophie ist derselben Ansicht und scheint eben so zuversichtlich. Trotzdem kommt es mir so vor, als ob ihre spöttische Miene auch eine gewisse Neugier wiederspiegle. Ich schaue Emil prüfend an; seine glühenden Augen verschlingen die Reize seiner Gattin. Auf sie allein ist seine Begierde gerichtet, und alle meine Worte vermögen nicht seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Jetzt lächle ich meinerseits, indem ich zu mir selbst sage: Ich werde deine Aufmerksamkeit bald wecken.

Der fast unmerkliche Unterschied dieser geheimen Bewegungen deutet eine sehr charakteristische Verschiedenheit der beiden Geschlechter an, welche den gäng und gäben Vorurtheilen völlig widerspricht. Sie zeigt sich darin, daß die Männer im Allgemeinen weniger beständig sind als die Frauen und früher als diese einer glücklichen Liebe überdrüssig werden. Die Frau ahnt schon von Weitem die Unbeständigkeit des Mannes und fühlt sich dadurch beunruhigt, In Frankreich geht die Trennung von den Frauen aus; und das ist nicht zu verwundern, da sie wenig Temperament besitzen und nur Huldigungen verlangen. Werden ihnen dieselben von dem Gatten nicht mehr zu Theil, so kümmern sie sich wenig um seine Person. In andern Ländern geht die Trennung dagegen von dem Manne aus, und auch das kann nicht auffallen, weil die Frauen zwar treu, aber auch zudringlich sind, und folglich, weil sie mit ihrem geschlechtlichen Verlangen beschwerlich fallen, schließlich ermüden und Unlust erwecken. So viele Ausnahmen diese Wahrheiten auch erleiden mögen, so glaube ich doch, daß es allgemeine Wahrheiten sind. worin auch die Ursache ihrer größeren Eifersucht liegt. Wird er lau und sieht sie sich gezwungen, um ihn nicht völlig zu verlieren, ihm alle die Aufmerksamkeiten zu erweisen, mit denen sie ihm sonst entgegenkam, um ihm zu gefallen, so weint sie und demüthigt sich nun, aber selten mit dem früheren Erfolge. Zuneigung und Aufmerksamkeiten gewinnen zwar die Herzen, erlangen sie aber nicht wieder. Ich komme auf mein erstes Mittel gegen das Erkalten der Liebe in der Ehe zurück.

»Es ist einfach und leicht,« beginne ich von Neuem, »man muß, wenn man Gatte ist, nach wie vor Liebhaber bleiben.« – »Fürwahr,« sagt Emil, verstohlen lachend, »das wird uns nicht sehr sauer werden.«

»Sauerer für dich, der du dies behauptest, als du vielleicht denkst. Laßt mir, wenn ich bitten darf, Zeit, mich weiter darüber auszusprechen.«

»Das Band, welches man zu straff spannen will, zerreißt. So verhält es sich auch mit dem Bande der Ehe, wenn man ihm mehr Stärke verleihen will, als es besitzen darf. Die Treue, welche sie beiden Gatten auferlegt, ist das heiligste aller Rechte; allein die Gewalt, welche sie Jedem von Beiden über den Andern einräumt, ist zu groß. Zwang und Liebe können nicht neben einander bestehen, und Liebesfreude kann nicht erzwungen werden. Erröthe nicht, Sophie, und denke nicht daran die Flucht zu ergreifen. Da sei Gott vor, daß ich dein keusches Ohr beleidigen wollte! Aber es handelt sich um euer Lebensschicksal. Um eines so großen Zweckes willen verschließet euer Ohr nicht einem Gespräche, welches zwischen Eheleuten und einem Vater stattfindet und welches ihr sonst nicht leiden würdet.«

»Nicht sowol aus dem Besitze als vielmehr aus dem Zwange entsteht die Übersättigung, und man bewahrt deshalb einem unterhaltenen Mädchen weit länger seine Zuneigung als seiner eigenen Frau. Wie hat man nur aus den zärtlichsten Liebkosungen eine Pflicht und aus den süßesten Bezeugungen der Liebe ein Recht machen können? Nur das gegenseitige Verlangen gibt ein Recht, die Natur kennt kein anderes. Das Gesetz vermag dieses Recht wol einzuschränken, würde ihm aber keine größere Ausdehnung geben können. Die Sinnenlust ist an sich selbst gar süß; soll sie etwa aus dem traurigen Zwange eine Stärke gewinnen, die ihr ihre eigenen Reize nicht zu gewähren vermöchten? Nein, meine Kinder, in der Ehe sind die Herzen verbunden, allein die Körper sind einander nicht unterworfen. Ihr seid euch Treue, aber keine Willfährigkeit schuldig. Ihr gehört einander an, aber Jeder nur so weit es ihm selbst beliebt.«

»Ist es also wahr, lieber Emil, daß du der Liebhaber deiner Gattin bleiben willst, daß sie stets deine Geliebte und Herrin ihrer selbst sein soll, dann sei ein glücklicher, aber ehrerbietiger Liebhaber. Erhalte Alles von der Liebe, ohne irgend etwas als Pflicht zu verlangen; in der geringsten Gunstbezeugung erkenne nie ein Recht, sondern eine Gefälligkeit. Ich weiß, daß die Schamhaftigkeit klar ausgesprochene Geständnisse scheut und besiegt sein will. Kann sich aber wol der Liebende, wenn er Zartgefühl und wahre Liebe besitzt, über den geheimen Willen täuschen? Wird er sich dessen nicht klar, wenn ihm Herz und Augen zugestehen, was der Mund scheinbar versagt? Möge stets Jedes von euch Beiden Herr seiner Person und seiner Liebkosungen sein und das Recht haben, sie nur nach eigenem Willen dem Andern zu gewähren. Bleibt beständig eingedenk, daß selbst in der Ehe der Genuß nur dann ein rechtmäßiger ist, wenn beide Theile ein gleiches Verlangen danach tragen. Ihr braucht nicht zu befürchten, meine Kinder, daß dies Gesetz euch von einander fern halten werde; es wird euch im Gegentheile aufmerksamer darauf machen, daß ihr beflissen sein müßt, euch gegenseitig zu gefallen, und wird die Uebersättigung verhüten. Ausschließlich auf einander beschränkt, wird die Natur und die Liebe euch hinlänglich einander näher bringen.«

Bei diesen und ähnlichen Andeutungen und Vorschlägen wird Emil unwillig und erhebt dagegen laut Widerspruch. Sophie hält sich verschämt den Fächer vor die Äugen und erwidert kein Wort. Der Unzufriedenste von Beiden ist jedoch vielleicht nicht derjenige, der sich am meisten beklagt. Ich lasse mich aber durch nichts irre machen und bleibe unerbittlich. Ich treibe Emil über seinen Mangel an Zartgefühl die Schamröthe ins Gesicht und leiste Bürgschaft dafür, daß Sophie ihrerseits den Vertrag annehmen wird. Ich fordere sie auf, sich darüber auszusprechen, und man wird sich wol denken können, daß sie mich nicht Lügen zu strafen wagt. Unruhig befragt Emil die Augen seiner jungen Gattin. Trotz ihrer Verlegenheit liest er in ihnen Sehnsucht und Verlangen, was ihn über die Gefahr, die ihm von ihrem Selbstvertrauen drohen könnte, wieder beruhigt. Er wirft sich ihr zu Füßen, küßt leidenschaftlich die Hand, welche sie ihm reicht, und schwört, daß er mit Ausnahme der ihm zugelobten Treue auf jedes andere Recht verzichtet. »Sei du, theure Gattin,« sagt er, »die Herrin meiner Freuden, wie du die Herrin meines Lebens und meines Schicksals bist. Selbst auf die Gefahr hin, daß mir deine Grausamkeit das Leben kosten könnte, gebe ich dir meine theuersten Rechte zurück. Ich will nichts deiner bloßen Willfährigkeit, sondern Alles deinem Herzen zu verdanken haben.«

Guter Emil, beruhige dich. Sophie ist selbst viel zu edelmüthig, als daß sie dich als Opfer deines Edelmuths sterben lassen könnte. Als ich am Abend im Begriff stehe, von ihnen Abschied zu nehmen, sage ich im ernstesten Tone, den ich anzunehmen vermag, zu ihnen: »Erinnert euch Beide, daß ihr frei seid, und daß bei euch von ehelichen Pflichten die Rede nicht sein kann. Glaubt mir, und laßt euch nicht durch falsche Rücksichten beirren. Emil, willst du mit mir kommen? Sophie erlaubt es.« Emil hätte in seiner Wuth Lust, sich thätlich an mir zu vergreifen. »Und du, Sophie, was sagst du dazu? Soll ich ihn mitnehmen?« Die Lügnerin wird erröthend »ja« sagen. Reizende und süße Lüge, die einen höheren Werth als die Wahrheit hat!

Am nächsten Tage .... Das Bild des Glücks gewährt den Menschen keine Freude mehr; unter den verderblichen Folgen des Lasters hat ihr Geschmack nicht weniger gelitten als ihr Herz. Es fehlt ihnen an Empfindung für das Rührende und an Augen für das Liebliche. Ihr, die ihr, um die höchste Seligkeit zu malen, eure Vorstellung immer nur bei glücklichen Liebenden weilen laßt, die in den größten Sinnengenüssen schwelgen, wie unvollkommen ist doch euer Gemälde! Es zeigt nur, was die Sinne zu berauschen vermag, aber die süßesten Reize der Freude sind auf demselben nicht zu finden. O, wer von euch hätte noch nie zwei Neuvermählte, die sich unter den glücklichsten Verhältnissen die Hand zum Bunde reichten, aus der Brautkammer hervortreten sehen, hätte noch nie gesehen, wie aus ihren schmachtenden und keuschen Blicken der Rausch der eben genossenen Freuden und zugleich die liebliche Sicherheit der Unschuld so wie die so entzückende Gewißheit hervorleuchteten, nun ihre übrigen Lebenstage mit einander verleben zu können! Es ist der bezauberndste Anblick, der dem Menschen dargeboten werden kann; es ist das wahre Gemälde der Freude. Ihr habt es hundertmal gesehen, ohne es zu erkennen; euere verhärteten Herzen sind nicht mehr fähig, es zu lieben. Glücklich und ruhig bringt Sophie den Tag in den Armen ihrer zärtlichen Mutter zu; in ihnen läßt sich süß ruhen, wenn man die Nacht in den Armen eines Gatten geruht hat.

An dem darauf folgenden Tage nehme ich bereits einen Wechsel der Scene wahr. Es macht den Eindruck, als ob Emil ein wenig mißvergnügt ausschaue. Aber durch dieses angenommene Wesen hindurch bemerke ich eine so zärtliche Dienstfertigkeit und sogar einen so hohen Grad von Unterwürfigkeit, daß ich nicht annehmen kann, es sei etwas sehr Verdrießliches vorgefallen. Was Sophie anlangt, so ist sie heiterer als am vorhergehenden Abend, und ich sehe aus ihren Augen einen Blick der Befriedigung leuchten. Gegen Emil ist sie bezaubernd. Sie scheint ihn fast anlocken zu wollen, was seinen Verdruß offenbar nur steigert.

So wenig sich dieser Wechsel auch bemerkbar macht, so ist er meiner Aufmerksamkeit doch nicht entgangen. Ich werde einigermaßen besorgt und frage Emil im Geheimen nach der Ursache. Da erfahre ich denn, daß er in der vergangenen Nacht zu seinem großen Leidwesen und aller seiner stehenden Bitten ungeachtet habe allein schlafen müssen. Die junge Gebieterin hat Eile gehabt, von ihrem Rechte Gebrauch zu machen. Eine Erklärung findet unter ihnen statt. Emil beklagt sich bitterlich, während Sophie in der besten Laune ist. Als sie sich aber endlich überzeugt, daß er ernstlich böse werden will, wirft sie ihm einen Blick voller Liebe und Freundlichkeit zu und sagt, während sie mir die Hand drückt, nur das einzige Wort »der Undankbare«, aber mit einem Tone, der zu Herzen dringen muß. Emil ist so thöricht, daß er den Sinn dieses Wortes nicht zu fassen vermag. Ich aber verstehe ihn, lasse Emil zurücktreten und rede nun mit Sophie unter vier Augen.

»Ich durchschaue,« sage ich zu ihr, »die Ursache dieses Einfalls. Man könnte nicht mehr Zartgefühl besitzen, vermöchte es aber auch nicht in ungeeigneterer Weise zum Ausdruck zu bringen. Beruhige dich, liebe Sophie. Ich habe dir einen Mann gegeben, scheue dich also auch nicht, ihn als einen solchen zu behandeln. Er hat dir eine unentweihte Jugend gebracht, hat sie an Niemanden vergeudet und wird sie dir lange bewahren.«

»Ich muß dir, liebes Kind, die Ansichten, welche ich in unserem vorgestrigen Gespräche entwickelte, weitläufiger auseinandersetzen. Vielleicht hast du in ihnen nur den Rath erblickt, in eueren Genüssen um deswillen Maß zu halten, um sie dauernder zu machen. Nein, Sophie, ich verfolgte dabei einen andern Zweck, der meiner Sorgfalt würdiger ist. Emil ist nicht nur dein Gatte, sondern dadurch zugleich dein Herr geworden. Dir kommt das Gehorchen zu, denn so hat es die Natur gewollt. Gleicht aber ein Weib Sophie, so ist es trotzdem gut, daß der Mann von ihr geleitet wird. Auch dies ist ein Gesetz der Natur. Um dir so viel Macht über sein Herz zu gewähren, wie ihm sein Geschlecht über deine Person einräumt, habe ich dich zur Herrin seiner Genüsse gemacht. Es wird dir schmerzliche Entbehrungen kosten; aber du wirst ihn beherrschen, falls du dich selber zu beherrschen verstehst. Was bereits vorgefallen ist, liefert mir den Beweis, daß diese schwierige Kunst deinen Muth nicht übersteigt. Deine auf Liebe gegründete Herrschaft wird lange dauern, wenn du deine Liebesbezeugungen selten und kostbar machst und ihn lehrst, ihren Werth zu würdigen. Willst du deinen Mann fortwährend zu deinen Füßen sehen, so halte ihn immer in einiger Entfernung von deiner Person. Paare aber deine Strenge mit Bescheidenheit und laß sie nicht etwa launisch erscheinen. Zeige dich ihm zurückhaltend, aber nicht eigensinnig. Hüte dich, daß in ihm Zweifel an deiner Liebe aufsteigen, weil du dich seiner Liebe zu selten hingibst. Flöße ihm durch deine Liebesbezeigungen Liebe zu dir ein und Achtung durch deine Weigerungen. Bringe es dahin, daß er die Keuschheit seiner Frau ehren muß, ohne Ursache zu haben, sich über ihre Kälte zu beklagen.«

»Auf diese Weise, mein Kind, wird er dir sein volles Vertrauen schenken, deinen Rath beachten, dich bei seinen Angelegenheiten zu Rathe ziehen und nichts beschließen, ohne es vorher mit dir überlegt zu haben. Auf diese Weise kannst du ihn wieder zur Vernunft zurückrufen, wenn er auf Abwege geräth, kannst du ihn durch sanfte Ueberredung auf den rechten Weg zurückleiten, kannst du dich liebenswürdig zeigen, um ihm nützlich zu werden, kannst du die Coquetterie zum Besten der Tugend und die Liebe zum Vortheil der Vernunft anwenden.«

»Gib dich aber trotz alledem nicht dem Wahne hin, als ob du dich auf diese Kunst stets verlassen könntest. Wie vorsichtig man auch immer sein möge, der Genuß stumpft das Vergnügen ab, und vor Allem die Liebesfreude. Allein wenn die Liebe lange gewährt hat, so füllt eine süße Gewohnheit die Leere wieder aus, und der Reiz der Vertraulichkeit folgt auf den Wonnerausch der Leidenschaft. Die Kinder bilden zwischen denen, welchen sie das Dasein verdanken, ein nicht weniger süßes und oft noch stärkeres Band als die Liebe selbst. Sobald du aufhören wirst, Emils Geliebte zu sein, wirst du statt dessen seine Frau und seine Freundin, wirst du die Mutter seiner Kinder sein. Dann laß deine Zurückhaltung schwinden und die höchste Vertraulichkeit zwischen euch herrschen; dann fort mit dem besonderen Bette, fort mit den Weigerungen und Launen. Werde so vollkommen seine Hälfte, daß er deiner nicht mehr entbehren kann, und daß er, sobald er dich verläßt, sich fern von sich selbst fühlt. Nachdem du den Reizen des häuslichen Lebens die Herrschaft im väterlichen Hause gesichert hast, laß sie jetzt auch in deinem eigenen Hause herrschen. Jeder Mann, welcher sich in seinem Hause gefällt, liebt seine Frau. Sei eingedenk, daß du nur dann eine glückliche Frau sein wirst, wenn dein Gatte in seiner Häuslichkeit sich glücklich fühlt.«

»Was nun die Gegenwart anlangt, so sei gegen deinen Geliebten auch nicht zu streng; er hat mehr Hingebung verdient und würde deine Besorgniß übel nehmen. Schone seine Gesundheit nicht so sehr auf Kosten seines Glückes, und genieße dein eigenes. Man darf weder Uebersättigung eintreten lassen noch das Verlangen zurückweisen, nicht versagen, nur um zu versagen, sondern um dem, was man gewährt, einen höheren Reiz zu verleihen.«

Nachdem ich die Einigkeit unter ihnen wieder hergestellt habe, sage ich in Sophiens Gegenwart zu ihrem jungen Gemahle: »Das Joch, das man sich einmal aufgelegt hat, muß man ertragen. Verdiene, daß es dir leicht gemacht werde. Opfere vor Allem den Grazien und wähne nicht, dich durch Schmollen liebenswürdiger zu machen. Der Friede ist nicht schwer zu stiften, und Jedes wird sich leicht selbst sagen können, auf welche Bedingungen hin er geschlossen werden kann.« Nachdem der Vertrag durch einen Kuß besiegelt ist, wende ich mich an meinen Zögling und sage: »Lieber Emil, der Mensch bedarf sein ganzes Leben hindurch des Rathes und der Leitung. Ich habe diese Pflicht gegen dich bis zu diesem Augenblicke, so gut ich vermochte, erfüllt. Hier endet meine langwierige Aufgabe, und die eines Andern beginnt. Indem ich heute meine Autorität feierlich niederlege, vertraue ich sie für die Zukunft deinem neuen Führer an.«

Allmählich läßt der erste Wonnerausch nach, so daß sie die Reize ihres neuen Standes in Frieden genießen können. Glückliche Liebende, würdige Gatten! Um ihren Tugenden die ihnen gebührende Ehre zu erweisen, um ihr Glück zu schildern, müßte man ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. Wie oft fühle ich mich, wenn ich das Werk betrachte, das ich an ihnen verrichtet habe, von einem Entzücken ergriffen, welches mein Herz höher schlagen läßt. Wie oft ergreife ich ihre verschlungenen Hände und segne die Vorsehung unter freudigen Seufzern; wie oft bedecke ich diese Hände, die so treu einander drücken, mit meinen Küssen; wie oft müssen sie fühlen, daß meine Freudenthränen dieselben benetzen! Auch sie ergreift dann innige Rührung, indem sie meine Freude theilen. Ihre ehrwürdigen Eltern durchleben ihre Jugend noch einmal in der ihrer Kinder, sie fangen gleichsam aufs Neue zu leben an oder sie erkennen vielmehr zum ersten Male den Werth des Lebens. Sie verwünschen ihren früheren Reichthum, der ihnen in dem nämlichen Alter zum Hinderniß gedient hat, ein so entzückendes Loos zu genießen. Wenn überhaupt das Glück auf Erden zu finden ist, dann weilt es in der Heimstätte, die wir bewohnen.

Nach Verlauf einiger Monate tritt Emil eines Morgens in mein Zimmer und sagt, mich herzlich umarmend: »Mein Lehrer, wünschen Sie Ihrem Kinde Glück; ich hoffe bald Vaterfreuden zu erleben. O welche Sorgen werden dadurch unserm Eifer auferlegt werden, und in wie hohem Grade werden wir Ihrer bedürfen! Da sei Gott vor, daß ich Sie noch den Sohn erziehen lasse, nachdem Sie den Vater erzogen haben! Da sei Gott vor, daß eine so heilige und süße Pflicht je von einem Andern als von mir erfüllt werde, sollte meine Wahl auch eben so vortrefflich ausfallen, als sie für mich ausgefallen ist! Bleiben Sie aber nach wie vor der Führer der jungen Führer. Stehen Sie uns mit Rath und Anleitung helfend zur Seite; Sie werden uns folgsam finden. So lange ich lebe, werde ich Ihrer bedürfen. Gerade jetzt, wo meine Pflichten als Hausvater erst beginnen, bedarf ich Ihrer mehr als je. Sie haben die Ihrigen erfüllt. Leiten Sie mich, damit es mir gelingt, Ihrem Beispiele zu folgen! Ruhen Sie sich aber aus, es ist Zeit!«

Ende.


 << zurück