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Die Zeit der Fehler ist die Zeit der Fabeln. Dadurch, daß man den Schuldigen unter einer fremden Maske tadelt, nimmt man der Belehrung alles Verletzende, und ihre Wahrheit, die sich ihm bei der Nutzanwendung auf sich selbst aufdrängt, überzeugt ihn alsdann, daß die Fabel keine Lüge ist. Einem Kinde, welches man noch nie durch Lobsprüche getäuscht hat, fehlt für jene Fabel, welche ich oben weitläufig besprochen habe, jedes Verständniß; aber ein unbesonnenes Kind, welches sich schon einmal von einem Schmeichler hat hinter das Licht führen lassen, sieht ganz vortrefflich ein, daß der Rabe nur ein Einfaltspinsel war. Auf diese Weise folgert es aus einer Thatsache einen Grundsatz, und die Erfahrung, welche es sonst bald vergessen hätte, prägt sich vermittelst der Fabel seinem Gedächtnisse ein. Es gibt keine moralische Erkenntniß, welche man sich nicht durch fremde oder eigene Erfahrung anzueignen vermag. In solchen Fällen, wo die persönliche Einsammlung der Erfahrung mit Gefahr verknüpft ist, verdient es den Vorzug, dieselbe aus der Geschichte zu schöpfen. Wenn aber die eigene Einsammlung keine nachtheilige Folgen nach sich zieht, so ist es gut, den jungen Mann anzuhalten, sich die Erfahrung persönlich zu erwerben; darauf bringt man die besonderen Fälle, die ihm bisher noch unbekannt sind, unter Anwendung der Fabel auf Grundsätze zurück.

Darunter verstehe ich jedoch keineswegs, daß diese Grundsätze gleich entwickelt oder auch nur in Worte gekleidet sein sollen. Nichts ist unnützer und unverständiger als die den meisten Fabeln angehängte Moral, als ob sich diese Moral nicht durch die ganze Fabel dergestalt hindurchzöge oder doch wenigstens hindurchziehen sollte, daß sie der Leser deutlich herausfühlen muß. Weshalb also durch die dem Schlusse beigefügte Moral den Leser um das Vergnügen bringen, sie aus eigenem Nachdenken zu finden? Das rechte Lehrgeschick zeigt sich darin, daß man dem Schüler Gefallen am Unterrichte einzuflößen versteht. Um dies Gefallen aber in ihm hervorzurufen, darf sein Geist bei euren Vorträgen nicht in solcher Passivität erhalten werden, daß ihm durchaus nichts zu thun bleibt, um euch zu verstehen. Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, daß die Eigenliebe des Lehrers auch stets der des Schülers einen gewissen Spielraum gestatte. Derselbe muß sich sagen können: »Ich begreife es; ich ergründe es; ich strenge mich an; ich belehre mich.« Eine der Ursachen, welche uns den Hanswurst in der italienischen Oper so langweilig erscheinen läßt, ist die stete Mühe, welche er sich gibt, dem Parterre die nur allzu verständlichen Plattheiten zu erklären. Ich wünsche nicht, daß ein Lehrer, noch weniger aber, daß ein Schriftsteller die Rolle des Hanswurstes spiele. Man muß sich freilich immer verständlich machen, allein man muß nicht immer Alles sagen. Wer sich völlig ausspricht, sagt wenig, denn schließlich hört man gar nicht mehr auf ihn hin. Was bedeuten diese vier Verse, welche Lafontaine der Fabel von dem sich aufblähenden Frosche hinzufügt? Hegt er etwa Furcht, daß man ihn nicht verstanden habe? Hat dieser große Maler erst nöthig, die Namen unter die Gegenstände zu schreiben, die er malt? Anstatt seine Moral dadurch zu verallgemeinern, bindet er sie an ganz bestimmte Fälle, beschränkt sie halb und halb auf die angeführten Beispiele und verhindert, daß man sie auf andere anwendet. Ehe man jungen Leuten die Fabeln dieses unnachahmlichen Schriftstellers in die Hände gibt, möchte ich sie von diesen Schlußversen befreit wissen, in welchen er sich die unfruchtbare Mühe gibt, das noch einmal zu erklären, was er bereits eben so klar als anmuthig gesagt hat. Versteht euer Zögling die Fabel nur mit Hilfe dieser Erklärung, so könnt ihr euch versichert halten, daß er sie auch nicht einmal durch dieses Hilfsmittel verstehen wird.

Ferner würde es von Wichtigkeit sein, diesen Fabeln eine mehr didaktische und mit den wachsenden Einsichten und Gefühlen des Jünglings mehr in Einklang stehende Ordnung zu geben. Kann man sich wol etwas Widersinnigeres denken, als genau die numerische Ordnung des Buches, ohne Rücksicht auf Bedürfniß oder Gelegenheit, inne zu halten? Erst die Grille, dann der Rabe, darauf der Frosch, nun die beiden Maulthiere u.s.w. Bei diesen beiden Maulthieren fällt mir ein Kind ein, das ich einst kennen lernte. Man hatte es für das Finanzwesen bestimmt und ihm die wunderbarsten Vorstellungen von der Herrlichkeit seines künftigen Amtes in den Kopf gesetzt. Es las die erwähnte Fabel, lernte sie auswendig, sagte sie auf und declamirte sie hundert- und hundertmal, ohne derselben auch nur je den geringsten Einwand gegen den Beruf zu entnehmen, für welchen es erzogen wurde. Nicht nur bin ich niemals Zeuge gewesen, daß Kinder eine wirkliche Anwendung von den auswendig gelernten Fabeln gemacht hätten, sondern habe auch nie bemerkt, daß sich Jemand bemüht hätte, ihnen zu einer solchen Anwendung Anleitung zu geben. Die moralische Unterweisung muß den Vorwand für dieses Auswendiglernen abgeben. Mutter und Kind haben jedoch keinen andern Zweck im Auge, als die Aufmerksamkeit einer ganzen Gesellschaft auf Letzteres zu lenken, während es seine Fabeln hersagt. Auch vergißt es sie sämmtlich, wenn es größer wird, also gerade dann, wenn es sich nicht mehr um den Vortrag derselben, sondern um den aus ihnen zu ziehenden Gewinn handelt. Deshalb noch einmal: nur Erwachsene vermögen in den Fabeln Belehrung zu finden; und jetzt ist für Emil die Zeit herangekommen, damit den Anfang zu machen.

Da es nicht in meiner Absicht liegt, alle Einzelheiten anzuführen, deute ich nur von ferne die Wege an, die von dem allein richtigen abführen, damit man sie vermeiden lerne. Ich meine, wenn euer Zögling dem von mir vorgezeichneten Wege folgt, so wird er sich die Kenntniß der Menschen und seiner selbst zu dem möglichst billigen Preise erwerben, und ihr werdet ihn in die Lage versetzen, beim Anblick der Spiele des Glückes neidlos das Geschick der Günstlinge desselben mit anzusehen und mit sich zufrieden zu sein, ohne sich für weiser als Andere zu halten. Anfangs habt ihr ihn handelnd auftreten lassen, um ihn zu einem urtheilsfähigen Zuschauer heranzubilden; jetzt handelt es sich um die Vollendung eures Werkes, denn während man vom Parterre aus die Gegenstände sieht, wie sie scheinen, erblickt man sie auf der Bühne selbst, wie sie wirklich sind. Um das Ganze zu überschauen, muß man sich auf den rechten Gesichtspunkt stellen, um jedoch die Einzelheiten zu unterscheiden, muß man nahe herantreten. Aber mit welchem Rechte kann sich ein junger Mann in die Händel der Welt mischen? Was gibt ihm die Berechtigung, in diese düstren Geheimnisse eingeweiht zu werden? Nur Lustbarkeiten nehmen das Interesse seines Alters in Anspruch; bis jetzt steht ihm nur die Verfügung über sich selbst zu, und das ist so gut, als ob er über nichts zu verfügen hätte. Der Mensch ist die wertloseste von allen Waaren, und unter unseren wichtigen Eigenthumsrechten ist das der Person beständig das geringste von allen. Wenn ich wahrnehme, wie man die jungen Leute gerade in dem Alter des größten Thätigkeitstriebes auf rein speculative Studien beschränkt, und wie sie darauf, ohne die geringste Erfahrung zu besitzen, urplötzlich in die Welt und in die Geschäfte hinausgestoßen werden, so finde ich, daß dies nicht minder der Vernunft als der Natur zuwiderläuft, und es überrascht mich nicht mehr, daß sich so wenige Leute zu benehmen wissen. Welche seltsame Geistesrichtung trägt die Schuld, daß man uns so viele unnütze Dinge lernen läßt, während die Kunst zu handeln für nichts geachtet wird? Man gibt vor, uns für die Gesellschaft zu bilden, und man unterrichtet uns in einer Weise, als ob Jeder von uns sein Leben als einsamer Denker in seiner Zelle zubringen oder mit Gleichgiltigen gelehrte Unterhaltungen über ganz nichtige Dinge führen sollte. Ihr glaubt euren Kindern die richtige Lebensart beizubringen, wenn ihr sie in gewissen Körperverdrehungen und gewissen hohlen Redensarten ohne Sinn und Verstand unterrichtet. Auch ich habe meinen Emil in der Kunst zu leben unterwiesen, denn ich habe ihn gelehrt, im Umgange mit sich selbst zu leben, ja noch mehr, ich habe ihm zu der Geschicklichkeit verholfen, sich selbst sein Brod verdienen zu können. Das genügt indeß noch nicht. Um in der Welt zu leben, muß man die Menschen zu behandeln wissen, muß man mit den Mitteln vertraut sein, durch welche man die Blößen, die sie sich geben, zu seinem Vortheile benutzen kann; man muß die Wirkung und Gegenwirkung der besonderen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft berechnen und das Ergebniß so richtig voraussehen, daß man sich in seinen Unternehmungen selten täuschen läßt oder sich wenigstens stets der besten Mittel zur Erreichung seines Zieles bedient. Die Gesetze gestatten es Jünglingen nicht, ihre Geschäfte selbst zu betreiben und selbstständig ihr Vermögen zu verwalten; allein welchen Vortheil würden denselben diese Vorsichtsmaßregeln bringen, wenn sie sich bis zu dem festgesetzten Alter keine Erfahrung zu erwerben vermöchten? Das Warten würde ihnen zu keinem Gewinne gereicht haben, und sie würden im fünfundzwanzigsten Jahre noch eben so unerfahren sein wie im fünfzehnten. Ohne Zweifel ist es die Pflicht, zu verhüten, daß sich ein junger Mensch, der entweder durch seine Unwissenheit verblendet oder durch, seine Leidenschaften getäuscht ist, selbst Schaden zufügt; aber in jedem Alter darf man wohlthätig sein, in jedem Alter kann man sich, unter Leitung eines verständigen Mannes, der Unglücklichen annehmen, die des Beistandes bedürfen.

Die Ammen und Mütter gewinnen in Folge der Pflege, die sie ihren Kindern widmen, eine herzliche Zuneigung zu denselben; die Ausübung der sozialen Tugenden läßt auf dem Grunde des Herzens die Liebe zur Menschheit emporkeimen. Dadurch, daß man das Gute thut, wird man gut; mir ist keine sichrere Methode bekannt. Beschäftigt euren Zögling mit allen guten Handlungen, die für ihn ausführbar sind; laßt stets das Interesse der Dürftigen sein eigenes sein; er leiste ihnen nicht nur mit seiner Börse Beistand, sondern komme ihnen auch freundlich und hilfsbereit entgegen; er diene ihnen; er gewähre ihnen Schutz; er opfere ihnen seine Person und seine Zeit, er trete überall für sie ein; gewiß wird er in seinem ganzen Leben keine ehrenvollere Beschäftigung finden. Wie viele Unterdrückte, denen man sonst nie Gehör geschenkt hätte, werden Gerechtigkeit erlangen, wenn er dieselbe für sie mit jener unerschrockenen Festigkeit, welche man der Ausübung der Tugend verdankt, fordert, wenn sich ihm die Thüren der Großen und Reichen öffnen müssen, wenn er sich nötigenfalls bis zu den Stufen des Thrones Bahn brechen wird, um vor ihm den Unglücklichen Gehör zu verschaffen, welchen in Folge ihres Elends alle Zugänge verschlossen bleiben, und welche sich durch die Furcht, für das Böse, welches man ihnen zufügt, noch obendrein bestraft zu werden, abhalten lassen, sich darüber zu beschweren.

Sollen wir denn aber aus Emil einen fahrenden Ritter, einen Rächer der Bedrängten, einen Abenteurer machen? Soll er sich in die öffentlichen Angelegenheiten mischen? Soll er vor den Großen, vor den Obrigkeiten und vor dem Regenten die Rolle des Weisen und des Vertheidigers der Gesetze spielen? Soll er vor den Richtern als Anwalt und vor den Gerichtshöfen als Sachwalter auftreten? Von dem Allen ist mir nichts bekannt. Scherzhafte und verunglimpfende Namen ändern an der Natur der Sache nichts. Er wird einfach Alles thun, was nach seinem Dafürhalten nützlich und gut ist. Mehr wird er nicht thun, und er weiß, daß für ihn nichts nützlich und gut ist, was außerhalb der Sphäre seines Alters liegt. Er weiß, daß seine erste Pflicht verlangt, die Pflichten gegen sich selbst zu erfüllen, daß junge Leute sich selbst nicht trauen dürfen, daß sie in ihrem Benehmen vorsichtig, in Gegenwart älterer Leute ehrerbietig, in ihren Aeußerungen, wenn sie nicht gefragt werden, zurückhaltend und maßvoll, bei gleichgiltigen Dingen bescheiden, aber im Gutesthun beherzt und im Bekenntniß der Wahrheit muthig sein müssen. So handelten jene berühmten Römer, welche, bevor ihnen der Zutritt zu den öffentlichen Aemtern gestattet wurde, ihre Jugend unter Verfolgung der Verbrechen und Verteidigung der Unschuld verlebten, ohne dabei irgend ein anderes Interesse zu verfolgen, als sich zu unterrichten, während sie der Gerechtigkeit dienten und den guten Sitten förderlich waren.

Emil liebt weder Lärm noch Streit, und zwar nicht nur nicht unter Menschen, Wie wird er sich jedoch selbst benehmen, wenn man mit ihm absichtlich Händel sucht? Ich erwidere darauf, daß er niemals Händel haben und sich nie in solche verwickeln lassen wird. Indeß, werdet ihr ferner einwenden, wer kann denn am Ende vor einer thätlichen oder wörtlichen Beleidigung völlig sicher sein, wenn ein brutaler Mensch, ein Trunkenbold oder ein Raufer darauf ausgeht, uns zuerst zu beschimpfen, um nachher noch das Vergnügen zu haben, uns zu tödten? Das ist eine andere Sache; keineswegs darf die Ehre oder das Leben eines Bürgers der Willkür eines rohen Burschen, eines Trunkenbolds oder Raufers preisgegeben sein, und trotzdem vermag man sich gegen ein solches unangenehmes Vorkommnis nicht mehr, als gegen das Herabfallen eines Dachziegels, zu sichern. Erlittene, thätliche oder wörtliche Beleidigungen bringen im bürgerlichen Leben Folgen hervor, welchen keine Weisheit vorbeugen und für welche kein Gerichtshof dem Beleidigten volle Genugthuung gewähren kann. Die Unzulänglichkeit der Gesetze gibt ihm folglich in diesem Punkte seine Unabhängigkeit zurück; er ist von nun an alleiniger Schiedsmann, alleiniger Richter zwischen dem Beleidiger und sich, er ist der alleinige Ausleger und Vollzieher des Naturgesetzes. Er ist sich Gerechtigkeit schuldig und kann sie sich allein widerfahren lassen, und es findet sich sicherlich keine Regierung auf Erden, die so unverständig wäre, ihn dafür zu bestrafen, daß er sie sich in einem solchen Falle selbst verschafft hat. Damit verlange ich nicht, daß er sich schlagen soll; eine solche Handlungsweise ist Narrheit; ich sage nur, daß er sich Gerechtigkeit schuldig ist und daß es nur von ihm allein abhängt, sie sich zu verschaffen. Wäre ich Monarch, so bürge ich dafür, daß in meinen Staaten, ohne daß ich dieser Menge vergeblicher Gesetze gegen die Duelle nöthig hätte, keine Beleidigungen vorkommen sollten, und zwar durch ein höchst einfaches Mittel, bei dem alle Einmischung der Gerichte vermieden wäre. Wie dem jedoch auch immer sei, Emil weiß in einem solchen Falle, welche Gerechtigkeit er sich selbst schuldig ist, und welches Beispiel er zur Sicherstellung aller Leute von Ehre aufstellen muß. Selbst der entschlossenste Mann hat es nicht in seiner Gewalt, jede Beleidigung von sich fern zu halten, so viel vermag er aber zu verhindern, daß man sich lange rühme, ihn beschimpft zu haben.

(Diese Anmerkung hat eine gewisse Berühmtheit erlangt. Sie hat der Kritik einen Stoff gegeben, von dem sich Bosheit und Falschheit eifrig bemüht haben, Vortheil zu ziehen. Die Idee, welche Rousseau nur ahnen läßt, und über welche sich offener zu erklären, er scheint vermeiden zu wollen, ist übrigens in einem seiner Briefe an den Abbé M..., datirt den 14. März 1770, deutlich ausgesprochen und sogar entwickelt. Er fügt daselbst die Erzählung einer sehr auffallenden Anekdote bei, welche die Veranlassung war, daß sich jene Idee in seinem Geiste bildete.)

Anmerk. des Herrn Petitain
sogar selbst nicht unter Thieren. Nie hetzte er zwei Hunde zusammen, nie hetzte er einen Hund auf eine Katze. Diesen friedlichen Sinn verdankt er seiner Erziehung, welche dadurch, daß sie niemals der Eigenliebe und der hohen Meinung von ihm selbst Nahrung gegeben, ihn davon abgehalten hat, im Ausüben der Herrschaft und im fremden Unglücke seine Unterhaltung zu suchen. Er leidet, sobald er leiden sieht; das ist ein natürliches Gefühl. Was die Schuld trägt, daß ein junger Mann hartherzig wird und an dem Anblicke der Leiden eines empfindenden Wesens Gefallen findet, ist lediglich das Wiederauftauchen der Eitelkeit, die ihm den Wahn einimpft, als ob ihm dergleichen Leiden in Folge seiner Weisheit oder seiner Ueberlegenheit nie nahen könnten. Derjenige, welchen man vor dieser Verirrung des Geistes geschützt hat, kann auch nicht in den Fehler verfallen, welcher aus derselben entspringt. Emil liebt also den Frieden; das Bild des Glückes macht einen angenehmen Eindruck auf ihn, und wenn er dazu beizutragen vermag, dasselbe um sich her zu verbreiten, so erblickt er darin ein Mittel mehr, selbst daran theilzunehmen. Nichts berechtigt mich zu der Annahme, daß er beim Anblicke Unglücklicher ihnen nur dieses fruchtlose und grausame Mitleid schenken sollte, welches sich damit begnügt, die Leiden zu bedauern, obgleich es ihnen abhelfen kann. Die werkthätige Hilfe, die er spendet, verschafft ihm Einsichten, die er sich bei einem härteren Herzen gar nicht oder wenigstens erst viel später erworben hätte. Sieht er Unfrieden zwischen seinen Kameraden herrschen, so sucht er sie zu versöhnen; erblickt er Betrübte, so erkundigt er sich nach der Ursache ihres Grames; bemerkt er, wie sich zwei Menschen gegenseitig mit Haß verfolgen, so will er den Grund ihrer Feindschaft kennen lernen; sieht er einen Unterdrückten unter den kleinlichen Verfolgungen eines Mächtigen und Reichen seufzen, so sucht er die Kunstgriffe zu entdecken, unter welchen sich jene Verfolgungen verstecken; und bei dem Interesse, welches er für alle Unglückliche empfindet, sind ihm die Mittel zur Abhilfe ihrer Leiden niemals gleichgiltig. Was haben wir nun zu thun, um aus diesem Triebe auf eine mit seinem Alter in Einklang stehende Weise Nutzen zu ziehen? Nichts als seine Bestrebungen und Kenntnisse zu regeln und seinen Eifer zur Vermehrung Beider anzuwenden. Ich werde nicht müde, es beständig zu wiederholen: Gebet den jungen Leuten alle Belehrungen nicht sowol in Worten, als vielmehr in Handlungen. Was sie aus der Erfahrung lernen können, dürfen sie nicht aus Büchern lernen. Was für ein ungereimtes Unternehmen, sie im Reden zu üben, so lange ihnen ein Gegenstand fehlt, über den sie etwas zu sagen wissen, zu glauben, man könne sie, so lange sie noch auf der Schulbank sitzen, dahin bringen, die Kraft der Sprache der Leidenschaften und die ganze Gewalt der Überredungskunst zu empfinden, ohne daß sie ein wirkliches Interesse haben, Jemanden zu überreden! Alle Regeln der Rhetorik kommen demjenigen, der sie nicht zu seinem Vortheile zu verwenden weiß, wie reines Geschwätz vor. Was kümmert es einen Schüler, zu wissen, wie Hannibal es angestellt hat, um seine Soldaten zur Überschreitung der Alpen zu bewegen? Wenn ihr ihm, anstatt ihn auf diese effectvollen Reden hinzuweisen, Anleitung gäbet, wie er es anfangen müsse, daß er seinen Schulmonarchen dahin bringen könne, ihm einen Urlaub zu bewilligen, so könnt ihr versichert sein, daß er euren Regeln eine größere Aufmerksamkeit schenken würde.

Hätte ich mir die Aufgabe gestellt, einen jungen Mann, dessen Leidenschaften schon sämmtlich entwickelt wären, in der Rhetorik zu unterrichten, so würde ich ihm unablässig nur solche Gegenstände vorführen, die seinen Leidenschaften angenehm wären, und ich würde mit ihm untersuchen, welche Sprache er Anderen gegenüber führen müsse, um sie zu vermögen, auf seine Wünsche einzugehen. Mein Emil befindet sich jedoch keineswegs in einer Lage, die der Redekunst sehr förderlich ist. Fast ausschließlich auf physische Bedürfnisse beschränkt, bedarf er weniger Anderer, als diese seiner; und da er von ihnen nichts für seine eigene Person zu erbitten hat, so berührt ihn das, wozu er sie überreden will, nicht in so hohem Grade, um ihn außerordentlich zu erregen. Daraus folgt, daß er sich für gewöhnlich einer einfachen und wenig bildlichen Sprache bedienen wird. Im Allgemeinen muß jedes seiner Worte im eigentlichen Sinne verstanden werden, und er redet ja auch nur, um sich verständlich zu machen. Er ist wenig sentenzenreich, weil ihm eine Verallgemeinerung seiner Ideen noch fremd ist. In seiner Rede kommen wenige Bilder vor, weil er sich selten in leidenschaftlicher Aufregung befindet.

Dessenungeachtet ist er aber nicht völlig phlegmatisch und kalt, dies gibt weder sein Alter, noch seine Gewohnheiten, noch seine Geschmacksrichtung zu. Bei seinem jugendlichen Feuer versetzen die in seinem Blute zurückgehaltenen und zu wiederholten Malen destillirten Lebensgeister sein junges Herz in eine Wärme, die aus seinen Blicken hervorstrahlt, die man aus seinen Reden herausfühlt, die sich in seinen Handlungen kundgibt. In seiner Sprache macht sich eine gewisse Accentuation und bisweilen auch ein eigentümliches Feuer bemerkbar. Das edle Gefühl, welches ihn beseelt, verleiht ihr Kraft und Schwung. Von aufrichtiger Liebe zur Menschheit durchdrungen, spiegeln sich die Bewegungen seiner Seele in seinen Worten ab. Sein kühner Freimuth übt einen eigentümlichen Zauber aus, der ungleich wirkungsvoller ist, als die verschmitzte Beredsamkeit Anderer; oder vielmehr ist er allein wahrhaft beredt, da er nur zu zeigen braucht, was er fühlt, um in seinen Hörern dasselbe Gefühl wachzurufen.

Je mehr ich darüber nachsinne, desto mehr überzeuge ich mich davon, daß es wenig nützliche Kenntnisse gibt, die man nicht in dem Geiste eines Jünglings dadurch zu entwickeln vermöchte, daß man seinem Wohlthätigkeitssinne ein Feld der Thätigkeit einräumte und ihn dazu anhielte, aus den guten oder schlechten Folgen unserer Handlungen Rückschlüsse auf die zu Grunde liegenden Ursachen zu machen, und daß er neben dem wirklichen Wissen, das man in öffentlichen Anstalten einsammeln kann, sich außerdem noch eine weit wichtigere Wissenschaft erwirbt, nämlich die, von seinen Kenntnissen im Leben auch Gebrauch zu machen. Gewiß muß er bei seinem lebhaften Interesse für seine Nebenmenschen schon frühzeitig ihre Handlungen, ihre Neigungen, ihre Vergnügungen prüfen und würdigen lernen und das, was zum menschlichen Glücke beitragen oder dasselbe schädigen kann, weit richtiger nach seinem wahren Werthe auffassen, als diejenigen, welche bei ihrer völligen Theilnahmlosigkeit an dem Schicksale irgend Jemandes auch nie etwas für Andere thun. Diejenigen, welche sich immer nur mit ihren eigenen Angelegenheiten befassen, befinden sich in viel zu leidenschaftlicher Erregung, um die Dinge richtig beurtheilen zu können. Da sie Alles auf sich allein beziehen und die Begriffe von gut und böse nach ihrem alleinigen Interesse bestimmen, so setzen sie sich tausend lächerliche Vorurtheile in den Kopf, und erblicken in Allem, was ihren Vortheil nur im Geringsten schädigt, sofort den Zusammensturz des ganzen Weltalls.

Laßt uns unserer Eigenliebe eine Erweiterung auch auf andere Wesen geben. Wir werden sie dadurch in Tugend verwandeln, und es gibt kein Menschenherz, in welchem diese Tugend nicht wurzelt. Je weniger der Gegenstand unserer Sorgen in unmittelbarem Zusammenhange mit uns selbst steht, desto weniger steht eine Täuschung unseres Sonderinteresses zu befürchten; je mehr man dieses Interesse verallgemeinert, desto mehr wird es zu einer billigen Beurtheilung veranlassen; und unsere Liebe zur Menschheit fällt mit der Liebe zur Gerechtigkeit zusammen. Wollen wir also, daß Emil die Wahrheit liebe, wollen wir, daß er sie erkenne, so dürfen sich seine Geschäfte nicht um seine eigene Person drehen. Je mehr seine Sorgen dem Glücke Anderer gewidmet sind, desto richtiger und weiser werden sie sein und desto weniger Täuschungen wird er sich über das, was gut oder böse ist, hingeben. Allein niemals laßt uns bei ihm eine blinde Bevorzugung dulden, die sich einzig und allein auf das Wohlgefallen an der Person oder auf ungerechte Vorliebe gründet. Und weshalb sollte er auch dem Einen schaden, um dem Andern zu nützen. Ihm verschlägt es wenig, wem ein größerer Glücksantheil zufällt, wofern er nur zum größtmöglichsten Glücke Aller mitwirkt. Dies ist nächst seinem eigenen Interesse das Hauptinteresse des Weisen, denn Jeder ist ein Theil seiner Gattung, und nicht eines anderen Individuums.

Um die Ausartung des Mitleids in Schwäche zu verhindern, muß man es folglich verallgemeinern und ihm eine Ausdehnung über das ganze Menschengeschlecht geben. Dann gibt man sich demselben nur insoweit hin, als es mit der Gerechtigkeit Hand in Hand geht, weil unter allen Tugenden die Gerechtigkeit gerade diejenige ist, welche zum allgemeinen Menschenwohl am meisten beiträgt. Aus Gründen der Vernunft, aus Liebe zu uns selbst, müssen wir mit unserer Gattung noch mehr Mitleid haben als mit unserem Nächsten, und das Mitleid mit den Bösen ist geradezu eine sehr große Grausamkeit gegen die Menschheit in ihrer Gesammtheit.

Uebrigens wolle man eingedenk bleiben, daß alle diese Mittel, durch welche ich meinen Zögling auf diese Weise gleichsam aus sich heraus versetze, trotzdem stets eine directe Beziehung auf ihn haben, weil ihm daraus nicht allein ein innerer Genuß erwächst, sondern weil ich auch, während ich seine Wohlthätigkeit zum Besten Anderer anrege, seine eigene Belehrung befördere.

Habe ich zuerst die Mittel angeführt, so will ich nun ihre Wirkungen auseinandersetzen. Von wie hohen Gesichtspunkten läßt er sich allmählich leiten! Welche erhabenen Empfindungen ersticken in seinem Herzen den Keim aller kleinlichen Leidenschaften! Welch klare Urtheilskraft, welch sicheres Denkvermögen sehe ich sich in ihm ausbilden durch seine auf alles Gute gerichteten Triebe und durch die Erfahrung, welche die Wünsche einer großen Seele in die engen Grenzen des Erreichbaren zusammendrängt und die Ursache ist, daß ein den Anderen überlegener Mensch sich auf ihren Standpunkt herabzulassen versteht, weil er außer Stande ist, sie zu sich emporzuheben. Die wahren Principien der Gerechtigkeit, die wahren Muster des Schönen, alle moralischen Beziehungen der Wesen, alle Ideen der Ordnung prägen sich seinem Verstande ein. Er kennt den Platz, den jedes Ding einnehmen muß, und die Ursache, die es von demselben entfernt; er kennt die Quellen des Guten, so wie die Hindernisse, die sich dem Guten entgegenstellen. Ohne die menschlichen Leidenschaften empfunden zu haben, sind ihm doch ihre Illusionen und ihr Spiel bekannt.

Unvermögend, der Gewalt der Gegenstände zu widerstehen, gehe ich weiter, ohne mich jedoch über das Urtheil der Leser auch nur im Geringsten im Unklaren zu befinden. Schon längst erblicken sie mich im Lande der Hirngespinnste, während ich sie nur im Lande der Vorurtheile sehe. Wenn ich mich auch in so hohem Grade von den gewöhnlichen Ansichten entferne, so sind dieselben meinem Geiste doch fortwährend gegenwärtig; ich untersuche sie und stelle Betrachtungen über sie an, nicht um sie mir als Richtschnur zu nehmen oder ihnen ängstlich aus dem Wege zu gehen, sondern um sie auf der Wage der Vernunft abzuwägen. So oft mich Letztere auch nöthigt, von ihnen abzuweichen, so gilt es für mich, da ich durch die Erfahrung belehrt bin, als eine abgemachte Sache, daß Niemand meinem Beispiele folgen werde. Ich weiß, daß sie, da sie sich durchaus nur das als möglich vorstellen können, was sie mit Augen wahrnehmen, den jungen Mann, welchen ich ihnen darstelle, für ein Wesen der Einbildung und Phantasie halten werden, weil er sich von denen, mit welchen sie ihn vergleichen, so wesentlich unterscheidet. Sie berücksichtigen nicht, daß er sich ja nothwendig von ihnen unterscheiden muß, weil er eine ganz andere Erziehung erhalten hat, von ganz anderen Gefühlen beseelt und ganz anders unterrichtet ist als sie. Es würde vielmehr weit überraschender sein, wenn er ihnen ähnelte, anstatt so zu sein, wie ich ihn voraussetze. Er ist nicht ein Mensch, wie ihn der Mensch, sondern wie ihn die Natur bildet. Sicherlich muß er deshalb ihren Augen sehr befremdend vorkommen.

Beim Beginne dieses Werkes stellte ich nichts auf, was nicht Jedermann eben so gut beobachten könnte als ich, weil es ja ein und derselbe Punkt ist, nämlich die Geburt des Menschen, von dem wir Alle gleichmäßig ausgehen; je weiter wir jedoch fortschreiten, ich, um die Natur zu unterstützen, und ihr, um sie niederzuhalten und zu verderben, desto mehr entfernen wir uns von einander. In seinem sechsten Jahre unterschied sich mein Zögling wenig von den eurigen, da es euch noch an ausreichender Zeit zu ihrer Verbildung gefehlt hatte. Jetzt ist alle Aehnlichkeit zwischen ihnen verschwunden, und das Mannesalter, dem sich Emil nun nähert, muß ihn uns unter einer völlig abweichenden Gestalt zeigen, wenn ich nicht alle meine Mühe umsonst angewandt habe. Die Menge der Kenntnisse ist auf beiden Seiten vielleicht gleich; aber die Gegenstände, auf welche sich die Kenntnisse erstrecken, sind sehr verschieden. Es setzt euch in Erstaunen, bei dem Einen erhabene Gefühle wahrzunehmen, von denen sich bei den Anderen auch nicht die geringste Spur vorfindet, aber berücksichtigt auch, daß Letztere bereits sämmtlich Philosophen und Theologen sind, bevor Emil nur weiß, was Philosophie ist, ja bevor er noch von Gott hat reden hören.

Machte man mir etwa den Einwand: »Nichts von dem, was du annimmst, existirt in Wirklichkeit; die jungen Leute sind keineswegs so beschaffen, sie haben diese oder jene Leidenschaft; sie thun dies oder das,« so liefe dies auf dasselbe hinaus, als wenn man bestreiten wollte, daß deshalb, weil man in unseren Gärten nur Zwergbäume zu sehen bekommt, nun auch je ein Birnbaum ein großer Baum sein könnte.

Ich bitte diese Richter, die stets bei der Hand sind, ein absprechendes Urtheil zu fällen, doch in Betracht zu ziehen, daß ich das, was sie da sagen, ganz eben so gut weiß als sie, daß ich wahrscheinlich länger darüber nachgedacht habe, und daß ich, da mir jedes Interesse fehlt, sie hinter das Licht zu führen, zu der Forderung berechtigt bin, daß sie sich wenigstens so viel Zeit nehmen, zu untersuchen, worin ich mich irre. Mögen sie die Beschaffenheit des Menschen einer sorgfältigen Untersuchung unterwerfen, mögen sie die Anfänge der Entwickelung des menschlichen Herzens bei dieser oder jener Gelegenheit verfolgen, um zu erkennen, einen wie großen Unterschied die Erziehung zwischen zwei Individuen hervorrufen kann; mögen sie darauf die meinige mit der Wirkung vergleichen, die ich mir davon verspreche, und mir dann auseinandersetzen, in welcher Hinsicht ich mir einen Trugschluß habe zu Schulden kommen lassen; erst dann werde ich nichts zu entgegnen haben.

Was mich in meiner Ansicht noch mehr bestärkt und mir, meines Erachtens, zur Entschuldigung dienen muß, daß ich ihr huldige, ist die Thatsache, daß ich, weit davon entfernt, der Sucht zu systematisiren nachzugeben, der blos logischen Beweisführung einen so geringen Spielraum wie möglich gewähre und mich nur auf die Beobachtung verlasse. Ich stütze mich nicht auf das Resultat meiner Einbildung, sondern auf das meiner Wahrnehmung. Es ist wahr, daß ich mich bei der Einsammlung meiner Erfahrung nicht blos auf das Weichbild einer Stadt, noch auf eine einzige Menschenrasse beschränkt habe; aber nach Vergleichung so vieler Stände und Völker, deren Bekanntschaft ich in meinem nur der Beobachtung gewidmeten Leben habe machen können, habe ich als erkünstelt alles dasjenige ausgeschieden, was sich als ausschließliche Eigentümlichkeit eines einzigen Volkes oder Standes herausstellte, und zu dem menschlichen Wesen nur das als unbestreitbar zugehörig betrachtet, was Allen, ohne Unterschied des Alters, des Ranges und der Nation, gemeinsam war.

Verfolgt ihr nun nach dieser Methode die Entwickelung eines jungen Mannes, dem es noch an einer bestimmt ausgeprägten Form fehlt und der von der Autorität und Meinung Anderer so wenig wie möglich abhängt, von seiner frühesten Kindheit an, wem wird er wol nach eurem Bedünken am meisten ähneln, meinem Zöglinge oder den Eurigen? Dies ist, wie mir scheint, die Frage, die man beantworten muß, um erkennen zu können, ob ich mich geirrt habe.

Der Mensch beginnt nicht so leicht zu denken; sobald er aber erst einmal den Anfang damit gemacht hat, hört er nicht mehr auf. Wer gedacht hat, wird immer denken, und der Verstand vermag, wenn er einmal im Nachdenken geübt ist, nie wieder in Unthätigkeit zu verharren. Man könnte deshalb auf die Vermuthung kommen, daß ich bei meiner Methode zu viel oder zu wenig thäte, daß die Thätigkeit des menschlichen Geistes von Natur nicht so schnell sichtbar würde, und daß ich denselben, nachdem ich ihm Gaben beigemessen hätte, die er gar nicht besäße, trotzdem in einem Ideenkreise eingeengt hielte, den er längst durchbrochen haben sollte.

Erstens ist jedoch zu berücksichtige», daß es sich bei dem Wunsche, einen Naturmenschen heranzubilden, noch nicht darum handelt, einen Wilden aus ihm zu machen und ihn in die Tiefe der Wälder zu verweisen; sondern es genügt, daß er sich im gesellschaftlichen Strudel weder durch die Leidenschaften noch durch die Vorurtheile der Menge mit fortreißen läßt, daß er mit eigenen Augen sieht, mit eigenem Herzen fühlt, daß er sich unter die Herrschaft keiner Autorität als unter die seiner Vernunft beugt. Es ist einleuchtend, daß die Menge der Gegenstände, deren Einwirkungen er in dieser Lage ausgesetzt ist, die stets neuen Gefühle, die ihn erfüllen, die verschiedenen Mittel, seinen wirklichen Bedürfnissen abzuhelfen, ihn mit vielen Begriffen bekannt machen müssen, die er sonst niemals oder doch nur auf einem viel langsameren Wege erlangen würde. Der dem Geiste natürliche Fortschritt wird beschleunigt, aber nicht aufgehoben. Der nämliche Mensch, der in den Wäldern dumm bleiben muß, muß in den Städten, wenn er auch nur einfacher Zuschauer ist, vernünftig und verständig werden. Nichts ist geeigneter, uns weise zu machen, als der Anblick von Thorheiten, an denen wir uns nicht betheiligen; und sogar der Teilnehmer belehrt sich noch, vorausgesetzt, daß er von ihnen nicht geblendet wird und demselben Irrthum unterliegt, wie diejenigen, welche sie begehen.

Weiter wolle man bedenken, daß wir, durch unsere Anlagen auf sinnliche Gegenstände beschränkt, für die Auffassung abstrakter Begriffe der Philosophie und rein geistiger Ideen fast gar keine Fähigkeit besitzen. Um uns dieselben anzueignen, müssen wir uns entweder von diesem Körper, an den wir mit so starken Banden gefesselt sind, frei machen, oder von Gegenstand zu Gegenstand stufenweise und langsam fortschreiten, oder wir müssen die Kluft endlich rasch und gleichsam mit einem Riesenschritte überspringen, dessen die Kindheit unfähig ist und zu welchem sogar der Mann eine für ihn besonders angefertigte Stufenleiter nöthig hat. Die erste abstracte Idee bildet die erste Sprosse derselben; aber ich vermag nur schwer einzusehen, wie man sie sich herzurichten denkt.

Das unerforschliche, allumfassende Wesen, welches der Welt die Bewegung verleiht, und welchem die ganze Reihe der Wesen ihren Ursprung verdankt, ist weder unseren Augen sichtbar, noch unseren Händen greifbar. Es entzieht sich allen unseren Sinnen. Das Werk tritt uns sichtbar entgegen, aber der Meister verbirgt sich. Es ist keine Kleinigkeit, seine Existenz endlich zu erkennen. Und ist es uns gelungen, fragen wir uns: »Was ist er? Wo ist er?« so verwirrt und verirrt sich unser Geist und die Gedanken stehen uns still.

Locke verlangt, man solle sich zuerst mit dem Studium der Geister beschäftigen und erst dann zu dem der Körper übergehen. Das ist die Methode des Aberglaubens, der Vorurtheile, des Irrthums, aber nicht die der Vernunft, ja nicht einmal die der wohlgeordneten Natur. Es heißt sich die Augen verbinden, um sehen zu lernen. Es bedarf eines langen Studiums der Körper, ehe man im Stande ist, sich von den Geistern eine richtige Vorstellung zu machen und sich zur Ahnung ihrer Existenz hindurchzuarbeiten. Die umgekehrte Reihenfolge führt zum Materialismus.

Da unsere Sinne die ersten Werkzeuge zur Erlangung unserer Kenntnisse sind, so sind auch die körperlichen und sinnlich wahrnehmbaren Dinge die einzigen, von denen wir unmittelbar eine Vorstellung erhalten. Wer nicht mit den philosophischen Anschauungen vertraut ist, vermag mit dem Worte »Geist« keinen Sinn zu verbinden. Die große Masse des Volkes und die Kinder stellen sich einen Geist stets körperlich vor. Glauben sie nicht an Geister, welche schreien, reden, schlagen und Lärm machen? Nun wird man mir aber zugestehen müssen, daß Geister, welche Arme und Sprache haben, den Körpern täuschend ähnlich sind. Dies ist die Ursache, weshalb sich sämmtliche Völker, die Juden nicht ausgenommen, körperliche Götter gebildet haben. Mit unseren Ausdrücken Geist, Dreieinigkeit, Personen Gottes sind wir selbst zum größten Theile Anthropomorphisten. Ich gebe zu, daß man uns nachsagen lehrt, Gott sei überall; allein wir glauben eben so gut, daß die Luft überall sei, wenigstens innerhalb unserer Atmosphäre, und das Wort Geist bedeutet ja selbst eigentlich nichts anders als Hauch, Odem und Wind. Gewöhnt man die Leute einmal daran, Worte nachzusprechen, ohne sie zu verstehen, dann kann man sie auch mit Leichtigkeit dazu bringen, Alles zu sagen, was man will.

Das Gefühl unserer Einwirkung auf andere Körper hat uns zunächst in den Glauben versetzen müssen, daß demzufolge auch jede Einwirkung Letzterer auf uns der von uns auf sie ausgeübten gleich sei. Auf diese Weise begann der Mensch sich alle Dinge, deren Einwirkung auf sich er empfand, belebt vorzustellen. Da er sich weniger stark fühlte als die meisten derselben, weil ihm die Kenntniß der Grenzen ihrer Macht fehlte, so kamen sie ihm unbegrenzt vor, und er machte von dem Augenblicke an, wo er sie sich als Körper dachte, Götter aus ihnen. Während der ersten Zeitalter haben die Menschen, die sich noch durch Alles in Schrecken setzen ließen, nichts Todtes in der Natur gesehen. Der Begriff Materie hat sich in ihnen nicht weniger langsam gebildet, als der Begriff Geist, da dieser erstere Begriff ja ebenfalls eine Abstraction ist. Auf diese Weise haben sie das Weltall mit sinnlich wahrnehmbaren Göttern erfüllt. Die Gestirne, die Winde, die Berge, die Flüsse, die Bäume, die Städte, sogar die Häuser, kurz Alles hatte seine Seele, seinen Gott, sein Leben. Die Bildnisse Labans, die Manitous der Rothhäute, die Fetische der Neger, alle Werke der Natur und des Menschen sind die ersten Gottheiten der Sterblichen gewesen; Polytheismus war ihre erste Religion und Götzendienst ihr erster Cultus. Zur Erkenntniß eines einzigen Gottes konnten sie sich erst erheben, als sie in Folge der allmählichen Verallgemeinerung ihrer Begriffe im Stande waren, auf die erste Ursache zurückzugehen, die ganze Kette der Wesen unter einen einzigen Begriff zusammenzufassen und mit dem Worte Substanz, das im Grunde genommen die größte aller Abstractionen ist, einen bestimmten Sinn zu verbinden. Jedes Kind, welches an Gott glaubt, ist folglich notwendigerweise ein Götzendiener oder doch wenigstens ein Anthropomorphist, und hat sich erst die Einbildungskraft einmal ein Bild Gottes ausgemalt, so kommt es sehr selten vor, daß ihn dann noch der Verstand begreift. Und das ist gerade der Fehler, in welchen wir bei Beobachtung des von Locke empfohlenen Ganges verfallen. Da ich einmal, ich weiß selbst nicht wie, auf den abstracten Begriff Substanz gekommen bin, so wird man, wenn wir einen Augenblick dabei stehen bleiben, einsehen, daß man bei Annahme einer einzigen Substanz derselben Eigenschaften zuschreiben müßte, die sich wegen ihrer völligen Unvereinbarkeit gegenseitig ausschließen, wie das Denken und der Umfang, von denen die eine ihrem Wesen nach theilbar ist, die andere dagegen jede Theilbarkeit ausschließt. Man begreift übrigens, daß das Denken, oder wenn man will, die Empfindung, eine ursprüngliche und von der Substanz, zu der sie gehört, untrennbare Eigenschaft ist, und daß das nämliche Verhältniß zwischen dem Umfange und seiner Substanz stattfindet. Daraus ist man zu dem Schlusse berechtigt, daß die Wesen, welche eine dieser Eigenschaften verlieren, gleichzeitig auch die Substanz, zu der sie gehört, verlieren, daß demnach der Tod lediglich eine Trennung der Substanzen ist, und daß die Wesen, in denen sich jene beiden Eigenschaften vereinigt vorfinden, aus zwei Substanzen zusammengesetzt sind, zu denen diese beiden Eigenschaften gehören.

Jetzt überlege man aber, welch ein Unterschied noch bleibt zwischen dem Begriffe der beiden Substanzen und dem der göttlichen Natur, zwischen der unbegreiflichen Vorstellung der Einwirkung unserer Seele auf unseren Körper und der Vorstellung der Einwirkung Gottes auf alle Wesen! Wie sollen sich die Begriffe Schöpfung, Vernichtung, Allgegenwart, Ewigkeit, Allmacht, ferner die Begriffe der übrigen göttlichen Eigenschaften, alle diese Begriffe, deren Verworrenheit und Dunkelheit nur Wenige in ihrer ganzen Wirklichkeit zu erkennen vermögen, und welche für das Volk nur deshalb nichts Dunkles haben, weil ihm alles Verständniß für dieselben abgeht, wie, frage ich, sollen sie sich jungen Seelen, die noch von den ersten Sinnesäußerungen in Anspruch genommen werden und nur das zu begreifen im Stande sind, was sie mit Händen greifen können, in ihrer ganzen Stärke, d. h. in ihrer ganzen Dunkelheit darstellen? Umsonst öffnen sich die Abgründe der Unendlichkeit rings um uns her; ein Kind läßt sich dadurch nicht in Schrecken setzen; seine schwachen Augen vermögen ihre Tiefen nicht zu ergründen. Den Kindern gegenüber ist Alles unendlich, sie verstehen keiner Sache Grenzen zu setzen, nicht etwa weil sie einen zu großen Maßstab anlegen, sondern wegen der Unzulänglichkeit ihres Verstandes. Ich habe sogar die Beobachtung gemacht, daß sie das Unendliche weniger jenseits als diesseits des ihnen bekannten Raumes verlegen. Sie werden sich bei der Abschätzung eines unbegrenzten Raumes weit mehr auf ihre Füße als auf ihre Augen verlassen; er wird sich für sie nicht über die Grenzen ihrer Sehkraft, sondern nur über die Grenzen des Weges, den sie zurücklegen können, hinaus erstrecken. Erzählt man ihnen von der Allmacht Gottes, so werden sie ihn für beinahe eben so stark als ihren Vater halten. Da ihnen in allen Dingen das, was sie kennen, den Maßstab des Möglichen abgeben muß, so halten sie das, was man ihnen sagt, stets für geringer als das, was sie aus Erfahrung wissen. So lauten regelmäßig die Urtheile, welche Unwissenheit und Geistesschwache fällen. Ajax würde sich gefürchtet haben, sich mit dem Achill zu messen, fordert aber den Jupiter zum Kampfe heraus, weil er den Achill kennt, jedoch nicht den Jupiter. Ein schweizer Bauer, welcher sich für den reichsten Mann hielt, und dem man die Bedeutung eines Königs klar zu machen suchte, fragte mit stolzer Miene, ob ein König wol im Stande wäre, hundert Kühe auf den Bergen zu halten.

Ich sehe voraus, wie viele meiner Leser die Wahrnehmung in Erstaunen setzen wird, daß ich das ganze erste Lebensalter meines Zöglings habe vorübergehen lassen, ohne mit ihm über Religion zu sprechen. Im Alter von fünfzehn Jahren wußte er noch nicht, daß er überhaupt eine Seele hat, und vielleicht braucht er es noch nicht einmal im achtzehnten Jahre zu lernen, denn wenn er es vor dem unumgänglich nöthigen Zeitpunkte lernt, läuft er Gefahr, es niemals zu erfahren.

Wenn mir die Aufgabe gestellt wäre, die Dummheit in ihrer abstoßendsten Form zur Darstellung zu bringen, so würde ich einen pedantischen Schulfuchs malen, wie er Kindern Katechismusunterricht ertheilt; wenn ich ein Kind ganz närrisch machen wollte, würde ich es nöthigen, mir deutlich auseinander zu setzen, was es beim Hersagen des Katechismus eigentlich sage. Man wird mir den Einwurf machen, daß ja der größte Theil der christlichen Dogmen Geheimnisse seien und daß deshalb warten wollen, bis der menschliche Geist die Fähigkeit erlangt habe, sie zu begreifen, nicht warten heiße, bis aus dem Kinde ein Mann geworden sei, sondern bis der Mensch aufgehört habe zu existieren. Hierauf entgegne ich erstlich, daß es Geheimnisse gibt, die es dem Menschen nicht nur unmöglich fällt zu begreifen, sondern auch zu glauben. Ich sehe in der That nicht ein, was man dadurch, daß man die Kinder mit denselben bekannt macht, anders erzielt, als daß man sie schon früh zum Lügen anhält. Weiter bin ich der Ansicht, daß man, will man Geheimnisse gelten lassen, wenigstens begreifen muß, daß sie unbegreiflich sind, Kinder sind aber nicht einmal dieses Gedankens fähig. Für das Alter, in welchem Alles Geheimniß ist, gibt es gar keine Geheimnisse im eigentlichen Sinne.


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