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Ich nähere mich dem Ziele der mir gestellten Aufgabe. Ich sehe es schon in der Ferne vor mir. Alle Hauptschwierigkeiten sind überwunden, alle Haupthindernisse aus dem Wege geräumt. Die einzige Schwierigkeit, die mir noch übrig bleibt, besteht darin, daß ich nicht etwa durch das übereilte Bestreben, mein Werk zu vollenden, dasselbe verderbe. Laßt uns bei der Unsicherheit des menschlichen Lebens namentlich die falsche Klugheit vermeiden, die Gegenwart der Zukunft zu opfern. Häufig heißt das nichts Anderes als das, was ist, dem opfern, was nie sein wird. Laßt uns den Menschen in allen Lebensaltern glücklich machen, damit er nicht etwa nach vielen Sorgen dem Tode zur Beute fällt, ohne es je geworden zu sein. Und gibt es eine zum Lebensgenuß geeignete Zeit, so ist es sicherlich das Ende der Jünglingsjahre, wo sich die leiblichen wie die geistigen Fähigkeiten zu ihrer größten Kraft entfaltet haben, und wo der Mensch inmitten seiner Lebensbahn von Ferne die beiden Endpunkte wahrnimmt, die ihm die Kürze derselben zum Bewußtsein bringen. Wenn die unerfahrene Jugend sich täuscht, so liegt ihr Irrthum nicht dann, daß sie überhaupt auf Genuß ausgeht, sondern darin, daß sie ihn da sucht, wo er nicht zu finden ist, und daß sie sich nicht nur eine elende Zukunft bereitet, sondern auch nicht einmal die Gegenwart zu benutzen versteht.

Betrachtet meinen Emil in seinem zurückgelegten zwanzigsten Jahre. Er ist von schönem Wuchs, gesundem Leib und Seele, stark, behend, geschickt, kräftig, voller Gefühl, Verstand, Güte und Menschenfreundlichkeit. Er zeichnet sich durch gute Sitten und Geschmack aus, liebt das Schöne, thut das Gute. Er ist frei von der Herrschaft grausamer Leidenschaften, unabhängig von dem Joche der allgemeinen Meinung, aber dem Gesetze der Weisheit unterworfen. Er ist nachgibig gegen die Stimme der Freundschaft, besitzt alle nützliche und außerdem mehrere gefällige Talente. Nach Reichthum fragt er nicht viel, da er seine Hilfsquellen in seinen Armen trägt und sich nicht der Furcht hinzugeben braucht, es könne ihm je an Brod fehlen, was sich auch ereignen möge. Jetzt zeigt er sich uns freilich im Rausche einer erwachenden Leidenschaft. Sein Herz öffnet sich der ersten Liebesglut. Seine süßen Illusionen zaubern ihm eine neue Welt von Freuden und Genüssen vor. Er liebt ein liebenswürdiges Mädchen, liebenswürdiger noch seinem Charakter als seiner Person nach. Er hofft, er rechnet auf Gegenliebe, die man ihm seinem Gefühle nach schuldig ist. Aus der Übereinstimmung der Herzen, aus dem Zusammentreffen edler Gesinnungen ist ihre erste Neigung aufgekeimt. Diese Neigung soll Bestand haben. Mit Vertrauen, mit einer Art Genugthuung überläßt er sich diesem reizendsten Wahne, ohne Furcht, ohne Bedauern, ohne Gewissensbisse, ohne eine andere Unruhe als diejenige, welche sich dem Gefühle des Glückes unzertrennlich beigesellt. Was kann seinem Glücke wol fehlen! Beobachtet, überlegt, denket nach über das, was ihm noch nöthig ist, und was man ihm zu dem, was er schon besitzt, noch hinzufügen könnte. Alle Güter, die sich gleichzeitig erlangen lassen, sind sein eigen. Nur auf Kosten eines anderen könnte man sie um ein neues vermehren. Er ist so glücklich, wie ein Mensch es nur sein kann. Soll ich einem so süßen Glücke sofort wieder ein Ende machen? Soll ich ein so reizendes Vergnügen stören? Ach, der ganze Werth seines Lebens beruht auf dem Glücke, das er jetzt empfindet. Womit wäre ich im Stande ihm das zu ersetzen, was ich ihm raubte? Selbst wenn ich seinem Glücke die Krone aufsetzte, würde ich den größten Reiz desselben zerstören. Dieses höchste Glück ist in der Erwartung hundertmal süßer als im Genuß. O, lieber Emil, liebe und laß dich lieben! Gib dich einem langen Genusse hin, bevor du in den Besitz trittst! Erfreue dich zugleich der Liebe und der Unschuld! Schaffe dir auf Erden ein Paradies, so lange du noch auf das andere hoffst! Ich werde diese glückliche Zeit deines Lebens nicht verkürzen; ich werde im Gegentheil einen Zauberschleier über dieselbe decken und sie, so viel in meiner Macht steht, verlängern. Leider muß sie ein Ende haben und muß sogar in kurzer Zeit ein Ende nehmen. Allein ich werde wenigstens Alles aufbieten, daß sie dir nie aus dem Gedächtniß entschwindet, und du nie bereuest, ihr Glück genossen zu haben.

Emil vergißt nicht, was wir zurückzubringen haben. Sobald die geliehene Wäsche wieder in Stand gesetzt ist, miethen wir Pferde und reiten in vollem Trabe ab. Diesmal wünschte er schon beim Abreiten das Ziel erreicht zu haben. Sobald sich das Herz den Leidenschaften öffnet, öffnet es sich auch gleichzeitig der Langenweile des Lebens. Habe ich meine Zeit nicht verloren, so wird er jedoch sein ganzes Leben nicht in diesem Zustande zubringen.

Unglücklicherweise ist der Weg beschwerlich und die Gegend zum Reiten wenig geeignet. Wir verirren uns und er gewahrt es zuerst. Ohne die Geduld zu verlieren, ohne in Klagen auszubrechen, verwendet er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, wieder auf den rechten Weg zu kommen. Lange irrt er umher, bis er sich zurechtfindet, aber immer mit der gleichen Kaltblütigkeit. In euren Augen wird das nicht als etwas Besonderes gelten, in meinen aber gilt es als ein hoher Beweis seiner Selbstbeherrschung, da ich sein hitziges Temperament kenne. Ich erblicke darin die Frucht der Sorgfalt, mit der ich es mir seit seiner Kindheit habe angelegen sein lassen, ihn gegen die Schläge des Unvermeidlichen abzuhärten.

Endlich langen wir an. Die Aufnahme, welche uns zu Theil wird, ist noch einfacher und verbindlicher als das erste Mal. Wir gehören ja jetzt schon zu den alten Bekanntschaften. Emil und Sophie begrüßen sich mit einer gewissen Verlegenheit und reden nur wenig mit einander. Was hätten sie sich auch wol in unserer Gegenwart sagen können? Die Unterhaltung, nach der sie sich sehnten, bedarf keiner Zeugen. Wir machen im Garten einen Spaziergang. Diesem Garten dienen als Lustplatz sehr umfangreiche Gemüsebeete, als Park ein aus großen und schönen Obstbäumen jeglicher Art bestehender Obstgarten, nach verschiedenen Richtungen hin von hübschen Bächen und Rabatten mit blühenden Blumen bedeckt. »Ein herrlicher Ort,« ruft Emil aus, der seinen Homer stets im Kopfe hat und beständig in Begeisterung schwebt, »ich glaube den Garten des Alkinous zu sehen.« Die Tochter des Hauses wünscht zu wissen, wer Alkinous ist, und die Mutter stellt dieselbe Frage. »Alkinous,« sage ich zu ihnen, »war ein König von Korkyra, dessen Garten, den Homer beschrieben hat, in den Augen von Leuten, die auf Geschmack Anspruch machen, für zu einfach und zu schmucklos gilt.

Außer dem Hofe liegt ein Garten, nahe der Pforte,
Eine Huf' ins Gevierte, mit ringsumzogener Mauer.
Allda streben die Bäume mit laubichtem Wipfel gen Himmel.
Voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven,
Oder voll süßer Feigen und röthlich gesprenkelter Aepfel.
Diese tragen beständig und mangeln des lieblichen Obstes
Weder im Sommer noch Winter; vom linden Weste gefächelt,
Blühen die Knospen dort, hier zeitigen schwellende Früchte:
Birnen reifen auf Birnen, auf Aepfel röthen sich Aepfel,
Trauben auf Trauben erdunkeln, und Feigen schrumpfen auf Feigen.
Allda prangt auch ein Feld, von edlen Reben beschattet.
Einige Trauben dorren auf weiter Ebne des Gartens,
An der Sonne verbreitet, und andere schneidet der Winzer,
Andere keltert man schon. Hier stehen die Herling' in Reihen,
Dort entblühen sie erst, dort bräunen sich leise die Beeren.
An dem Ende des Gartens sind immerduftende Beete,
Voll balsamischer Kräuter und tausendfarbiger Blumen.
Auch zwo Quellen sind dort: die eine durchschlängelt den Garten;
Und die andere gießt sich unter die Schwelle des Hofes
An den hohen Palast, allwo die Bürger sie schöpfen.


So lautet die Beschreibung des königlichen Gartens des Alkinous im siebenten Buche der Odyssee, eines Gartens, in welchem man zur Schande dieses alten Träumers Homer und der Fürsten seiner Zeit weder Gitterwerk, noch Bildsäulen, noch Wasserfälle, noch Rasenplätze sah. – Obige Stelle, die sich im 7. Buche der Odyssee, V. 112-131 findet, habe ich nach der Übersetzung von Joh. Heinr. Voß angeführt.

Dieser Alkinous besaß eine liebenswürdige Tochter, welcher den Tag vor der gastfreien Aufnahme eines Fremden im Hause ihres Vaters träumte, daß sie sich bald vermählen würde.« Sophie geräth in Verwirrung, erröthet, schlägt die Augen nieder, beißt sich auf die Zunge; die Verlegenheit, die sich ihrer bemächtigt, läßt sich nicht beschreiben. Der Vater, der ein Gefallen daran zu finden scheint, sie noch zu vermehren, ergreift das Wort und erzählt, daß die junge Prinzessin selbst die Wäsche im Flusse gewaschen habe. »Kannst du wol glauben,« fährt er fort, »daß sie es sogar nicht unter ihrer Würde gehalten hat, die schmutzigen Servietten zu berühren, obwol sie einen unangenehmen Speisegeruch verbreiteten?« Sophie, auf welche dieser Hieb gemünzt ist, vergißt plötzlich ihre natürliche Schüchternheit, und entschuldigt sich mit größter Lebhaftigkeit. Der Papa wisse recht wohl, daß sie die ganze kleine Wäsche, wenn man ihr den Willen gelassen hätte, Ich gestehe, daß ich Sophiens Mutter wirklich Dank dafür weiß, daß sie so zarte Hände, die Emil noch so oft wird küssen müssen, nicht durch die Seife hat verderben lassen. allein übernommen, ja mit Freuden noch mehr gethan haben würde, wenn man ihr den Auftrag dazu ertheilt. Bei diesen Worten sieht sie mich verstohlen und mit einer gewissen Unruhe an. Ich kann mich eines Lächelns nicht erwehren, da ich in ihrem arglosen Herzen den Aufruhr erkenne, der ihr diese Worte eingegeben hat. Ihr Vater ist grausam genug, diese Unbesonnenheit erst recht auffallend zu machen, indem er sie mit spöttischem Tone fragt, aus welchem Grunde sie eigentlich das Gespräch auf sich selber lenke, und was sie denn mit der Tochter des Alkinous gemein habe? Verlegen und zitternd wagt sie kaum noch zu athmen oder den Blick zu Jemand zu erheben. Reizendes Mädchen, jetzt ist es zu spät, dich zu verstellen; unbewußt hast du dich bereits erklärt.

Zu Sophiens Glück ist diese kleine Scene indeß bald vergessen oder scheint es wenigstens zu sein. Emil allein hat von dem ganzen Vorgange nichts begriffen. Der Spaziergang wird fortgesetzt, und unseren jungen Leuten, die uns Anfangs zur Seite geblieben waren, wird es schwer, sich nach unseren langsamen Schritten zu richten. Nach und nach gewinnen sie einen Vorsprung, nähern sich, knüpfen ein Gespräch an, und endlich sehen wir sie ziemlich weit vor uns. Sophie scheint aufmerksam und gesetzt; Emil redet und macht außerordentlich feurige Gesticulationen. Die Unterhaltung scheint Beiden keine Langeweile zu bereiten. Nach Verlauf einer guten Stunde treten wir den Rückweg an; auf unsern Ruf kommen sie, wenn auch ziemlich langsam, zurück, und es entgeht uns nicht, daß sie die Zeit noch auf das Beste benutzen. Bevor sie jedoch in Hörweite gelangt sind, stockt endlich plötzlich ihre Unterhaltung, und sie verdoppeln ihre Schritte, um wieder mit uns zusammenzutreffen. Emil redet uns offen und freundlich an; seine Augen strahlen vor Freude, indeß richtet er sie mit einiger Unruhe auf Sophiens Mutter, um zu sehen, wie sie dieselbe empfangen wird. Sophie weiß nicht ein eben so ungezwungenes Benehmen zu beobachten. Der Gedanke, sich mit einem jungen Manne allein in einem traulichen Zusammensein befunden zu haben, scheint sie bei ihrer Ankunft noch immer verlegen zu machen, sie, die schon so oft mit anderen jungen Herren allein gewesen ist, ohne darüber in Verlegenheit zu gerathen, und ohne daß man darin etwas Unrechtes erblickt hätte. Sie eilt, ein wenig athemlos, auf ihre Mutter zu, und äußert einige nichtssagende Worte, damit es so aussehen sollte, als wäre sie schon lange wieder da.

An der Heiterkeit, welche sich auf dem Antlitze dieser liebenswürdigen Kinder ausprägt, läßt sich errathen, daß diese Unterhaltung ihre jungen Herzen von einer großen Last befreit hat. Sie zeigen zwar nicht weniger Zurückhaltung gegen einander, allein in derselben spricht sich nicht mehr eine so große Verlegenheit aus wie vorher. Sie wurzelt nur noch in Emils Ehrfurcht, in Sophiens Bescheidenheit und Beider Sittsamkeit. Emil wagt einige Worte an sie zu richten, und sogar sie wagt bisweilen zu antworten, aber nie öffnet sie den Mund, ohne ihre Mutter dabei unverwandt anzublicken. Am unverkennbarsten tritt der Wechsel ihrer Gesinnung gegen mich zu Tage. Sie bezeigt mir eine zuvorkommendere Aufmerksamkeit, betrachtet mich mit Theilnahme, redet in wahrhaft herzlicher Weise mit mir und sucht Alles hervor, was mir gefallen kann. Ich erkenne daraus, daß ich mir ihre Achtung errungen habe, und daß es ihr angelegen ist, sich die meinige zu verdienen. Es ist klar, daß Emil mit ihr über mich gesprochen hat; ja man könnte fast auf den Gedanken kommen, daß sie bereits ein Complot geschmiedet, mich zu gewinnen. Trotzdem ist dies nicht der Fall, denn auch Sophie läßt sich nicht so leicht gewinnen. Es wird für ihn vielleicht besser sein, daß ich bei ihr in Gunst stehe, als daß sie sich mein Wohlwollen erworben hat. Reizendes Paar! ... Wenn ich erwäge, daß mein junger Freund trotz seines erregbaren Herzens selbst bei der ersten Unterredung mit seiner Geliebten meiner in so freundlicher Weise gedacht hat, so ernte ich den Lohn für meine Mühe. Seine Freundschaft hat mir Alles vergolten.

Die Besuche werden wiederholt. Die Unterhaltungen zwischen unseren jungen Leuten werden häufiger. Emil glaubt in seinem Liebesrausche seines Glückes schon sicher zu sein. Gleichwol gelingt es ihm nicht, Sophie zu einem ausdrücklichen Geständniß zu bewegen. Sie hört ihn wol an, erwidert aber nichts. Emil kennt den hohen Grad ihrer Sittsamkeit; diese große Zurückhaltung wundert ihn deshalb wenig. Er ist sich bewußt, bei ihr nicht schlecht angeschrieben zu stehen, und weiß überdies, daß die Väter ihre Kinder verheirathen. Er setzt voraus, Sophie warte erst auf einen Befehl ihrer Eltern, bittet um die Erlaubniß, um sie anhalten zu dürfen, und sie erhebt dagegen keinen Einwand. Er nimmt mit mir darüber Rücksprache, und in seinem Namen, ja in seiner Gegenwart bringe ich den Antrag vor. Welche Überraschung für ihn, als er vernimmt, daß die Entscheidung in Sophiens eigene Hand gelegt ist, und daß es lediglich in ihrem Willen liegt, ihn glücklich zu machen! Ihr Benehmen beginnt ihm räthselhaft zu werden. Seine Zuversicht nimmt ab. Er wird unruhig, gelangt zur Einsicht, daß er seines Erfolges noch nicht so sicher sei, als er gedacht, und nun ergeht sich die zärtlichste Liebe in der rührendsten Sprache, um sie zu erweichen.

Emil ist nicht dazu angethan, zu errathen, was ihm schadet. Wenn man ihn nicht darauf aufmerksam macht, wird er es in seinem ganzen Leben nicht erfahren, und Sophie ist zu stolz, um es ihm zu sagen. Die Schwierigkeit, welche sie zurückhält, würde für Andere ein Sporn sein, ihm entgegenzukommen. Sie hat die Lehren ihrer Eltern nicht vergessen. Sie ist arm, während Emil, wie sie weiß, reich ist. Wie viel gehört deshalb dazu, daß er ihr Achtung abnöthigt! Welche Vorzüge muß er besitzen, um diese Ungleichheit zu verwischen! Wie könnte es ihm aber einfallen, in seinem Reichthume ein Hinderniß zu erblicken? Weiß Emil überhaupt nur, daß er reich ist? Kommt es ihm auch nur in den Sinn, sich danach zu erkundigen? Er hat, dem Himmel sei Dank, der Reichthümer nicht nöthig, weil er auch ohne dieselben Wohlthaten um sich zu verbreiten versteht. Zu dem Guten, was er thut, bedarf er nicht der Börse, sondern eines guten Herzens. Er widmet den Unglücklichen seine Zeit, seine Sorgfalt, seine Zuneigung, seine Person. Das Geld, welches er an die Dürftigen austheilt, wagt er kaum in Anschlag zu bringen.

Da er nicht weiß, welchem Umstande er ihre Ungunst zuschreiben soll, mißt er sich selbst die Schuld bei; denn wer würde sich wol erkühnen, den Gegenstand seiner Verehrung einer Laune für fähig zu halten? Die Demüthigung der Eigenliebe erhöht die Betrübniß über die unerwiderte Liebe. Er naht sich Sophien nicht mehr mit jener liebenswürdigen Zuversicht eines Herzens, das sich des ihrigen würdig fühlt. Er ist in ihrer Gegenwart schüchtern und ängstlich. Da er die Hoffnung aufgegeben hat, sie durch Zärtlichkeit zu rühren, sucht er sie durch Erregung ihres Mitleids zu erweichen. Mitunter ermüdet seine Geduld und droht dem Verdrusse weichen zu wollen. Sophie scheint dann das heraufziehende Ungewitter zu ahnen und blickt ihn an. Dieser einzige Blick reicht hin, ihn zu entwaffnen und einzuschüchtern; er ist demüthiger als zuvor.

Durch diesen beharrlichen Widerstand und dieses unüberwindliche Schweigen beunruhigt, schüttet er sein Herz endlich in das seines Freundes aus. Hier legt er die Schmerzen seines von Kummer zerrissenen Herzens nieder. Er fleht um Beistand und Rath. »Welch undurchdringliches Geheimniß! Sie nimmt, wie sich nicht bezweifeln läßt, Antheil an meinem Geschick. Weit davon entfernt, mich zu meiden, ist sie vielmehr gern mit mir zusammen. Bei meiner Ankunft verräth sie Freude, bei meinem Scheiden Kummer. Meine Aufmerksamkeiten nimmt sie gütig auf; meine kleinen Dienste scheinen ihr zu gefallen; sie läßt sich herab, mir ihre Ansichten auseinanderzusetzen, ja mir bisweilen sogar ihre Befehle zu ertheilen. Trotzdem weist sie all mein Bitten und Flehen zurück. Wenn ich mich von einer Vereinigung zu reden unterfange, legt sie mir gebieterisch Schweigen auf, und wenn ich nur noch ein einziges Wort hinzufüge, verläßt sie mich augenblicklich. Welch befremdender Grund kann ihr den Wunsch eingeben, daß ich ihr angehöre, ohne daß sie von meinem Wunsche, sie die Meine nennen zu dürfen, etwas wissen will? Reden Sie mit ihr, Sie, den sie ehrt und liebt und dem sie kein Schweigen aufzuerlegen wagt; bewegen Sie sie dazu, endlich ihr Schweigen zu brechen. Erweisen Sie mir, Ihrem Freunde, diesen Dienst und krönen Sie damit Ihr Werk. Lassen Sie Ihre Sorgfalt nicht zum Unheile für Ihren Zögling ausschlagen! Ach, was er Ihnen zu verdanken hat, wird gerade die Quelle seines Elendes werden, wenn Sie nicht sein Glück vollenden.«

In Folge dessen habe ich mit Sophie eine Unterredung und entreiße ihr ohne viel Mühe ein Geheimniß, welches mir, noch ehe sie es mir enthüllt hatte, schon bekannt war. Schwieriger erlange ich die Erlaubniß, Emil davon Mittheilung machen zu dürfen. Schließlich erlange ich sie doch und mache von ihr Gebrauch. Ueber diese Erklärung geräth er in ein Erstaunen, von dem er sich gar nicht zu erholen vermag. Ein solches Zartgefühl ist ihm unverständlich. Er kann sich nicht vorstellen, wie einige Thaler mehr oder weniger auf Charakter und Verdienst von Einfluß sein sollen. Als ich ihm begreiflich zu machen suche, welchen Werth die Vorurtheile darauf legen, bricht er in Gelächter aus. Freudetrunken will er sich sofort auf den Weg machen, Alles zerreißen, Alles wegwerfen, auf Alles verzichten, nur um die Ehre zu haben, mit Sophie an Armuth wetteifern zu können und dadurch bei seiner Rückkehr würdig zu sein, ihr Gemahl zu werden.

»Wie!« sage ich, ihn zurückhaltend und nun ebenfalls über sein Ungestüm lachend, »wird denn dieser jugendliche Kopf nie zur Reife kommen? Wirst du nie ein richtiges Urtheil gewinnen, nachdem du dein ganzes Leben lang philosophirt hast? Wie, begreifst du nicht, daß du deine Lage nur verschlimmern und Sophie nur noch halsstarriger machen würdest, wenn du dein unverständiges Vorhaben zur Ausführung brächtest? Daß du einige Güter mehr besitzest als sie, räumt dir freilich einen kleinen Vorzug vor ihr ein; wolltest du ihr aber dieselben alle zum Opfer bringen, so würdest du einen sehr großen Vorzug vor ihr voraus haben. Wenn sich nun ihr Stolz schon nicht dazu verstehen kann, dir für die ersteren Dank schuldig zu sein, wie sollte er es wol über sich gewinnen, dir die letzteren zu verdanken zu haben? Wenn sie es nicht zu ertragen vermag, daß ihr je ihr Gatte den Vorwurf machen könnte, sie reich gemacht zu haben, wird sie dann wol ertragen können, je von ihm den Vorwurf zu vernehmen, daß er sich um ihretwillen in Armuth gestürzt habe? O, Unglücklicher, möge nie der Verdacht in ihr aufsteigen, daß du dich mit diesem Plane getragen hast! Werde im Gegentheile aus Liebe zu ihr haushälterisch und sorgsam, damit sie dich nicht beschuldigen kann, du wollest sie durch List gewinnen und ihr das, was du doch durch deine eigene Fahrlässigkeit verlieren würdest, als ein freies Opfer darstellen.«

»Glaubst du denn wirklich, daß ihr große Reichthümer Furcht einjagen, und daß ihr Widerstand gerade durch deinen Reichthum hervorgerufen wird? Nein, lieber Emil, die tiefere und mehr in das Gewicht fallende Ursache desselben liegt in der Wirkung, welche diese Reichthümer auf das Gemüth des Besitzers hervorbringen. Sie weiß, daß den Glücksgütern von ihren Besitzern der Vorzug vor allem Uebrigen gegeben wird. Allen Reichen gilt das Gold höher als das Verdienst. Bei dem gemeinsamen Einsatze von Geld und Dienstleistungen leben sie immer in dem Wahne, daß letztere unter dem Werthe der Bezahlung bleiben, und sind überzeugt, daß man ihnen, wenn man auch sein ganzes Leben in ihrem Dienste verbracht, noch mehr als zu viel schulde, weil man ihr Brod gegessen habe. Was wirst du demnach zu thun haben, Emil, um sie von dieser Furcht zu befreien? Enthülle ihr dein ganzes Herz! Das ist allerdings nicht das Werk eines einzigen Tages. Zeige ihr in deiner edlen Seele die Schätze, welche sie über diejenigen zu trösten vermögen, die dir unglücklicherweise so reichlich zugefallen sind. Ueberwinde ihren Widerstand durch Beharrlichkeit und Zeit; zwinge sie durch erhabene und hochherzige Gesinnung, deine Reichthümer zu vergessen. Liebe sie, diene ihr, diene ihren ehrwürdigen Eltern. Beweise ihr, daß deine Aufmerksamkeiten nicht das Ergebniß einer thörichten und vorübergehenden Leidenschaft, sondern der Ausfluß der Grundsätze sind, die mit unauslöschlicher Schrift in der Tiefe deines Herzens eingegraben stehen. Bringe dein von der Glücksgöttin verletztes Verdienst in würdiger Weise zu Ehren, das ist das einzige Mittel, diese mit dem Verdienst zu versöhnen, welches sie auf diese Weise erst recht ins Licht stellen muß.«

Man kann sich vorstellen, in welches Entzücken diese Unterredung den jungen Mann versetzt, mit welcher Zuversicht und Hoffnung sie ihn erfüllt, wie sehr sein ehrliches Herz sich glücklich schätzt, daß er, um Sophie zu gefallen, nur das zu thun braucht, was er von selbst thun würde, wenn es auch gar keine Sophie gäbe oder er sie nicht so innig liebte. Wer könnte sich, wenn er auch nur eine geringe Kenntniß von Emils Charakter hat, sein Benehmen bei dieser Gelegenheit nicht vorstellen?

So bin ich denn der Vertraute meiner beiden jungen Leute und der Vermittler ihrer Liebe. Eine schöne Aufgabe für einen Erzieher! So schön in der That, daß ich in meinem ganzen Leben nichts verrichtet habe, was mich in meinen eigenen Augen so erhoben und mir eine so große Zufriedenheit mit mir selbst verliehen hätte. Uebrigens ist diese Beschäftigung mit mancherlei Annehmlichkeiten verknüpft. Ich bin im Hause nicht unwillkommen. Bei der Sorge, die es macht, die Liebenden in Ordnung zu halten, verläßt man sich ganz auf mich. Emil, der in ewiger Furcht schwebt, mir zu mißfallen, war nie so lenksam wie jetzt. Das junge Mädchen erdrückt mich förmlich mit ihren Freundschaftsbezeigungen, durch die ich mich jedoch nicht täuschen lasse, sondern von denen ich nur so viel als meiner Person geltend betrachte, als mir gefällt. Auf diese Weise entschädigt sie sich mittelbar für die Ehrfurcht, in welcher sie Emil erhält. In meiner Person überhäuft sie ihn mit tausenderlei zärtlichen Liebkosungen, die sie ihm nimmer erweisen würde, und wenn es ihr Leben gälte. Emil dagegen, der da weiß, daß ich nicht die Absicht habe, seinen Interessen zu schaden, ist entzückt darüber, daß ich in einem so guten Einvernehmen mit ihr lebe. Er tröstet sich, wenn sie auf einem Spaziergange seinen Arm ablehnt, sobald es nur geschieht, um aus Rücksicht für ihn den meinigen vorzuziehen. Er entfernt sich ohne Murren, nachdem er mir die Hand gedrückt und mit Mund und Augen ganz leise gesagt hat: »Freund, sprechen Sie für mich.« Aufmerksam folgt er uns mit den Augen. Er bemüht sich, unsere Gefühle auf unseren Gesichtern zu lesen und sich den Gang unseres Gesprächs aus unseren Geberden zu erklären. Er weiß, daß Alles, was wir reden, nur ihn betrifft. Gute Sophie, welche Freude gewährt es deinem aufrichtigen Herzen, wenn du dich, ohne von Telemach gehört zu werden, mit seinem Mentor unterhalten kannst! Mit welch liebenswürdiger Offenherzigkeit lässest du ihn Alles lesen, was dein zärtliches Herz bewegt! Mit welcher Freude zeigst du ihm deine ganze Achtung vor seinem Zöglinge! Mit welch rührender Unbefangenheit enthüllst du ihm noch weit süßere Gefühle! Mit welch erheucheltem Zorne verabschiedest du den aufdringlichen Verehrer wieder, wenn er sich von seiner Ungeduld hinreißen läßt, dich zu unterbrechen! Mit welch reizendem Unwillen wirfst du ihm seine Rücksichtslosigkeit vor, wenn er dich verhindern will, etwas Gutes von ihm zu sagen oder zu hören, und in meinen Antworten stets einen neuen Grund zu finden, ihn zu lieben!

Nachdem Emil es endlich so weit gebracht hat, daß er als erklärter Liebhaber geduldet wird, nimmt er auch alle Rechte eines solchen in Anspruch. Er plaudert, ist empfindlich, fleht, wird lästig. Wie streng man auch mit ihm reden, wie sehr man ihn auch quälen mag, er fragt wenig danach, wenn es ihm nur gelingt, sich Gehör zu verschaffen. Endlich setzt er es, wenn auch mit vieler Mühe, durch, daß Sophie sich ihrerseits geneigt zeigt, offen die Herrschaft einer Geliebten über ihn auszuüben, daß sie ihm vorschreibt, was er thun soll, daß sie befiehlt, anstatt zu bitten, daß sie genehmigt, anstatt zu danken, daß sie Zahl und Zeit der Besuche festsetzt, daß sie ihm verbietet, vor dem bestimmten Tage zu kommen und seinen Besuch über die bestimmte Stunde auszudehnen. Und das Alles faßt sie nicht etwa scherzhaft auf, sondern es ist ihr voller Ernst. Verstand sie sich Anfangs nur mit Mühe dazu, diese Rechte anzunehmen, so beweist sie dagegen bei Ausübung derselben eine Strenge, die den armen Emil oft mit Bedauern erfüllt, sie ihr eingeräumt zu haben. Was sie aber auch immer anordnen mag, so erhebt er niemals Widerspruch dagegen, und oft blickt er mich, wenn er fortgeht, um zu gehorchen, mit freudestrahlenden Augen an, welche mir sagen sollen: »Du kannst dich jetzt selbst überzeugen, daß sie mich als ihr Eigenthum betrachtet.« Indessen wirft ihm die Hochmüthige einen verstohlenen Blick zu und lächelt im Geheimen über den Stolz ihres Sklaven.

Albano und Raphael, leihet mir den Pinsel der reinsten Wonne! Göttlicher Milton, lehre meine ungeübte Feder die Freuden der Liebe und der Unschuld schildern! Aber nein, verberget vielmehr eure gleißnerische Kunst vor der heiligen Wahrheit der Natur. Wenn ihr nur fühlende Herzen und züchtige Seelen habt, dann könnt ihr eure Phantasie frei und unbesorgt über die Wonne der beiden jungen Liebenden umherschweifen lassen, welche sich unter den Augen ihrer Eltern und Führer ungescheut der süßen und doch so trügerischen Illusion überlassen, in dem Freudenräusche ihres Sehnens sich langsam dem Ziele nähern und aus Kränzen und Blumengewinden das Band schlingen, welches sie bis zum Grabe vereinigen soll. So viel bezaubernde Bilder müssen mich endlich selbst in eine Art Rausch versetzen; ohne Ordnung und bestimmte Reihenfolge bieten sich mir stets neue dar. Wer, der ein Herz hat, sollte sich nicht das köstliche Gemälde der verschiedenen Lagen des Vaters, der Mutter, der Tochter, des Erziehers, des Zöglings und Aller Zusammenwirken zur Vereinigung des reizendsten Paares, dessen Glück Liebe und Tugend begründen können, zu entwerfen vermögen?

Jetzt, wo Emil Alles hervorsucht, um zu gefallen, beginnt er zu fühlen, wie werthvoll die zur Erheiterung beitragenden Künste sind, welche er sich angeeignet hat. Sophie findet Freude am Gesang, und deshalb singt er mit ihr. Ja, er läßt es dabei nicht bewenden, er gibt ihr auch Unterricht in der Musik. Sie ist lebhaft und anmuthig, hüpft gern umher, und folglich tanzt er mit ihr. Er verwandelt ihre kunstlosen Sprünge in zierlichen Tanz und bildet sie in dieser Kunst vollkommen aus. Diese Unterrichtsstunden sind reizend, ausgelassene Heiterkeit belebt sie und versüßt die schüchterne Zurückhaltung der Liebe. Einem Liebenden ist es schon gestattet, solchen Unterricht mit Wonne zu geben; es ist ihm gestattet, als Herr seiner Herrin aufzutreten.

Man hat ein altes, völlig unbrauchbares Clavier. Emil bringt es wieder leidlich in Ordnung und stimmt es. Er versteht sich auf die Anfertigung musikalischer Instrumente eben so gut wie auf die Tischlerei. Hat er doch stets den Grundsatz befolgt, in Allem, was er selbst verrichten kann, auf fremde Hilfe zu verzichten. Das Haus hat eine malerische Lage; er nimmt verschiedene Ansichten desselben auf, bei welchem ihm auch Sophie mitunter hilfreiche Hand leistet, und mit denen sie dann das Arbeitszimmer ihres Vaters schmückt. Die Rahmen sind freilich nicht vergoldet, aber es bedarf solcher auch gar nicht. Dadurch, daß Sophie Emil beim Zeichnen zuschaut und seine Arbeiten nachzeichnet, vervollkommnet sie sich mehr und mehr auch in dieser Kunst, denn auch in ihr nimmt sie ihn sich zum Muster. Sie pflegt alle ihre Talente, und ihre Anmuth verschönert sie alle. Ihre Eltern erinnern sich wieder der Zeiten ihres früheren Reichthums, da sie von Neuem die schönen Künste, die ihnen denselben allein werth machten, rings um sich glänzen sehen. Die Liebe hat ihr ganzes Haus geschmückt; sie allein ist der Zauberstab, unter dem darin wieder ohne Kosten und Mühe dieselben Freuden erblühen, welche sonst nur mit großem Geldaufwands und mit vielen Verdrießlichkeiten erkauft werden konnten.

Wie der Götzendiener den Gegenstand seiner Verehrung mit den Schätzen, die für ihn den höchsten Werth haben, bereichert und auf seinem Altare den Gott schmückt, den er anbetet, so will der Liebende die Reize seiner Geliebten, so vollkommen sie auch in seinen Augen ist, mit immer neuem Schmucke noch erhöhen. Sie bedarf desselben freilich nicht, um ihm zu gefallen, aber für ihn ist es ein Bedürfnis, sie zu schmücken. Er glaubt ihr damit eine neue Huldigung zu erweisen; seine Freude, sie zu betrachten, erhält dadurch einen neuen Reiz. Es kommt ihm so vor, als nehme nichts Schönes seine richtige Stelle ein, wenn es nicht zum Schmuck der höchsten Schönheit dient. Es ist ein eben so rührender wie lächerlicher Anblick, zu sehen, mit welchem Eifer Emil Sophien in Allem unterrichtet, was er weiß, ohne erst zu fragen, ob sie auch zu dem, was er ihr beibringen will, Lust hat, oder ob es sich überhaupt für sie eignet. Er spricht mit ihr von Allem und erklärt ihr Alles mit wahrhaft kindischem Eifer. Er bildet sich ein, sobald er es ihr nur sage, werde sie ihn augenblicklich verstehen. Er stellt sich schon im Voraus vor, eine wie große Freude es ihm bereiten werde, mit ihr zu denken und zu philosophiren. Der Theil seiner Kenntnisse, den er vor ihren Augen nicht entfalten kann, erscheint ihm völlig unnütz. Es treibt ihm fast die Schamröthe in die Wangen, wenn er etwas weiß, was sie nicht weiß.

Er ertheilt ihr also Unterricht in der Philosophie, in der Naturkunde, in der Mathematik, in der Geschichte, kurz in Allem. Sophie geht mit Freuden auf sein eifriges Bemühen ein und sucht daraus Nutzen zu ziehen. Wenn er es durchzusetzen vermag, daß er ihr den Unterricht vor ihr auf den Knieen liegend ertheilen darf, von welcher Glückseligkeit ist er dann erfüllt! Er glaubt den Himmel offen zu sehen. Gleichwol ist diese Lage, welche für die Schülerin noch peinlicher als für den Lehrer ist, für den Unterricht durchaus nicht die vorteilhafteste. Man weiß dann nicht, wohin man die Augen richten soll, um die ihnen folgenden zu vermeiden; begegnen sie sich aber, so geht es mit dem Unterrichte deshalb nicht besser.

Die Kunst zu denken ist den Frauen zwar nicht fremd, auf eine eingehendere Beschäftigung mit der Lehre vom Denken dürfen sie sich indeß nicht einlassen. Obgleich Sophie Alles begreift, bleibt doch nicht viel in ihr haften. Ihre größten Fortschritte macht sie in der Moral so wie in allen Dingen, bei welchen der Geschmack den Ausschlag gibt. In der Naturkunde behält sie nur einige allgemeine Gesetze und gewinnt daneben eine unklare Vorstellung vom Weltgebäude. Betrachten sie auf ihren Spaziergängen die Wunder der Natur, so wagen ihre unschuldigen und reinen Herzen sich bisweilen bis zum Schöpfer derselben zu erheben. Sie fürchten seine Gegenwart nicht, sie schütten mit einander ihr Herz vor ihm aus.

Wie! Zwei Liebende in der Blüte ihres Lebens unterhalten sich bei ihrem vertraulichen Zusammensein von religiösen Dingen? Sie bringen ihre Zeit damit zu, ihren Katechismus aufzusagen! Wozu soll es dienen, das Erhabene in den Staub herabzuziehen? Ja, unstreitig thun sie es in der Illusion, die sie bezaubert hält: Jeder erblickt in dem Andern ein vollkommenes Wesen, sie lieben sich, sie unterhalten sich mit Begeisterung von dem, was der Tugend erst Werth verleiht. Gerade die Opfer, die sie derselben bringen, machen sie ihnen theuer. Bei den Ausbrüchen ihrer Leidenschaft, die sie besiegen müssen, weinen sie mitunter gemeinschaftlich Thränen, reiner als der Thau des Himmels, und diese süßen Thränen gießen über ihr ganzes Leben einen eigenen Zauber. Sie leben in dem süßesten Wahne, der sich je menschlicher Seelen bemächtigen kann. Selbst die Entbehrungen, die sie sich dadurch auferlegen, daß sie ihrer Leidenschaft widerstehen, erhöhen ihr Glück und gereichen ihnen in ihren eigenen Augen zur Ehre. Ihr sinnlichen Menschen, ihr Körper ohne Seele, dereinst werden sie auch eure Freuden kennen lernen und lebenslänglich jene glückliche Zeit zurückwünschen, wo sie sich ihnen nicht hingegeben haben!

Ungeachtet dieses innigen Einverständnisses kommen doch bisweilen Meinungsverschiedenheiten, ja sogar kleine Zänkereien vor. Der Geliebten fehlt es nicht an Eigensinn, und der Geliebte braust leicht auf. Allein dergleichen kleine Stürme pflegen schnell vorüberzugehen und tragen nur dazu bei, die Eintracht zu befestigen. Die Erfahrung lehrt Emil, sich vor ihnen nicht allzu sehr zu fürchten. Die Versöhnungsscenen führen für ihn stets mehr Vortheil, als die Zwistigkeiten Nachtheil herbei. Die Frucht der ersten berechtigt ihn zu der Hoffnung, daß auch die folgenden beständig denselben Ausgang nehmen werden. Hierin täuscht er sich allerdings, allem wenn er am Ende auch nicht stets einen gleich augenscheinlichen Vortheil daraus zieht, so hat er doch immer den Gewinn, daß er dabei wahrnehmen kann, wie sich Sophiens aufrichtiges Interesse, welches sie an seinem Herzen nimmt, mehr und mehr befestigt. Man wünscht in Erfahrung zu bringen, worin denn dieser Gewinn besteht. Ich gehe auf Erfüllung dieses Wunsches um so lieber ein, als mir dieses Beispiel Veranlassung gibt, einen sehr nützlichen Grundsatz aufzustellen und einen höchst unheilvollen zu bekämpfen.

Emil liebt, folglich ist er nicht verwegen. Noch besser wird man begreifen, daß die gebieterische Sophie nicht das Mädchen ist, ihm Freiheiten zu gestatten. Da indeß die Klugheit in allen Dingen ihre Grenze hat, so kann man Letztere weit eher einer zu großen Härte als einer zu großen Nachsicht zeihen, und selbst ihr Vater hegt mitunter die Besorgniß, daß ihr übertriebener Stolz noch in Hochmuth ausarten könne. Selbst in ihren geheimsten Zwiegesprächen würde sich Emil nicht erdreisten, sie auch nur um die geringste Gunstbezeigung zu bitten, ja er nimmt nicht einmal den Anschein an, als ob er sich danach sehne. Wenn sie auf den Spaziergängen auch gern Arm in Arm mit ihm geht, ein Liebesbeweis, der aber nie den Charakter eines Rechts annehmen darf, so wagt er doch kaum bisweilen seufzend ihren Arm an seine Brust zu drücken. Nach langem Schwanken erkühnt er sich wol einmal verstohlenerweise einen Kuß auf ihr Kleid zu drücken, und hin und wieder ist er so glücklich, daß sie sich stellt, als ob sie es nicht bemerke. Als er sich jedoch eines Tages dieselbe Freiheit etwas offener herausnehmen will, kommt es ihr in den Sinn, sein Betragen höchst unartig zu finden. Er beharrt bei seinem Vorsatze und sie wird ärgerlich. Im Unwillen entschlüpfen ihr einige harte Worte, welche Emil nicht unerwidert läßt. Der Rest des Tages vergeht unter Schmollen und man scheidet sehr mißvergnügt.

Sophie ist übler Laune. Ihre Mutter ist ihre Vertraute; wie sollte sie dieser ihren Kummer verhehlen? Es ist ihre erste Uneinigkeit, und eine einstündige Uneinigkeit ist eine gar wichtige Angelegenheit! Sie bereut ihren Fehler; die Mutter gibt ihr Erlaubnis, ihn wieder gut zu machen, und der Vater befiehlt es ihr.

Voller Unruhe erscheint Emil am folgenden Tage etwas früher als gewöhnlich. Sophie hilft ihrer Mutter bei ihrem Anzuge, und der Vater befindet sich ebenfalls im Zimmer. Emil tritt ehrfurchtsvoll, aber mit trauriger Miene ein. Kaum haben ihn Vater und Mutter begrüßt, so dreht sich Sophie um und fragt ihn, während sie ihm die Hand reicht, mit zärtlichem Tone, wie er sich befinde. Es ist augenscheinlich, daß ihm dieses reizende Händchen so nur zum Kusse hingehalten wird. Er ergreift es zwar, küßt es aber nicht. Ein wenig beschämt zieht Sophie die Hand so anmuthig wie möglich zurück. Emil, der sich auf das Benehmen der Frauen nicht versteht und nicht begreift, wozu der Eigensinn nützt, vergißt nicht so leicht und beruhigt sich nicht so schnell. Als der Vater Sophiens Verlegenheit bemerkt, bringt er sie durch seine Scherzworte noch vollends in Verwirrung. Beschämt und gedemüthigt weiß die arme Sophie kaum noch, was sie thut, und würde die ganze Welt darum geben, wenn sie weinen dürfte. Je mehr sie sich zu beherrschen sucht, desto mehr schwillt ihr das Herz. Endlich entrinnt wider ihren Willen ihren Augen eine Thräne. Emil sieht diese Thräne, wirft sich vor Sophie auf die Kniee, ergreift ihre Hand und küßt sie zu wiederholten Malen leidenschaftlich. »Wahrhaftig,« sagt der Vater unter lautem Lachen, »Sie behandeln sie viel zu gütig; ich würde alle diese Tollheiten weniger nachsichtig aufnehmen und den Mund bestrafen, der mich beleidigt hätte.« Durch diese Rede ermuthigt, schaut Emil die Mutter bittend an, und da er ein Zeichen der Einwilligung wahrzunehmen glaubt, nähert er sich zitternd Sophiens Gesicht, die jedoch, um den Mund zu retten, den Kopf wendet und ihm ihre rosige Wange hinhält. Jetzt wird er jedoch zudringlich, will sich damit nicht zufrieden geben und findet auch nur schwachen Widerstand. Welch ein Kuß, wenn er nicht unter den Augen einer Mutter geraubt wäre! Strenge Sophie, sei auf deiner Hut! Er wird dich oft um Erlaubniß bitten, dein Kleid küssen zu dürfen, in der Hoffnung, daß du ihm mitunter seine Bitte abschlägst.

Nach dieser exemplarischen Bestrafung verläßt der Vater eines Geschäftes wegen das Zimmer. Die Mutter schickt Sophie unter einem Vorwande hinaus, wendet sich darauf an Emil und sagt in gar ernstem Tone zu ihm: »Mein Herr, ich glaube, daß ein junger Mann von so guter Herkunft, der eine so vortreffliche Erziehung erhalten hat und sich sonst durch eine so edele Gesinnung und ein so sittlich reines Verhalten auszeichnet wie Sie, nicht darauf ausgeht, die Freundschaft, welche ihm eine Familie erweist, durch Entehrung derselben zu lohnen. Ich verlange weder übertriebene Zurückhaltung noch ein sprödes Wesen. Ich weiß, was man der lebhaften Jugend nachsehen muß. Der Vorgang, den ich unter meinen Äugen geduldet habe, beweist es Ihnen zur Genüge. Befragen Sie Ihren Freund über Ihre Pflichten. Er wird Ihnen erklären, welch ein Unterschied zwischen den Tändeleien, welche die Gegenwart eines Vaters und einer Mutter gutheißt, und den Freiheiten besteht, die man sich in ihrer Abwesenheit herausnimmt, indem man ihr Vertrauen mißbraucht und dieselben Gunstbeweisungen, die unter ihren Augen völlig unschuldig sind, in Fallstricke verwandelt. Er wird Ihnen erklären, mein Herr, daß sich meine Tochter Ihnen gegenüber kein anderes Unrecht vorzuwerfen hat, als daß sie nicht gleich beim ersten Male erkannte, was sie nie hätte dulden sollen. Er wird Ihnen erklären, daß Alles, was man als eine Gunst aufnimmt, auch wirklich eine solche wird, und daß es eines Mannes von Ehre unwürdig ist, mit der Einfalt eines jungen Mädchens Mißbrauch zu treiben, um sich unter dem Schleier des Geheimnisses dieselben Freiheiten anzumaßen, die sie vor aller Welt Augen dulden darf. Denn weiß man auch, was der Anstand öffentlich zu thun gestattet, so weiß man doch nie, wobei derjenige, welcher sich zum alleinigen Richter seiner Einfälle aufwirft, unter dem Schatten des Geheimnisses stehen bleibt.«

Nach diesem durchaus gerechten Verweise, der im Grunde genommen mehr gegen mich als gegen meinen Zögling gerichtet war, geht die Mutter aus dem Zimmer und läßt mich in Bewunderung der seltenen Klugheit einer Frau, welche in einem Kusse auf den Mund ihrer Tochter, sobald sie zugegen ist, nichts findet, während sie darüber erschrickt, daß man sich im Geheimen das Kleid derselben zu küssen erlaubt. Bei dem Gedanken an die Thorheit unserer Grundsätze, welche stets die wahre Sittsamkeit dem äußern Anstande aufopfern, sehe ich erst den Grund ein, weshalb die Sprache um so keuscher ist, je verderbter die Herzen sind, und weshalb die Menschen den Anstand desto strenger beobachten, je unreineren Herzens sie sind.

Indem ich Emil bei dieser Gelegenheit die Pflichten einpräge, mit denen ich ihn schon früher hätte bekannt machen sollen, drängt sich mir eine neue Bemerkung auf, die Sophie vielleicht zur höchsten Ehre gereicht, die ich mich aber trotzdem hüten werde, ihrem Liebhaber mitzutheilen: die Bemerkung nämlich, daß ihr dieser vermeintliche Stolz, den man ihr zum Vorwurfe macht, augenscheinlich nur als eine sehr weise Vorsichtsmaßregel dient, um sich vor sich selbst zu bewahren. Da sie fühlt, daß ihr Temperament leider sehr leicht entzündlich ist, so fürchtet sie den ersten Funken und sucht ihn mit aller Macht fern zu halten. Also nicht Stolz, sondern gerade Demuth treibt sie zu dieser Strenge. Die Demuth übt über Emil die Herrschaft aus, die sie über Sophie nicht zu haben fürchtet; sie bedient sich seiner, um Letztere zu bekämpfen. Besäße Sophie mehr Zutrauen zu sich selbst, so würde sie weniger stolz sein. Welches Mädchen in der Welt ist wol, von diesem einzigen Punkte abgesehen, gefälliger und sanfter als sie? Wer erträgt geduldiger eine Beleidigung? Wer ist mehr auf seiner Hut, irgend Jemand zu kränken? Wer macht geringere Ansprüche auf irgend etwas, außer auf die Tugend? Und gleichwol ist sie auf ihre Tugend nicht stolz; sie verschanzt sich nur hinter einem angenommenen Stolze, um ihre Tugend zu bewahren. Kann sie sich ohne Gefahr der Neigung ihres Herzens überlassen, so überhäuft sie sogar ihren Geliebten mit Liebkosungen. Aber ihre verständige Mutter theilt alle diese Einzelheiten nicht einmal dem Vater mit: die Männer brauchen doch nicht Alles zu wissen.


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