Johann Gottfried Seume
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Johann Gottfried Seume

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Schikaneder treibt sein Wesen in der Vorstadt an der Wien, wo er sich ein gar stattliches Haus gebaut hat, dessen Einrichtung mancher Schauspieldirektor mit Nutzen besuchen könnte und sollte. Der Mann kennt sein Publikum, und weiß ihm zu geben was ihm schmeckt. Sein großer Vorzug ist Lokalität, deren er sich oft mit einer Freimütigkeit bedient, die ihm selbst und der Wiener Duldsamkeit noch Ehre macht. Ich habe auf seinem Theater über die Nationalnarrheiten der Wiener Reichen und Höflinge Dinge gehört, die man in Dresden nicht dürfte laut werden lassen, ohne sich von höherem Orte eine strenge Weisung über Vermessenheit zuzuziehen. Mehrere seiner Stücke scheint er im eigentlichsten Sinne nur für sich selbst gemacht zu haben; und ich muß bekennen, daß mir seine barocke Personalität als Tyroler Wastel ungemeines Vergnügen gemacht hat. Es ist den Wienern von feinem Ton und Geschmack gar nicht übelzunehmen, daß sie zuweilen zu ihm und Kasperle herausfahren und das Nationaltheater und die Italiener leer lassen. Seine Leute singen für die Vorstadt verhältnismäßig weit besser, als jene für die Burg. Die Kleidung ist an der Wien meistens ordentlicher und geschmackvoller, als die verunglückte Pracht dort am Hofe, wo die Stiefletten des Heldengefolges noch manchmal einen sehr ärmlichen Aufzug machen. So lange Schikaneder Possen, Schnurren und seine eigenen tollen Operetten gibt, wo der Wiener Dialekt und der Ton des Orts nicht unangenehm mitwirkt, kann er auch Leute von gebildetem Geschmack einige Mal vergnügen: aber wenn er sich an ernsthafte Stücke wagt, die höheres Studium und durchaus einen höhern Grad von Bildung erfordern, muß der Versuch allerdings immer sehr schlecht ausfallen. Aber hier wird er vielleicht sagen, ich arbeite für mein Haus: dawider ist denn nichts einzuwenden. Nur möchte ich dann nicht zu seinem Hause gehören. Er will aber höchst wahrscheinlich für nichts weiter gelten, als für das Mittel zwischen Kasperle und der Vollendung der mimischen Kunst im Nationaltheater. Die Herren Kasperle und Schikaneder mögen ihre subordinierten Zwecke so ziemlich erreicht haben; aber das Nationaltheater ist, so wie ich es sah, noch weit entfernt, dem ersten Ort unsers Vaterlandes und der Residenz eines großen Monarchen durch seinen Gehalt Ehre zu machen.

Den Herrn Kasperle aus der Leopoldstadt, hat, wie ich höre, der Kaiser zum Baron gemacht; und mich deucht, der Herr hat seine Würde so gut verdient, als die meisten, die dazu erhoben werden. Er soll überdies das wesentliche Verdienst besitzen, ein sehr guter Haushalter zu sein.

Über die öffentlichen Angelegenheiten wird in Wien fast nichts geäußert, und Du kannst vielleicht Monate lang auf öffentliche Häuser gehen, ehe Du ein einziges Wort hörst, das auf Politik Bezug hätte; so sehr hält man mit alter Strenge ebensowohl auf Orthodoxie im Staate wie in der Kirche. Es ist überall eine so andächtige Stille in den Kaffeehäusern, als ob das Hochamt gehalten würde, wo jeder kaum zu atmen wagt. Da ich gewohnt bin, zwar nicht laut zu enragieren, aber doch gemächlich unbefangen für mich hinzusprechen, erhielt ich einige Mal eine freundliche Weisung von Bekannten, die mich vor den Unsichtbaren warnten. Inwiefern sie Recht hatten, weiß ich nicht; aber so viel behaupte ich, daß die Herren sehr Unrecht haben, welche die Unsichtbaren brauchen. Einmal spielte meine unbefangene Sorglosigkeit fast einen Streich. Du weißt, daß ich durchaus kein Revolutionär bin; weil man dadurch meistens das Schlechte nur schlimmer macht: ich habe aber die Gewohnheit, die Wirkung dessen was ich für gut halte zuweilen etwas lauter werden zu lassen, als vielleicht gut ist. So hat mir der Marseiller Marsch als ein gutes musikalisches Stück gefallen, und es begegnet mir wohl, daß ich, ohne irgend etwas Bestimmtes zu denken, ebenso wie aus irgendeinem andern Musikstücke, einige Takte unwillkürlich durch die Zähne brumme. Dies geschah auch einmal, freilich sehr am unrechten Orte, in Wien, und wirkte natürlich wie ein Dämpfer auf die Anwesenden. Mir war mehr bange für die guten Leute als für mich: denn ich hatte weiter keinen Gedanken, als daß mir die Musik der Takte gefiel, und selbst diesen jetzt nur sehr dunkel.

Ich erinnerte mich eines drolligen, halb ernsthaften, halb komischen Auftritts in einem Wirtshause, der auf die übergroße Ängstlichkeit in der Residenz Bezug hatte. Ein alter, ehrlicher, eben nicht sehr politischer Oberstlieutenant hatte während des Krieges bei der Armee in Italien gestanden und sich dort gewöhnt, recht jovialisch lustig zu sein. Seine Geschäfte hatten ihn in die Residenz gerufen, und er fand da an öffentlichen Orten überall eine Klosterstille. Das war ihm sehr mißbehaglich. Einige Tage hielt er es aus, dann brach er bei einem Glase Wein echt soldatisch laut hervor und sagte mit recht drolliger Unbefangenheit: »Was, zum Teufel, ist denn das hier für ein verdammt frommes Wesen in Wien? Kann man denn hier nicht sprechen? Oder ist die ganze Residenz eine große Kartause? Man kommt ja hier in Gefahr das Reden zu verlernen. Oder darf man hier nicht reden? Ich habe so etwas gehört, daß man überall lauern läßt: ist das wahr? Hole der Henker die Mummerei! Ich kann das nicht aushalten; und ich will laut reden und lustig sein.« Du hättest die Gesichter der Gesellschaft bei dieser Ouverture sehen sollen! Einige waren ernst, die andern erschrocken; andere lächelten, andere nickten gefällig und bedeutend über den Spaß: aber niemand schloß sich an den alten Haudegen an. Ich werde machen, sagte dieser, daß ich wieder zur Armee komme; das tote Wesen gefällt mir nicht.

Als die Franzosen bis in die Nähe von Wien vorgedrungen waren, soll sich, die Magnaten und ihre Kreaturen etwa ausgenommen, niemand vor dem Feinde gefürchtet haben: aber desto größer war die allgemeine Besorgnis vor den Unordnungen der zurückgeworfenen Armee. Damals fing Bonaparte eben an, etwas bestimmter auf seine individuellen Aussichten loszuarbeiten, und hat dadurch zufälliger Weise den Östreichern große Angst und große Verwirrungen erspart.

Doktor Gall hat eben einen Kabinetsbefehl erhalten, sich es nicht mehr beigehen zu lassen, den Leuten gleich am Schädel anzusehen, was sie darin haben. Die Ursache soll sein, weil diese Wissenschaft auf Materialismus führe.

Man sieht auch hier in der Residenz nichts als Papier und schlechtes Geld. Das Lenkseil mit schlechtem Gelde ist bekannt; man fährt daran, so lange es geht. Das Kassenpapier ist noch das unschuldigste Mittel die Armut zu decken, so lange der Kredit hält. Aber nach meiner Meinung ist für den Staat nichts verderblicher, und in dem Staat nichts ungerechter als eigentliche Staatspapiere, so wie unsere Staaten jetzt eingerichtet sind. Eingerechnet unsere Privilegien und Immunitäten, die freilich ein Widerspruch des öffentlichen Rechts sind, zahlen die Ärmeren fast durchaus fünf Sechsteile der Staatsbedürfnisse. Die Inhaber der Staatspapiere, sie mögen Namen haben wie sie wollen, gehören aber meistens zu den Reichen, oder wohl gar zu den Privilegiaten. Die Interessen werden wieder aus den Staatseinkünften bezahlt, die meistens von den Ärmern bestritten werden. Ein beliebter Schriftsteller wollte vor kurzem die Wohltätigkeit der Staatsschulden in Sachsen dadurch beweisen, weil man durch dieses Mittel sehr gut seine Gelder unterbringen könne. Nach diesem Schlusse sind die Krankheiten ein großes Gut für die Menschheit, weil sich Ärzte, Chirurgen und Apotheker davon nähren. Ein eigener Ideengang, den freilich Leute nehmen können, die ohne Gemeinsinn gern viel Geld sicher unterbringen wollen. Das Resultat ist aber ohne vieles Nachdenken, daß durch die Staatsschulden die Ärmern gezwungen sind, außer der alten Last auch noch den Reichen Interessen zu bezahlen, sie mögen wollen oder nicht. Bei einem Steuerkataster, auf allgemeine Gerechtigkeit gegründet, wäre es freilich anders. Aber jetzt haben die Reichen die Steuerscheine, und die Armen zahlen die Steuern. Man kann diese Logik nur bei einem Kasten voll Steuerobligationen bündig finden. Wo hätte der Staat die Verbindlichkeit, den Reichen auf Kosten der Armen ihre Kapitale zu verzinsen? Und das ist doch am Ende das Fazit jeder Staatsschuld. Jede Staatsschuld ist eine Krücke, und Krücken sind nur für Lahme. Die Sache ist zu wichtig, sie hier weiter zu erörtern. Ich weise Dich hierüber vorzüglich auf Hume's Buch, als das beste, was mir über diesen Gegenstand bekannt ist.

Sonderbar war es, daß man in dem letzten Jahre des Krieges bei der höchsten Krise Wien zum Waffenplatz machen wollte; das Schlimmste, was die Regierung für ihre Sache tun konnte. Wenn damals die Franzosen den Frieden nicht eben so nötig hatten wie die Deutschen, oder wenn Bonaparte andere Absichten hatte als er nachher zeigte, so war das Unglück für die östreichischen Staaten entsetzlich. Was konnte man von den Vorspiegelungen erwarten? Es war bekannt, Wien hätte sich nicht acht Tage halten können; und welche Folgen hätte es gehabt, wenn es auf dem Wege der Gewalt in die Hände der Feinde gekommen wäre? Die Wiener waren zwar sicher, daß es nicht dahin kommen würde; aber eben deswegen waren die Vorkehrungen ziemlich verkehrt. Man hätte gleich mit Entschlossenheit der Maxime des Ministers folgen können, dessen übrige Verfahrungsart ich aber nicht verteidigen möchte. Hier hatte er ganz Recht, wenn nur sonst die Kräfte gewogen gewesen wären: Die Residenz ist nicht die Monarchie; und es ist manchem Staate nichts weniger als wohltätig, daß die Hauptstadt so viel Einfluß auf das Ganze hat.

Für Kunstsachen und gelehrtes Wesen habe ich, wie Dir bekannt ist, nur selten eine glückliche Stimmung; ich will Dir also, zumal da das Feld hier zu groß ist, darüber nichts weiter sagen: Du magst Dir von Schnorr erzählen lassen, der vermutlich eher zurückkommt als ich.

Ich darf rühmen, daß ich in Wien überall mit einer Bonhommie und Gefälligkeit behandelt worden bin, die man vielleicht in Residenzen nicht so gewöhnlich findet. Selbst die schnakische Visitation an der Barriere wurde, was die Art betrifft, mit Höflichkeit gemacht. Den einzigen böotischen, aber auch echt böotischen, Auftritt hatte ich den letzten Tag auf der italienischen Kanzlei. Hierher wurde ich mit meinem alten Passe von der Polizei um einen neuen gewiesen. Im Vorzimmer war man artig genug und meldete mich, da ich Eile zeigte, sogleich dem Präsidenten, der eine Art von Minister ist, den ich weiter nicht kenne. Er hatte meinen Paß von Dresden schon vor sich in der Hand, als ich eintrat.

»Währ üß Ähr?« fragte er mich mit einem stier glotzenden Molochsgesicht in dem dicksten Wiener Bratwurstdialekt. Ich ehre das Idiom jeder Provinz, so lange es das Organ der Humanität ist; und die braven Wiener mit ihrer Gutmütigkeit haben in mir nur selten das Gefühl rege gemacht, daß ihre Aussprache etwas besser sein sollte. Ich tat ein kurzes Stoßgebetchen an die heilige Humanität, daß sie mir etwas Geduld gäbe, und sagte meinen Namen, indem ich auf den Paß zeigte.

»Wu will Ähr hünn?«

Steht im Passe: nach Italien.

»Italien üß gruhß.«

Vor der Hand nach Venedig, und sodann weiter.

»Slähftr holtr sähr füehl sulch lüederlüchches Gesüendel härümmer.«

Nun, Freund, was war hier zu tun? Dem Menschen zu antworten, wie er es verdiente? Er hätte leicht Mittel und Wege gefunden, mich wenigstens acht Tage aufzuhalten, wenn er mich nicht gar zurückgeschickt hätte; denn er war ja ein Stück von Minister. Ich suchte also eine alte militärische Aufwallung mit Gewalt zu unterdrücken. Der Graf Metternich in Dresden muß wohl wissen, was er tut, und wem er seine Pässe gibt: er ist verantwortlich dafür! sagte ich so bestimmt als mir der Ton folgte. Der Mensch belugte mich von dem verschnittenen Haarschädel den polnischen Rock herab bis auf die Schariwari, die um ein Paar derbe rindslederne Stiefeln geknöpft waren.

»Wu wüll Ähr weiter hünn?«

Vorzüglich nach Sizilien.

Er glotzte von neuem, und fragte:

»Waß wüll Ähr da machchen?«

Hätte ich ihm nun die reine platte Wahrheit gesagt, daß ich bloß spazierengehen wollte, um mir das Zwerchfell auseinanderzuwandeln, das ich mir über dem Druck von Klopstocks Oden etwas zusammengesessen hatte, so hätte der Mann höchst wahrscheinlich gar keinen Begriff davon gehabt, und geglaubt, ich sei irgendeinem Bedlam entlaufen.

Ich will den Theokrit dort studieren, sagte ich.

Weiß der Himmel was er denken mochte; er sah mich an, und sah auf den Paß und sah mich wieder an, und schrieb sodann etwas auf den Paß, welches, wie ich nachher sah, der Befehl zur Ausfertigung eines andern war.

»Abber Ähr dörf süchch nücht ünn Venedig uffhalten.«

Ich bin es nicht Willens, antwortete ich mit dem ganzen Murrsinn der düstern Laune, und bekomme hier auch nicht Lust dazu. Er beglotzte mich noch einmal, gab mir den Paß, und ich ging.

Man hat mir den Namen des Mannes genannt und gesagt, daß dieses durchaus sein Charakter sei, und daß er bei dem Kaiser in gar großem Vertrauen und hoch in Gnaden stehe. Desto schlimmer für den Kaiser und für ihn und die Wiener und alle, die mit ihm zu tun haben. Sein Gesicht hatte das Gepräge seiner Seele, das konnte ich beim ersten Anblick sehen, ohne jemals eine Stunde bei Gall gehört zu haben. Seinen Namen habe ich geflissentlich vergessen, erinnere mich aber noch so viel, daß er, eben nicht zur Ehre unserer Nation, ein Deutscher, obgleich Präsident der italienischen Kanzlei war. Ist das der Vorschmack von Italien? dachte ich; das fängt erbaulich an.

Von hier ging ich mit dem Passe hinüber in die Kanzleistube, wo ausgefertigt wurde; und hier war der Revers des Stücks, ein ganz anderer Ton. Ich wurde so viel Euer Gnohden gescholten, daß meine Bescheidenheit weder ein noch aus wußte, und erhielt sogleich einen großen Realbogen voll Latein in ziemlich gutem Stil, worin ich allen Ober- und Unteroffizianten des Kaisers im Namen des Kaisers gar nachdrücklich empfohlen wurde. Wenn es nur der Präsident etwas höflicher gemacht hätte; es hätte mit der nämlichen oder weit weniger Mühe für ihn und mich angenehmer werden können. Auf dem neuen Passe stand gratis, und man forderte mir zwei Gulden ab, die ich auch, trotz der sonderbaren Hermeneutik des Wörtchens, sehr gern sogleich zahlte und froh war, daß ich dem Übermaß der Grobheit und Höflichkeit zugleich entging.


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