Johann Gottfried Seume
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Johann Gottfried Seume

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Gräz

Hier will ich einige Tage bleiben und ruhen: die Stadt und die Leute gefallen mir. Du weißt, daß der Ort auf den beiden Seiten der Murr sehr angenehm liegt; und das Ganze hat hier überall einen Anblick von Bonhommie und Wohlhabenheit, der sehr behaglich ist. Von Schottwien aus machte ich den ersten Tag mit vieler Anstrengung nur fünf Meilen; und den zweiten mit vieler Leichtigkeit sieben: aber den ersten stieg ich in dem entsetzlichsten Schneegestöber an der Wien bergauf; und den zweiten ging ich bei ziemlich gutem Wetter an der Mürz bergab. Es ist ein eigenes Vergnügen, die Bäche an ihren Quellen zu sehen und ihnen zu folgen bis sie Flüsse werden. Die Mürz ist ein herrliches Wasser, und muß die erste Meile schöne Forellen haben. Man hat mich zwar gewarnt, nicht in der Nacht zu gehen, und mich deucht, ich habe es versprochen: aber ich habe bis jetzt doch schon zwei Mal dagegen gesündiget, und bin über eine Stunde die Nacht gelaufen. Indessen wer wird gern in einer schlechten Kneipe übernachten, wenn man ihm sagt, daß er eine Meile davon ein gutes Wirtshaus findet.

An einem dieser Tage wurde ich zu Mittage in einem kleinem Städtchen gar köstlich bewirtet, und bezahlte nicht mehr als achtzehn Kreuzer. Das tat meiner Philanthropie sehr wohl; denn Du weißt, daß ich mir aus den Kreuzern so wenig mache, wie aus den Kreuzen. Mein Ideengang kam dadurch natürlich auf die schöne Tugend der Billigkeit und auf die unwillige Forderung, daß alle Richter als Richter sie haben sollen. Billigkeit ist die Nachlassung von seinem eigenen Rechte: und nun frage ich Dich, ob ein Richter dabei etwas zu tun hat? Nur die Parteien können und sollen billig sein. Bei billigen Richtern wäre es um die Gerechtigkeit geschehen. Mit diesen Gedanken setzte ich mich in dem nächsten Wirtshause nieder, und legte das Resultat derselben in mein Taschenbuch über die Billigkeit.

Verdammt den Richter nicht; er darf nicht billig sein:
Für ihn ist das Gesetz von Eisen,
Und seine Pflichten sind von Stein,
Ihn taub und kalt nur auf das Recht zu weisen.

Nur das, was mir gehört, geb' ich mit Bruderhand
Dem Bruder für die kleine Spende,
Und schlinge freundlicher das Band,
Das beide knüpft, und schüttle froh die Hände.

Hier ist der Übergang zu der Erhabenheit
Der göttergleichen Heldentugend,
Die sich der Welt zum Opfer weiht;
Der erste Blick von unsrer Geistesjugend.

Die strenge Pflicht, die der Vertrag erzwingt,
Bleibt ewig Grund zu dem Gebäude;
Doch Milde nur und Güte bringt
Ins leere Haus den Harrenden die Freude.

Mit seinem Eisenstab befriedige das Recht
Den großen Troß gemeiner Seelen;
Mit dem olympischen Geschlecht
Soll uns schon hier die Göttliche vermählen.

Jeder soll billig sein für sich; das ist menschlich, das ist schön: aber alle müssen gerecht sein gegen alle; das ist notwendig, sonst kann das Ganze nicht bestehen. Der billige Richter ist ein schlechter Richter, oder seine Gesetze sind mehr als gewöhnlich mangelhaft. Die Billigkeit des Richters wäre ein Eingriff in die Gerechtigkeit. Zur Gerechtigkeit kann, muß der Mensch gezwungen werden; zur Billigkeit nicht: das ist in der Natur der Sache gegründet. Wo die Parteien billig sein wollen, handelt der Richter nicht als Richter, sondern als Schiedsmann. Die Gerechtigkeit ist die erste große göttliche Kardinaltugend, welche die Menschheit weiterbringen kann. Nicht die Gerechtigkeit, die in den zwölf Tafeln steht und die nachher Justinian lehren ließ. Jeder unbefangene Geschichtsforscher weiß, was die Zehnmänner waren, was sie für Zwecke hatten und verfolgten und wie sie zu Werke gingen, und wieviel Unsinn Papinian von dem Putztisch der heiligen Theodora annehmen mußte. Nicht die Gerechtigkeit unserer Fürsten, die oft einige tausend Bauern mit Peitschen vom Pfluge hauen, damit sie ihnen ein Schwein jagen, das ein Jägerbursche zum Probeschuß töten könnte. An der Seine erschien vor einigen Jahren eine Morgenröte, die sie hervorzuführen versprach. Aber die Morgenröte verschwand, es folgten Ungewitter, dann dicke Wolken und endlich Nebeltage. Es war ein Phantom. Wenn Du Gerechtigkeit in Gesetzen suchst, irrest Du sehr; die Gesetze sollen erst aus der Gerechtigkeit hervorgehen, sind aber oft der Gegensatz derselben. Du kannst hier, wie in manchem unserer Institute, schließen: je mehr Gesetze, desto weniger Gerechtigkeit; je mehr Theologie, desto weniger Religion: je längere Predigten, desto weniger vernünftige Moral. Mit unserer bürgerlichen Gerechtigkeit geht es noch so ziemlich; denn die Gewalthaber begreifen wohl, daß ohne diese durchaus nichts bestehen kann, daß sie sich ohne dieselbe selbst auflösen: aber desto schlimmer sieht es mit der öffentlichen aus; und mich deucht, wir werden wohl noch einige platonische Jahre warten müssen, ehe es sich damit in der Tat bessert, so oft es sich auch ändern mag. Dazu ist die Erziehung des Menschengeschlechts noch zu wenig gemacht, und diejenigen, die sie machen sollen, haben zu viel Interesse sie nicht zu machen, oder sie verkehrt zu machen. Sobald Gerechtigkeit sein wird, wird Friede sein und Glück: sie ist die einzige Tugend, die uns fehlt. Wir haben Billigkeit, Großmut, Menschenliebe, Gnade und Erbarmung genug im Einzelnen, bloß weil wir im Allgemeinen keine Gerechtigkeit haben. Die Gnade verderbt alles, im Staate und in der Kirche. Wir wollen keine Gnade, wir wollen Gerechtigkeit; Gnade gehört bloß für Verbrecher; und meistens sind die Könige ungerecht, wo sie gnädig sind. Wer den Begriff der Gnade zuerst ins bürgerliche Leben und an die Stühle der Fürsten getragen hat, soll verdammt sein von bloßer Gnade zu leben: vermutlich war er ein Mensch, der mit Gerechtigkeit nichts fordern konnte. Aus Gnaden wird selbst kein guter, rechtlicher, vernünftiger Mann selig werden wollen, und wenn es auch ein Dutzend Evangelisten sagten. Es ist ein Widerspruch; man lästert die Gottheit, wenn man ihr solche Dinge aufbürden will. Aber, lieber Freund, wo gerate ich hin mit meinem Eifer in Gräz?

Mit diesen und ähnlichen Gedanken, die ich Dir hier nicht alle herschreiben kann, lief ich immer an der Mürz hinunter, kam in Brüg an die Murr und pilgerte an dem Flusse hinab. Schon zu Neukirchen waren mir eine Menge Wagen begegnet, die leer zu sein schienen und doch außerordentlich schwer gingen. Auf dem Sömmering traf ich noch mehr, und entdeckte nun, daß sie Kanonen führten, die sie höchst wahrscheinlich von Gräz und noch weiter von der italienischen Armee brachten und deren Lafetten vermutlich verbraucht waren. Vor Einem Wagen zogen oft sechszehn Pferde, und der Wagen waren mehr als hundert. Für mich hatten sie den Vorteil, daß sie Bahn machten. Hier und da war auch Bedeckung; und Soldaten mit Gewehr sehe ich als Reisender jetzt immer gern: denn im Allgemeinen darf man annehmen, diese sind ehrliche Leute; die Schlechten behält man in den Garnisonen und läßt sie nicht mit Gewehr im Lande herumziehen.

Den zehnten um neun Uhr aus Wien, und den vierzehnten zu Mittage in Gräz, heißt im Januar immer ehrlich zu Fuße gegangen. Die Täler am Flusse herunter sind fast alle romantisch schön, die Berge von beträchtlicher Höhe. Noch eine Meile von Brüg, gleich an dem Ufer der Mürz, steht ein schönes Landhaus; auf der einen Seite desselben siehst Du auf der Gartenmauer Pomona mit ihrem ganzen Gefolge in sehr grotesken Statuen abgebildet, und auf der andern die Musik mit den meisten Instrumenten nach der Reihe noch grotesker und fast an Karikatur grenzend. Das Ganze ist schnakisch genug: und tut eine possierlich angenehme Wirkung. Der Trägerin des Füllhorns fehlte der Kopf, und da die ganze Gesellschaft ziemlich beschneit war, konnte man nicht entdecken, ob er abgeschlagen war, oder, ob man sie absichtlich ohne Kopf hingestellt hatte. Die Örter in der Gegend haben alle das Ansehen der Wohlhabenheit.

Bei Rötelstein beschwerte sich ein Landmann, mit dem ich eine Meile ging, über den Schaden, den die Wölfe und Luchse anrichteten, die aus den Bergen herabkämen. Der Schnee ward hoch und die Kälte schneidend, und ich eilte nach Pegau, bloß weil der Ort für mich einen vaterländischen Namen hatte. Aber das Quartier war so traurig, als ich es kaum auf der ganzen Reise angetroffen hatte. Man sperrte mich mit einem Kandidaten der Rechte zusammen, der aus der Provinz nach Gräz zum Examen ging, und der mich durch seine drolligen Schilderungen der öffentlichen Verhältnisse in Steiermark, für das schlechte Wirtshaus entschädigte. Er hatte viel Vorliebe für die Tiroler, ob er gleich ein Steiermärker war, und lobte Klagenfurt nach allen Prädikamenten. Mit ihm ging ich vollends hierher.

Gräz ist eine der schönsten großen Gegenden, die ich bis jetzt gesehen habe; die Berge rund umher geben die herrlichsten Aussichten, und müssen in der schönen Jahrszeit eine vortreffliche Wirkung tun. Das Schloß, auf einem ziemlich hohen Berge, sieht man sehr weit: und von demselben hat man rund umher den Anblick der schön bebaueten Landschaft, die durch Flüsse und Berge und eine Menge Dörfer herrlich gruppiert ist. Als ich oben in das Schloßtor trat, stand ein Korporal dort und pfiff mit großer Andacht eines der besten Stücke aus der Oper: die Krakauer, welche die letzte Veranlassung zum Ausbruch der Revolution in Warschau war. Da ich die Oper dort genossen und das darauf folgende Trauerspiel selbst mitgemacht hatte, so kannst Du denken, daß diese Musik hier in Gräz ganz eigen auf mich wirkte. Eben diese Melodie hatte mich oft so sehr beschäftigt, daß ich manchmal in Versuchung gewesen war, für mich selbst einen eigenen Text darauf zu machen, da ich das Polnische nicht sonderlich verstehe. Die Gefängnisse des Schlosses sind jetzt voll Verbrecher, die mir mit ihren Ketten entgegenklirrten. Das Spital, gleich unten am Schloßberge, ist von Joseph dem Zweiten, ein stattliches Gebäude; und das neue, sehr geschmackvolle Schauspielhaus, mit einer kurzen, echt lateinischen Inschrift, von den Ständen. Herr Küttner spricht schon ziemlich gut von dem hiesigen Theater, und ich habe sein Urteil völlig richtig gefunden. Man gab eine neue Bearbeitung des alten Stücks der Teufel ist los. Der Text hält freilich, wie in den meisten Opern, keine Kritik. Schade, daß man nicht in dem Tone fortgefahren ist, den Weiße angeschlagen hatte. Es hätten eine Menge zu niedriger Redensarten ausgemerzt werden sollen. Die Musik war eklektisch und gab Reminiszenzen; war aber sehr gefällig, und schon mehr italienisch als deutsch. Der Gesang war besser, als ich ihn seit Guardasonis schöner Periode irgendwo gehört habe. Das Personale ist ziemlich gut besetzt, und vorzüglich das weibliche nicht so ärmlich als in Dresden und Wien. Das einzige was mir mißfiel, waren die Furien und Teufel, welche durchaus aussahen wie die Kohlenbrenner vom Blocksberge.

In einer Prolepse muß ich Dir, nicht ganz zur Ehre unserer Mitbürger, sagen, daß ich auf meiner ganzen Wanderschaft kein so schlechtes Schauspielhaus gesehen habe, als bei uns in Leipzig. Hier in Östreich und durch ganz Italien und auch in Frankreich sind überall gehörige bequeme Vorzimmer am Eingange, und die meisten haben Kaffeehäuser von mehrern Piecen, wo man Erfrischungen aller Art und gut haben kann. Bei uns wird das Publikum in einem schlechten Winkel ziemlich schlecht bedient, und für Bequemlichkeit und Vergnügen derjenigen, die nun gerade diese Szene oder diesen Akt nicht sehen wollen, ist gar nicht gesorgt. An Feuersgefahr scheint man ebensowenig gedacht zu haben, und sperrt das Publikum auf Gnade und Ungnade ohne Rettung und Ausflucht zusammen.

Die Gräzer sind ein gutes, geselliges, jovialisches Völkchen; sie sprechen im Durchschnitt etwas besser deutsch, als die Wiener. Der Adel soll viel alten Stolz haben. Das ist nun so überall sein Geist, etwas gröber oder feiner; ausgenommen vielleicht in großen Städten und größern Residenzen, wo sich die Menschen etwas mehr aneinander schleifen und abglätten. Längs der Mürz und der Murr herunter gibt es links und rechts noch manche alte Schlösser, die aber, dem Himmel sei Dank, immer mehr und mehr in Ruinen sinken. Ihr Anblick erhöht nur noch das Romantische. Von Iffland, der voriges Jahr auch hier war, spricht man sowohl hier als in Wien noch mit Enthusiasmus. An der Wirtstafel erzählten einige Gäste vom Lande viel von der Bärenjagd und den Abenteuern, die es dabei gäbe. Ich glaubte immer, diese Art von Pelzwerk wäre jetzt nur noch in Polen und jenseits zu Hause; aber voriges Jahr wurden hier in der Gegend zwölfe geschossen, und auch diesen Jahrgang wieder mehrere. Vor einigen Jahren wurde eine Bärin erlegt, die Junge hatte, und auf einen Hof geschafft. Kurze Zeit nachher folgten die Jungen der Fährte der toten Mutter und setzten sich vor dem Hofe auf einen alten Lindenbaum, wo sie sich endlich ruhig fangen ließen. Die Gärten und der Lindenberg waren verschneit, so daß ich diese Vergnügungsörter nur von weitem sah.


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