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Sie betraten die Schwelle des ersten der vorderen Salons, in welchem die noch zahlreich versammelten älteren Herrschaften, in Gruppen herumstehend und sitzend, eine schläfrige Unterhaltung führten.
Wollen Sie die Güte haben, Liebste, mit meiner Mama englisch zu sprechen, sagte Anne. Sie versteht kein andres Wort. Ueberhaupt müssen Sie sich von ihr keine große Vorstellung machen: sie ist eine alte, nichts weniger als bedeutende Dame. Ich sehe sie da in der Ecke. Bitte, kommen Sie!
Frau Curtis saß in der bezeichneten Ecke auf einem Sofa, neben ihr – zu Maries Schrecken – ihre eigene Mutter. Es war ein gräßlicher Gedanke, im Beisein ihrer Mutter jenes so sorgsam verheimlichten Besuches im Curtisschen Hause überführt zu werden.
Die Geheimrätin hatte sich, als sie Anne herankommen sah, schnell erhoben. Sie sprach das Englische nur äußerst mangelhaft und hatte schon seit einer Viertelstunde sehnlich nach jemand ausgeschaut, der sie aus dem Tête à Tête mit der amerikanischen Dame erlösen möchte, welches ihr mit jeder Minute zu größerer Qual wurde, und das sie doch aus guten Gründen nicht abzubrechen wagte.
Sieh da, unsre Ballkönigin rief sie Anne entgegen. Komme ich endlich dazu, Ihnen zu danken, daß Sie unser bescheidenes Fest zum glänzendsten der Saison gemacht haben, von dem man noch viele Wochen sprechen wird! Aber Sie wollen doch nicht schon fort?
Ich habe in der That die Absicht, Madame; erwiderte Anne. Zuvor wollte ich nur meiner Mama die Freude bereiten, sie mit Fräulein Marie bekannt zu machen. Fräulein Marie von Alden, liebe Mama, die mich vorhin so köstlich begleitet und mir versprochen hat, meine Freundin sein zu wollen. Du mußt sie jetzt recht dringend bitten, daß sie Wort hält und uns vor allem bald und dann oft, recht oft besucht.
Die Geheimrätin hatte von den letzten englisch und sehr rasch gesprochenen Worten nicht alle, aber doch so ungefähr den Sinn verstanden und warf einen schnellen verwunderten Blick auf Marie. Frau Curtis apathische Miene hatte sich bei der Ansprache ihrer Tochter ein wenig belebt. Sie griff nach ihrer Lorgnette und kniff, da sie dieselbe nicht finden konnte, die Augen ein, indem sie einiges lispelte, das wohl eine höfliche Phrase sein mochte; wenigstens lächelte sie dazu.
Wenn Sie nur die Lorgnette nicht findet! dachte Marie. Bemerkst Du nicht eine merkwürdige Aehnlichkeit? fragte Anne ihre Mutter.
O ja, o ja! lispelte diese, an sich herumtastend.
Die Lorgnette liegt in Deinem Schoße, sagte Anne.
Jetzt geschieht das Fürchterliche; sprach Marie bei sich.
Frau Curtis hatte die Lorgnette vor ihre großen stumpfen schwarzen Augen genommen und murmelte, zu Marie aufblickend:
O ja! o ja! Merkwürdig, wirklich merkwürdig! Aber mit wem doch gleich, liebes Kind?
Anne brach in ein kurzes lustiges Lachen aus und sagte, sich zu Marie wendend:
So ist Mama! Es sind keine drei Wochen her, als uns in Paris eine junge Dame, die Tochter aus einem vornehmen verarmten Hause von unserm dortigen Gesandten zugeführt wurde, da Mama den Wunsch ausgesprochen hatte, eine dame de compagnie für sich zu gewinnen. Die junge baronesse oder comtesse – möglicherweise war es auch eine princesse oder duchesse, – gefiel Mama und uns allen ganz ungemein – sehr begreiflich, denn sie sah Ihnen, liebe Marie, wirklich ganz erstaunlich ähnlich. Es konnte aus der Sache nichts werden, da Ralph ungeduldig war, nach Deutschland zu kommen, und die duchesse, – wie sie sagte, – lieber verhungern wollte, als uns nach Berlin folgen außer in Begleitung einer französischen Armee. Aber Mama, besinnst Du Dich wirklich nicht?
O ja, o ja! murmelte Frau Curtis, freilich, gewiß! Sie hatte mir sehr gefallen, sehr! Neulich war wieder eine da, die hat mir auch sehr gefallen; aber Mister Smith hat sie wieder weggeschickt, ich weiß nicht warum. Nun will ich gar keine mehr – nein, nein, ich will keine mehr!
Die Dame hatte die letzten Worte in einem weinerlichen Tone gesagt, wie ein unartiges Kind, dem man ein gefährliches Spielzeug genommen hat, und das nun erklärt, auch gar nicht mehr spielen zu wollen.
Dafür kommt diese junge Dame recht, recht oft zu uns! rief Anne. Nicht wahr, meine süße Marie, Sie machen mir und Ralph und meiner Mama die Freude? Bitte, bitte, sagen Sie endlich ja!
Sie hatte Marie an beiden Händen gefaßt. Marie, von deren Herzen jetzt alle Sorge gewichen war, wäre dem schönen Mädchen gern um den Hals gefallen und hatte alle Mühe mit einem Blick auf ihre Mutter ruhig zu sagen:
Gern, sehr gern, vorausgesetzt, daß meine Mama nichts dagegen hat.
Aber, Kind, wie sollte ich etwas dagegen haben! rief die Geheimrätin, welche mit steigender Verwunderung dieser Scene beigewohnt und mit schnellem Nachdenken erwogen hatte, daß, wie lächerlich ihr auch eine solche Begünstigung Maries vorkam, diese sich doch unter ihrer Leitung als ein schickliches und ungefährliches Werkzeug zur Förderung gewisser bei ihr bereits feststehender Absichten erweisen werde.
Dann, rief Anne, hole ich mit Ihrer Erlaubnis Fräulein Marie morgen gegen mittag ab und behalte sie für den Tag bei mir. Ich habe noch so manches in der Stadt zu besorgen, bei dem ich einer erfahrenen Freundin dringend bedarf.
Wenn Ihnen Marie irgend nützlich sein kann, sagte mit ihrem freundlichsten Lächeln die Geheimrätin, die in den letzten Worten endlich einen Schlüssel des Rätsels fand. Marie hat wirklich so manche Erfahrung und wird sich eine Ehre daraus machen, Ihnen in jeder Weise zur Hand zu gehen.
Die Geheimrätin mußte sich andern Gästen widmen, die sich verabschieden wollten. Die Musik im Saale nebenan hatte wieder begonnen und lud zur Française ein. Reginald kam herbeigestürzt: ob er die Ehre haben dürfe? man warte nur noch auf das gnädige Fräulein!
Bleiben Sie inzwischen bei der Mama, Liebe! flüsterte Anne Marien auf deutsch zu, ihren Arm in den ihres Begleiters legend. Marie setzte sich zu Frau Curtis, nun doch wieder mit klopfendem Herzen. Erst jetzt hatte sie bemerkt, daß das pomphafte Kleid, welches die Dame trug, eben das von ihr an jenem Morgen vor dem Spiegel anprobierte und inzwischen für sie zurechtgemachte war.
Sie hatte sich unnötigerweise gesorgt. Frau Curtis, die ihren Blick aufgefangen haben mochte, erklärte mit großer Genugthuung, das Kleid sei ein Pariser Modell, von ihr selbst in Paris ausgewählt und erstanden – ausnahmsweise ohne Annes Assistenz, obgleich sie sonst ohne Anne dergleichen nicht zu thun pflege. Dann erzählte sie weitläufig die Geschichte des Anprobierens, ungefähr so, wie sich alles in Wirklichkeit zugetragen, nur daß sie die Scene nach Paris verlegte und an Maries Stelle die Duchesse figurierte. Dieselbe habe ein vorzügliches Englisch gesprochen, und sie werde Mister Smith nie vergeben, daß sie durch ihn um eine ihr so sympathische, vielversprechende Gesellschafterin gekommen sei. Ueberhaupt müsse sie sagen, daß der Mann ihr und auch Mister Curtis recht lästig sei, und Mister Curtis ihn auch nur mit hinübergenommen habe, um ihn hier in Deutschland, seinem Vaterlande, mit passender Manier los zu werden. Ein Ersatz für ihn sei bereits gefunden in der Person eines jungen, kürzlich als Privatsekretär engagierten Mannes, dessen Klugheit Mister Curtis sehr rühme, und der auch ihr sehr gefallen habe, während ihre Kinder und Mister Smith – natürlich! – allerlei an demselben auszusetzen hätten.
So, jetzt hierhin, jetzt dorthin sich wendend, oder völlig ins Unbestimmte verlierend, murmelte der Redefluß der Dame leise und eintönig weiter, während bei Marie, die nur selten ein Wort dazwischen anzubringen wußte, Erstaunen, Mitleid, mühsam unterdrückte Lachlust und kaum zu verhehlende Betroffenheit miteinander wechselten. Die letzten Aeußerungen der Dame hatten sie geradezu erschreckt. Zwar wußte sie aus den Mitteilungen Ralphs, daß die Stellung des Herrn Smith im Curtisschen Hause eine ganz andere war, als sie sich im konfusen Kopf der Dame malte; aber die Gunst, in welche sich der vielgewandte Hartmut bereits zu setzen verstanden hatte, wollte ihr gar nicht gefallen, ja erweckte ihr schwere Bedenken. Sie hatte durchaus die Empfindung, daß hier ein dunkler Punkt sei, der aufgeklärt werden müsse, und diese Aufklärung wohl kaum anders als durch sie selbst geschehen könne.
Indem sie dies noch bei sich erwog, sah sie aus dem benachbarten Salon ihren Stiefvater eintreten, in eifrigem Gespräch mit einem ihr unbekannten Herrn, in welchem sie nach seinem von der übrigen Gesellschaft wesentlich verschiedenen Typ Herrn Curtis vermutete, obgleich zwischen dem vierschrötigen Manne mit den wie aus Holz geschnitzten harten Zügen des unschönen Gesichtes und seinen anmutigschönen Kindern auch nicht die leiseste Aehnlichkeit obzuwalten schien. Ihre Vermutung wurde alsbald bestätigt, indem der Herr, Frau Curtis auf dem Sofa erblickend, herantrat und mit einem nicht unfreundlichen Lächeln auf den breiten Lippen sagte:
Nun, meine Liebe, ich dächte, Du hättest lange genug in dieser Ecke gesessen, und es wäre hohe Zeit aufzubrechen.
Frau Curtis begann sogleich, Fächer, Shawl, Riechfläschchen, Taschentuch – was sie alles auf dem Sofa um sich her verstreut hatte – zusammenzusuchen, wobei ihr Marie half, die nun auch von ihrem Stiefvater Herrn Curtis vorgestellt wurde.
Sie haben meine Tochter zu großem Dank verpflichtet, sagte der Amerikaner mit steifer, aber höflicher Verbeugung; ich hoffe, Sie werden ihr und uns allen Gelegenheit geben, diesen Dank irgendwie abzutragen.
Sie soll morgen den ganzen Tag bei uns zubringen; sagte Frau Curtis, nach der Lorgnette in ihrem Schoße herumtastend.
Es wird uns eine große Ehre sein, sagte Herr Curtis.
Marie verneigte sich, betroffen von dem stechenden Blick, welchen Herr Curtis inzwischen unverwandt auf sie gerichtet hielt. Der Geheimrat schaute lächelnd, aber etwas verlegen drein; er konnte sich diese Höflichkeiten gegen seine Stieftochter nicht wohl erklären, gab aber sein Einverständnis durch beifälliges Murmeln zu erkennen.
In dem Saale klang die Musik aus; der Ball war beendet; die erhitzten Tänzer drängten in die vorderen Räume, begierig nach der dort um ein weniges kühleren Temperatur. Ermüdete Mütter suchten nach ihren Töchtern, ihnen die bereit gehaltenen Shawls und Tücher aufzunötigen; ungeduldige Väter mahnten zum Aufbruch, während die jungen Schönen noch immer ein letztes Wort mit ihren Verehrern zu wechseln hatten. Ralph, sehr bleich, wie es Marie schien, und abgespannt, führte Ada an seinem Arm herbei; dann kam auch Anne mit Reginald und einem Schwarm von Herren, die Anne, bei ihren Eltern angelangt, mit ruhigem Kopfnicken entließ. Nur Reginald, als ihr letzter Tänzer und Sohn des Hauses, durfte von dem Rechte, sich zu der Gruppe am Sofa zu gesellen, Gebrauch machen. Sein hübsches Gesicht glühte von Bewunderung des schönen Mädchens, an dem seine Blicke unverwandt hingen, während Ada ebenso ununterbrochen den bleichen Professor anschmachtete. Doch währte die Abschiedsscene nicht lange. Herr Curtis, nachdem er allen die Hände geschüttelt, nahm mit Entschiedenheit den Arm seiner Frau und führte dieselbe davon, gefolgt von Ralph und Anne. Kaum daß die Geheimrätin und Stephanie, die eilends herbeikamen, den Fortgehenden noch an der Thür Lebewohl sagen konnten; Herbert hatte sich während dieser letzten Zeit nicht blicken lassen.
Die noch vor einer halben Stunde übervollen Räume hatten sich rasch geleert bis auf einige Nachzügler, von denen man wußte, daß sie schwer ein Ende finden konnten. Endlich waren auch die letzten gegangen; die Familie fand sich allein. Marie hatte sich, wie es ihre Gewohnheit war, sofort zurückgezogen und war in die Wirtschaftsräume geeilt, welche ihre Sorge heute mehr noch als sonst in Anspruch nahmen. Als sie sich, wie sie zu thun pflegte, nach gethaner Arbeit aus denselben unmittelbar auf ihr Zimmer begeben wollte, vernahm sie, den Korridor durchschreitend, zu ihrem Erstaunen, daß – trotzdem inzwischen bereits eine Stunde vergangen – die ganze Familie noch immer in dem vorderen Salon, wo sie dieselbe vorhin verlassen hatte, versammelt war. Sie hörte deutlich Herbert in einem sehr erregten Ton sprechen, Reginald in einem noch heftigeren antworten, während der Geheimrat und die Mama zugleich die Streitenden beschwichtigen wollten, für die Stephanie auf der einen, Ada auf der andern Seite Partei zu nehmen schienen. Nun sprachen und schrieen alle durcheinander. Marie wagte nicht, den Diener anzublicken, der in dem Korridor die Lampen auslöschte und that, als ob er nichts höre. Dafür fand sie, die Treppen hinaufeilend, auf dem zweiten Absatz Pauline, die sich weit über das Treppengeländer gebogen hatte und so eifrig lauschte, daß sie nicht einmal die Heraufsteigende kommen sah. Das freche Mädchen lachte, als sie so aus ihrem Lauscherposten aufgeschreckt wurde, und huschte eilig die Treppen hinab. Marie schritt weiter, beschämt und aufs tiefste beunruhigt, daß der Abend, der ihr so viel Schönes und Erfreuliches gebracht hatte, mit einem so schrillen Mißaccord enden mußte.
Ende des ersten Buches.