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Viertes Kapitel.

Im Iliciusschen Hause hatte sich an demselben Vormittag um Stephanies willen, die in einer Stunde reisen wollte, ausnahmsweise die gesamte Familie bei einem späten Frühstück eingefunden. Trotz der guten Speisereste des gestrigen Soupers, mit denen der Tisch überreichlich bedeckt war, und des Eifers, mit welchem die Herren sich die letzten Gläser aus den Flaschen schenkten, blieb die Stimmung eine gedrückte. Die besondere Höflichkeit, mit der man einander begegnete, schien die Erinnerung des letzten Beisammenseins in der vergangenen Nacht eher aufzufrischen als auszulöschen. Reginald, der bei solchen Gelegenheiten das Wort zu führen pflegte, wurde um so stiller, je schneller er ein Glas nach dem andren hinunterstürzte, wobei er je zuweilen einen verstohlenen Blick auf Stephanie warf, welche die geröteten Augenlider kaum einmal vom Teller hob. Ada erklärte, eine fürchterliche Migräne zu haben. Dem Vater konnte man seine Schweigsamkeit nicht verdenken: er hatte heute im Reichstag als Regierungskommissar eine wichtige Sache zu vertreten. Die Mutter wollte ihn in seinen Meditationen nicht stören. Am mitteilsamsten war Herbert; aber da er ausschließlich von politischen Dingen sprach: – der Lage der Regierung dem wachsenden sozialdemokratischen Wahnsinn gegenüber, dem endlich die Zwangsjacke werde angelegt werden müssen, – mochte man den andern ihre Unaufmerksamkeit zu gute halten. Zuerst war Reginald, der zum Dienst mußte, gegangen, nachdem er Stephanie umarmt; dann hatte sich der Geheimrat mit einem Kuß auf Stephanies Stirn verabschiedet. Herbert, der inzwischen seine Flasche ruhig geleert, stand nun ebenfalls auf und verließ, der Schwester eine gute Reise wünschend, das Zimmer mit Ada, die sich an seinen Arm gehängt hatte. Marie folgte ihnen, um Mutter und Tochter die letzte halbe Stunde allein zu lassen.

Als sie nach gemessener Zeit zurückkam, daran zu erinnern, daß alles längst im Wagen sei, und die Pferde anfingen unruhig zu werden, fand sie die beiden Damen noch in eifrigster Unterredung, die Mutter mit einer Miene, deren verstörten Ausdruck sie vergeblich vor der Eintretenden zu verbergen suchte, Stephanie mit völlig verweinten Augen. Marie half der Schwester zu ihren Sachen, wofür sie von dieser mit einer Inbrunst umarmt wurde, welche mit dem geringfügigen Dienst wenig in Verhältnis stand. Ihr Abschied von der Mama hatte einen fast tragischen Anstrich, desgleichen die Gebärde, mit der sie sich in die Ecke des bei dem köstlichen Wetter aufgeschlagenen Reisewagens lehnte. Die Pferde zogen an. Stephanie winkte mit dem Taschentuch, das sie dann an die Augen drückte, wie eine entthronte Königin, welche in die Verbannung zieht.

Marie wollte sich nun entfernen; die Mutter hielt sie zurück, indem sie mit einem weinerlichen Tone sagte:

Hättest Du wohl noch ein paar Minuten für mich, liebes Kind?

Und dann, als sie durch das Frühstückszimmer in das Boudoir gelangt waren:

Möchtest Du nicht Platz nehmen, liebes Kind?

Marie setzte sich still, von diesen für sie ungewohnten Höflichkeiten auf die peinlichste Weise berührt.

Du hast eine Ausfahrt vor mit Anne Curtis?

Ja, Mama; ich erwarte sie in einer halben Stunde.

Bist Du schon angezogen?

Ich denke, ich kann so bleiben.

Wie immer schicklich ajustiert, sagte die Mutter, mit einem zerstreuten Blick Maries sehr einfachen Anzug musternd. Also, was ich mit Dir besprechen wollte –

Sie hatte sich nun auch niedergelassen auf ihrem gewöhnlichen Platz im Fenster an einem Tischchen, auf welchem ihr Nähkorb stand. Während sie in demselben nach etwas, das sich nicht finden lassen zu wollen schien, zu kramen begann, sprach sie in mancherlei Absätzen, als wenn sie nicht recht bei der Sache wäre, weiter:

Es ist mir lieb, daß Fräulein Curtis Dir solche Avancen macht. – Man darf annehmen, es läuft dabei ein bißchen Egoismus unter. – Sie machte gestern ja auch kein Hehl daraus, daß sie heute morgen Deine Kenntnis der Läden und so weiter für sich ausnutzen will. – Das thut nichts. – Man kommt sich dabei doch näher. – Ueberdies: Du warst die Einzige in der Familie, welche mit den Curtis noch nicht auf einem freundschaftlichen Fuße stand. – Es sind wirklich liebe Leute. – Der Umgang mit ihnen ist eine rechte Erquickung für mich, – die mir denn auch wahrlich not thut.

Sie hatte inzwischen das gesuchte Etwas zu finden aufgegeben und das Nähkörbchen mit einem Seufzer geschlossen. Marie hatte die Empfindung, daß dies alles nur Einleitung gewesen sei, und die Mama jetzt zum eigentlichen Thema kommen werde. In der That wandte diese zum ersten Male während der Unterredung die Augen offen zu ihr und fuhr in lebhafterem Tone fort:

Ich habe sehr viel Kummer, liebes Kind, und das Bedürfnis, darüber offen mit Dir zu sprechen. Du kannst von Glück sagen, daß Du gestern abend nicht noch einmal in das Zimmer gekommen bist. Es war wirklich eine recht häßliche Scene, und ich denke mit Schaudern daran, daß einer von den Leuten gehorcht haben könnte. Die nächste Veranlassung war eine Bagatelle: Herbert hatte nach dem Souper Champagner nach vorn beordert; ich war, während wir ganz harmlos die Ereignisse des Abends besprachen, so unvorsichtig zu bemerken, es sei das eine Neuerung, der ich keinen Geschmack abgewinnen könne. Diese doch gewiß unschuldige Aeußerung reichte denn für Herbert hin, mir in Gegenwart des Papa und der andern Kinder Dinge zu sagen – Dinge, ich darf gar nicht daran denken, wenn ich nicht nochmals außer mir geraten soll. Auch bin ich überzeugt: er hatte sich alles längst zurechtgelegt und nur auf einen Augenblick gewartet, in welchem er seine arme Mutter so recht systematisch kränken könnte. Mein Gott, was habe ich hören, was mir vorwerfen lassen müssen: meine Wirtschaftlichkeit, die er das Nonplusultra – kannst Du es glauben, Marie? – das Nonplusultra von Unwirtschaftlichkeit; meine Liberalität in Geldsachen, die er die sinnloseste Verschwendung nannte; meine –

Die Geheimrätin kam für den Moment nicht weiter; sie hatte das Taschentuch in die Augen gedrückt und schluchzte heftig.

Marie war in der peinlichsten Verlegenheit. Jene von Herbert der Mutter gemachten Vorwürfe, wie unkindlich sie sein mochten und in welcher unschicklichen Weise er sie vorgebracht hatte – ungerecht waren sie nicht. Das wußte sie am besten, die bereits seit zehn Jahren jene unglückseligen Wirtschaftsbücher führte, in denen sich die Ausgabesummen mit den budgetmäßigen Ansätzen niemals deckten; und über Rechnungen, welche sie von einem Gelde bezahlen sollte, das niemals vorhanden war, schon so oft brennendste Thränen der Scham geweint hatte!

Inzwischen hatte sich die Geheimrätin soweit beruhigt, daß sie, jetzt den gestickten Namenszug mit der Baronenkrone in ihrem Taschentuch betrachtend, fortfahren konnte:

Du magst Dir denken, Marie, daß Stephanie und Reginald, die lieben Kinder, sich ihrer armen Mutter gegen den Maßlosen um so wärmer annehmen zu müssen glaubten, als der Vater, anstatt für mich einzutreten, was doch seine Pflicht war, nur immer zu beschwichtigen suchte; und Ada, wenn sie auch nicht mitzureden wagte, sichtlich, wie stets, auf Herberts Seite stand. Das half aber gar nichts – im Gegenteil: nun kamen die beiden an die Reihe – es war fürchterlich. Er – ich meine Herbert – muß über die kleinen Zuschüsse, die ich den Kindern wohl einmal gewährte, positiv ein Buch geführt haben; wußte er doch sogar von den zehntausend Mark, die ich gestern vormittag mit Mühe und Not für Stephanie zusammengebracht hatte! Wie er es erfahren, ist mir ein Rätsel. Ich kann nicht anders glauben, als daß Pauline gehorcht und es ihm gesteckt hat. Stephanie ist auch der Meinung, und ich hätte der schlechten Person heute gekündigt, aber man kann ja mit diesen Kreaturen nicht vorsichtig genug sein. Das läuft dann in der Stadt herum und erzählt, ich meine: lügt auf unsre Kosten, und gerade jetzt wäre es mir sehr fatal, wenn –

Die Geheimrätin wollte abermals das Nähkörbchen öffnen, besann sich aber, daß dasselbe seinen Dienst bereits gethan hatte. So griff sie statt dessen nach einem Strauß halbverwelkter Veilchen, der noch von gestern abend in einer kleinen venetianischen Vase auf dem Tischchen stand, roch daran und sagte:

Doch darüber hernach. Zuerst muß ich Dir noch mitteilen, welche schreckliche Wendung die Sache für unsre arme Stephanie genommen hat infolge der unverantwortlichen Schwäche des Papa, der mich hier völlig in Stich läßt. Ach, mein Kind, – Dir kann ich es ja sagen – ich habe ja außer Dir niemand auf der Welt, dem ich es sagen und der es mir nachfühlen könnte: es ist mir wieder einmal so recht klar geworden, was ich an meinem ersten Gatten, Deinem Vater, verloren habe. Nie hätte er sich mit seinen Kindern gegen seine Gattin verbündet; nie würde er geduldet haben, daß seine Kinder in seiner Gegenwart mir meine kleinen Schwächen, die ich ja haben mag, wie jeder, zu Verbrechen stempelten. Er war eben ein Edelmann und wußte, was sich für einen Edelmann schickt, während Dein Stiefvater – mein Gott, das nachträgliche Von – kann es mich vergessen machen, daß dieser neugebackene Adel eine traurige Degradation ist für die geborene Komtesse, und auch für Dich, mein Kind, die Du eine Baronesse bist; und die wir nun Tag für Tag diese kleinbürgerliche Misere über uns ergehen lassen müssen? O, mein Gott, weshalb mußte uns das schreckliche Unglück treffen, Deinen edlen Vater so früh zu verlieren!

Jetzt mußte doch wieder das Taschentuch daran. Marie saß da, ohne sich zu regen. Was war dies? Niemals zuvor, solange sie denken konnte, hatte die Mutter in ihrer Gegenwart des verstorbenen Vaters auch nur Erwähnung gethan, geschweige denn sich seiner in Liebe und Wehmut erinnert. Was konnte der Tochter, die man fast zur Dienstmagd erniedrigt, diese späte mütterliche Reue frommen? Ja, war es nur anzunehmen, daß diese Reue echt, und nicht vielmehr der heuchlerische Ausdruck für den Kummer war, den die Mutter darüber empfand, daß ihr ein ungerechtes Gut so schlecht hatte gedeihen wollen? sie Gefahr lief, die Herrschaft, zu der sie durch schnöden Treubruch gelangt war, einzubüßen? Und zu dieses erbärmlichen Kummers Zeugin machte man sie, die um Vater und Erbe, um ihre Jugend, um alle Freude, allen Genuß des Lebens schamlos Betrogene?

Das Taschentuch hatte seine abermaligen Dienste soweit gethan. Die Mutter ließ es in den Schoß sinken, faltete die Hände darüber und fuhr in resigniertem Tone fort:

Aber Geschehenes geht ja leider nicht mehr zu ändern, und ich muß die Folgen von Schritten tragen, für die ich Gott zum Zeugen anrufen kann, daß ich sie in bester Absicht – auch für Dich, mein Kind – gethan habe, und die nun freilich meine arme Stephanie zuerst und am härtesten treffen. Es ist so gekommen, wie ich bereits gestern abend fürchten mußte: die abscheuliche Scene hat heute morgen vor dem Frühstück eine womöglich noch abscheulichere Fortsetzung gehabt, die mir das Komplott zwischen Herbert und dem Vater vollends enthüllte. Schon um neun Uhr hatte mich Herbert zu einer Unterredung bitten lassen: ich muß wohl sagen: befohlen, zu der sich dann auch der Vater einfand – mit einem dicken Hauptbuche, – glaube ich, nannte er's – das ich im Leben nicht gesehen habe; und Herbert mit allen möglichen Notizen, Rechnungszusammenstellungen – was weiß ich! Herbert führte wieder das große Wort. Egon soll Neusitz wirklich aufgeben. Nicht einmal so lange lassen sie ihn da, bis sich ein Käufer gefunden hat. Auf der Stelle soll er mit Stephanie und dem Kinde hierher nach Berlin übersiedeln, wenn keine passende Wohnung da ist, – und woher soll denn die sofort kommen? – so etwas will doch nach allen Seiten überlegt sein! – zu uns, denke Dir, zu uns, die wir uns doch so schon in ganz ungebührlicher Weise zusammendrängen müssen! Wie das werden soll – ich weiß es nicht – ich wasche meine Hände in Unschuld.

Die Geheimrätin machte mit den weißen Händen eine bezeichnende Bewegung und blickte zu Marie hinüber. Es mochte ihr doch nachgerade aufgefallen sein, daß Marie sich bei all ihren Reden so stumm verhielt. So sagte sie in aufmunterndem Ton:

Nun, mein Kind, wie denkst Du darüber?

Wir werden es einzurichten suchen müssen, erwiderte Marie. Es wird schon gehen. Vielleicht daß Reginald –

Du nimmst mir das Wort aus dem Munde, rief die Geheimrätin. Er hat ja, so wie so, bei uns nicht die Freiheit, die ein junger Offizier doch schließlich haben muß; und wie lange würde es denn auch gedauert haben, bis – nun ja, bis er sich verheiratet hätte. Und das bringt mich denn auf das zweite Thema, das ich mit Dir besprechen wollte. Sieh, mein Kind, es war immer mein Wunsch – und wenn unser Vermögen denn wirklich erschüttert sein soll – ist es einfache Notwendigkeit, daß Reginald möglichst schnell eine reiche Heirat macht. Junge reiche Mädchen, weißt Du aber, gibt es in unsrem Zirkel nicht viel; ich wüßte kaum eine zu nennen, die nach dieser Seite unsern Ansprüchen genügte. Lotte Blumenhagen? Nun, es ist vorteilhaft, seinen Brigadier zum Schwiegervater zu haben. Aber an der Generalsecke ist schon so mancher gescheitert, und die Blumenhagens sind doch gewiß nicht reich! Da ist es denn wirklich eine Fügung des Himmels, daß wir die Curtis kennen lernten. Das Herz unsres Reginald ist ja so inflammabel, und die junge Dame könnte auch wohl einen Kälteren anziehen! Gibt man mir doch zu verstehen, daß sich sogar Herbert für sie interessiere, was ganz abgeschmackt ist, da er Julie Kinitz heiraten muß und den Vergleich mit Reginald nicht einen Moment aushalten kann, wenn sich auch dadurch die Wut, die er auf Reginald hat, ganz gut erklären ließe. Dem sei nun, wie ihm wolle: für mich steht es fest: Reginald heiratet Fräulein Curtis, vorausgesetzt daß sie sich für ihn entscheidet, wie er sich für sie. Ich nehme das natürlich an; – Reginald ist ja ein so verführerischer Junge; – aber wer kann wissen, welche konfusen Ansprüche solche amerikanische Mädchen machen! Und hier, liebes Kind, erwächst für Dich eine Aufgabe, von der ich überzeugt bin, daß Du sie gern übernehmen wirst. Ich würde Dir zu nahe zu treten glauben, wollte ich im einzelnen ausführen, worin die Aufgabe besteht. In dieser Beziehung verlasse ich mich ganz auf Deine Klugheit, Deine Diskretion. Es läßt sich da viel mit halben Worten sagen; oft genügt eine geschickte Andeutung; Du darfst freilich auch nicht zu zaghaft sein. Wer kann wissen, ob die Curtis ihren Aufenthalt nicht abkürzen, wenn dem Herrn Professor unser Klima nicht bekommt! Darum, je schneller, je besser. Und nun noch eins, liebes Kind!

Die Miene der Geheimrätin, welche, während sie von ihrem Reginald sprach, einen belebten, ja freudigen Ausdruck angenommen hatte, verdüsterte sich wieder und aus ihrer Stimme wich der helle Klang, als sie jetzt mit gesenkten Augen fortfuhr:

Ada hat es eigentlich nicht um mich verdient, aber Mutter bleibt Mutter, und Gott soll mich behüten, daß ich ihrem Glücke im Wege stünde! Ich hatte eigentlich geglaubt, daß sie sich für den jungen Meiringen interessiert, und das wäre ja auch soweit eine ganz gute Partie, da er seine Tante Jenny beerben soll. Nun; sie wird sich den jungen Mann schon in Reserve behalten; für den Augenblick müssen wir annehmen, daß sie dem amerikanischen Professor den Vorzug gibt. Mir gefällt er nicht; er scheint mir pedantisch und hochmütig, wie alle diese gelehrten Herren; ich finde ihn sogar nicht einmal distinguiert aussehend, doch das ist Geschmackssache. Jedenfalls wird er einmal ein sehr reicher Mann, und seine Witwe – er soll ja brustkrank sein und sieht auch so aus – eine sehr reiche Frau. Mit einem Worte: es spricht vieles dafür; und wenn Du auch diese Angelegenheit ein wenig ins Auge fassen wolltest, könnte das gewiß nicht schaden. Es ginge das so in eines weg; und wenn wir das ganze Curtissche Vermögen in unsre Familie bringen können, wäre es sicher sehr thöricht, wollten wir die eine Hälfte in andre Hände kommen lassen. Ich glaube, ich habe Dir jetzt alles gesagt, und danke Dir, daß Du mit solcher Aufmerksamkeit gefolgt bist. Es ist mir wirklich ein rechter Trost, in meinen vielen und schweren Sorgen an Dir eine so kräftige Stütze zu finden.

Die Geheimrätin schwieg, sehr zufrieden mit sich selbst. In ihrer Meinung hatte sie ihre Angelegenheit bündig und doch erschöpfend vorgetragen und auf Marie einen tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht.

Marie aber hatte längst schon Mühe gehabt, den Unwillen, die Empörung, die sie erfüllten, vor der Mutter zu verbergen; und dann schalt sie sich, daß sie sich diese Mühe gab, nicht die Mutter unterbrach, ihr in das Gesicht sagte: niemals werde ich mich zu der elenden Rolle hergeben; es ist eine Schmach, daß du sie mir sie zumutest! Nun, da die Mutter schwieg und sich mit halb geschlossenen Augen in den Sessel zurücklehnte, bereit, das Lob ihrer Fürsorglichkeit und Umsicht aus dem Munde der Tochter zu vernehmen, war für diese der Augenblick gekommen, ihr Gewissen sprechen zu lassen. Und da, – dem nächtlichen Blitze gleich, – schoß es ihr durch die Seele: was du auch sagen magst, es wird nicht die lautere Stimme der beleidigten Moral sein, sondern die trübe, verworrene der Eifersucht – auf Ada! Wem haben deine letzten wachen Gedanken gestern abend gegolten? Mit wem bist du in den Träumen der Nacht Hand in Hand durch phantastische Regionen gewandert? Wessen Bild hast du heute morgen, wo du auch gingst und standest, zu sehen, wessen Stimme zu hören geglaubt? Ist dies alles nicht mehr, viel mehr als das Interesse an einer neuen interessanten Erscheinung? nicht etwas, das du vorher nie empfunden? und vor dem du jetzt, da es dir so jäh zum freudig-schreckhaften Bewußtsein kommt, verstummen mußt?

Nun, sagte die Geheimrätin, Du sprichst nicht, mein Kind? Ich weiß freilich –

Sie gelangte nicht weiter. Ein Wagen kam schnell die Straße herauf und hielt vor dem Hause. Die Geheimrätin blickte, die Gardine vorsichtig zurückschiebend, auf die Straße.

Fräulein Curtis! sagte sie, – in einem offenen Landauer – superbe Toilette! Solltest Du nicht doch noch schnell etwas andres anziehen?

Ich möchte Miß Anne nicht warten lassen.

Nun denn, adieu, mein Kind! Empfiehl uns alle den Herrschaften angelegentlichst und vergiß nichts von dem, was ich Dir gesagt habe! Du hast eine große Mission. Das Heil der Familie ruht jetzt zum guten Teil in Deiner Hand. Gott segne Dich, mein Kind!

Sie war zu Marie herangetreten und hatte sie auf die Stirn geküßt. Marie überlief es kalt: seit vierzehn Jahren – seitdem sie eingesegnet – das erste Mal, daß die mütterlichen Lippen sie berührten!

In einer Verwirrung, die so heftig und schmerzlich war, daß sie kaum wußte, was sie that, drängte sie die Mutter von sich und eilte zum Zimmer hinaus, die Treppe hinab auf den Flur. Hinter der Hausthür blieb sie ein paar Momente stehen, tiefaufatmend und sich mit dem Tuche mehrmals über Stirn und Augen wischend. Es war ihr, als müsse Anne ihr die Spionenrolle, zu der man sie hatte verurteilen wollen, und die Scham, die sie darüber empfand, vom Gesichte ablesen können.

Dann öffnete sie entschlossen die Thür.


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