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Siebentes Kapitel.

Der Kellner, dem Reginald ein paar Worte zugeraunt hatte, führte die Herrschaften nach einem der nach hinten gelegenen Separatzimmer.

Um Himmelswillen! rief Anne; das sieht ja trübselig aus! Und vorn war es so schön und luftig!

Man begab sich wieder in die vorderen Räume und nahm in der Nähe eines der Fenster an einem kleineren Tische Platz. Reginald bat, ihm die Aufstellung des Menü zu überlassen, was Anne selbstverständlich fand; er entfernte sich, die nötigen Bestellungen zu machen.

Sind Sie nun zufrieden? sagte Anne, ihre Handschuhe ausziehend.

Ich muß ja wohl; erwiderte Marie.

Anne sah sich in dem großen Gemache um, in welchem außerdem nur noch zwei Tische besetzt waren: ein paar Herren an dem einen; ein halbes Dutzend Herren und Damen an dem andren.

Merkwürdig, sagte sie. Bei Delmonico auf dem Broadway fänden Sie um diese Zeit sicher mehr als eine Dame, die ihr Frühstück allein verzehrte. Sind Eure Herren denn keine Gentlemen, daß sich eine Dame ohne Beschützer nicht in ihre Gesellschaft begeben darf?

Ich gebe zu, es ist ein Mangel unserer gesellschaftlichen Sitten, sagte Marie ausweichend; aber wer soll den Anfang machen, dem abzuhelfen?

Wer? rief Anne. Ich sollte meinen: der den Mut dazu hat. Wer sonst? Habe ich nun so unrecht, wenn ich sage: Ihr Deutschen habt keine Initiative – als einzelne, selbstverständlich, denn sonst seid Ihr ja bekanntlich die Helden von Wörth und Sedan! Nein, Marie, Sie dürfen mir nicht gram sein, wenn ich auch einmal ein unbedachtes Wort sage! Ich weiß selber nicht, wie mir heute ist. Ich hatte mich so auf den Tag gefreut, der nun so anders geworden ist und doch auch schön – sehr schön. Seien Sie mir wieder gut!

Ich könnte Ihnen gar nicht bös sein, sagte Marie, die Hand, welche ihr Anne über den Tisch reichte, ergreifend.

Wer doch im Bunde der Dritte wäre! rief Reginald, der jetzt, einen Kellner mit dem Champagner hinter sich, zu dem Tisch zurückkam. So, meine Damen! für den Anfang, bis der Kaviar kommt, – die Austern schienen mir nicht mehr zweifelsohne – ein paar Tropfen, die Zunge anzufeuchten. Auf Ihr spezielles Wohl, Miß Anne!

Er hatte die Flasche in ihrem Eiskübel ein paarmal umgedreht, die Gläser gefüllt und hielt sein Glas Anne entgegen. Lustig stieß sie mit ihm an; auch Marie that freundlich Bescheid. Sie hatte sich vorgenommen, fortan gute Miene zum Spiel zu machen. War es denn ein böses? Wenn die beiden jungen Leute aneinander Gefallen fanden – Reginald durfte sie es doch wahrlich nicht verdenken. Und Anne – nun ja, es wollte ihr nicht zu Sinn, daß Reginald der Mann sei, ihr das stolze Herz zu bewegen; aber vielleicht sind Geschwister untereinander ein für allemal in ihren gegenseitigen Urteilen nicht kompetent. Hatte nicht auch Anne ihren Bruder viel zu hoch gemessen? – »So schön Ihre Ada ist, – das Mädchen, in das sich Ralph über meinen Kopf weg verlieben könnte, ist sie nicht« – hatte sie gestern von ihm gesagt, und heute! Die Liebe ist eben blind, wahrlich nicht seit gestern und heute. Willst Du die Thörin sein, über die uralte Wahrheit die Stirn in Falten zu ziehen?

Marie strich sich über die Stirn und hörte lächelnd dem Gespräch der beiden zu, das jetzt einmal wieder die Pferde zum Gegenstand hatte, und von beiden Seiten um so eifriger geführt wurde, je weniger man sich wiederholt über die fortwährend vorkommenden technischen Ausdrücke verständigen konnte. Von den Pferden kam man auf die Jagd, wo denn Reginald gezwungen war, seine Inferiorität einzuräumen. Er hatte nie den grisly bear, den Prairiewolf; nie den Bison und das Elenn gejagt; hatte nie den Biber an seinen Dämmen bauen, nie der Wandertaube zahllose Schwärme als ungeheure Wolken über den Himmel ziehen sehen. In Reginalds Augen flackerte ein paarmal die Frage, ob denn die schöne Erzählerin nicht hier und da die etwaigen eigenen Erfahrungen mit den Erzählungen anderer, oder den Reminiszenzen ihrer Lektüre bereichere? Aber dann wußte sie schon im nächsten Moment so bestimmte Einzelheiten anzuführen, die selbst beobachtet, Thatsachen mitzuteilen, die in Person erlebt sein mußten – Reginald senkte beschämt die Blicke, um sie sofort wieder bewundernd zu dem herrlichen Mädchen aufzuschlagen.

Das Frühstück, welches nur aus wenigen, schicklich zusammengestellten leichten Speisen bestand, war inzwischen weiter serviert worden; im Saal hatten sich noch andere Gäste eingefunden, unter denselben mehrere Offiziere. War es die Gegenwart der Kameraden, von denen er sich in der Gesellschaft der schönen Fremden fortwährend verstohlen beobachtet wußte; war es der Champagner, welchen er, da die Damen nur eben an ihren Gläsern nippten, so ziemlich für sich allein hatte, oder nur die steigende Glut seiner Empfindungen für das holdselige Wesen ihm gegenüber – seine Blicke wurden immer feuriger, seine Huldigungen immer kühner. Dafür glaubte denn Marie zu bemerken, daß Annes Munterkeit in demselben Maße abnahm, und sich auf ihrem feinen Gesicht wieder jener melancholische Ausdruck zeigte, welchen sie im Laufe des Morgens schon mehrmals beobachtet hatte. Sie würde Reginald gern einen Wink gegeben haben, wie gefährlich denn doch der Boden sei, auf dem er sich bewege; am liebsten hätte sie die Tafel aufgehoben. Aber Reginald verstand die Blicke nicht und hatte gleich zu Anfang den Damen das Versprechen abgenommen, nicht eher aufbrechen zu wollen, bis diese eine – erste und letzte – Flasche geleert sei, deren Rest er nun klüglich schonte. Eben erging er sich in einer Schilderung des Triumphes, den Anne gestern abend gefeiert, und der in dem Enthusiasmus, welchen der Vortrag der Negerlieder bei Jung und Alt erweckte, vielleicht den höchsten Grad erreicht habe.

Wie kann man sich für etwas enthusiasmieren, das man nicht versteht? unterbrach Anne plötzlich Reginalds Lobpreisung in herbem Ton.

Gnädiges Fräulein meinen den Text? sagte Reginald. Den gab ich freilich sofort daran – dieses Negerenglisch –

Ich spreche nicht vom Text, fuhr Anne in demselben Tone fort; den hättet Ihr verstehen können und würdet die Lieder – den Geist, aus dem sie geboren sind, – doch nicht verstanden haben. Das kann nur jemand, dem noch ein Tropfen Negerblut in den Adern rollt.

Von dem Ihre Adern so rein sind, wie die meinen, rief Reginald lachend.

Sehen Sie hier! rief Anne. Was ist das?

Sie hielt ihm ihre rechte Hand über den Tisch hin. Von den sonst durchsichtig rosigen Nägeln war der am Goldsinger braun getupft.

Ein Spiel der Natur; rief Reginald, die kleine Hand entzückt betrachtend.

Jawohl ein Spiel! sagte Anne bitter; aber hinter dem ein verzweifelter Ernst steckt. Wissen Sie zufällig, was eine Quinterone ist?

Keine leiseste Ahnung! rief Reginald.

Nun dann sehen Sie mich an! erwiderte Anne; ich bin eine; und hier ist meine Beglaubigung.

Ein Spiel der Natur, wiederholte Reginald, der dies noch immer für einen Scherz des schönen Mädchens hielt.

Lassen Sie doch die thörichte Phrase! entgegnete Anne fast heftig. Sie wissen nicht, was eine Quinterone ist? Ich will es Ihnen sagen: das Kind eines weißen Vaters, oder auch einer weißen Mutter und eines Quaterone, oder einer Quaterone. In meinem Falle ist der Vater der weiße Mensch, meine Mutter die Quaterone. Quateronen stammen von einem Elternpaar, dessen eines Mulattenblut hatte; von den Eltern von Mulatten hatte eines Vollnegerblut; von den Ureltern also eines Quinterone war eines Vollblutneger oder Vollblutnegerin. Mein Urgroßvater war ein Vollblutneger. Haben Sie das verstanden?

Aber dies alles kann doch nur ein Scherz sein, Gnädigste! sagte Reginald in großer Verwirrung.

So dachte mein Urgroßvater nicht, als sie ihn zu Tode marterten, fuhr Anne höhnisch fort. In den Augen der Junker des Südens war es die selbstverständliche Strafe dafür, daß eine ihrer blaublütigen Töchter die Ungeheuerlichkeit begangen hatte, sich dem schlanken Negerjüngling in Liebe zu eignen. Die Mutter mit dem Kinde floh nach den Nordstaaten, oder man ließ sie fliehen, um sie nicht auch zu Tode martern zu müssen. Sie starb in Kummer und Elend, Ihr Kind, der Mulatte, gedieh, wurde ein schöner stattlicher Mensch, der einem weißen Farmermädchen wohlgefiel, daß sie ihn heiratete. Meine Mutter ist aus dieser Ehe hervorgegangen: die Quaterone, deren Kind ich, die Quinterone, bin.

Es leben die Quateronen und vor allem die Quinteronen! rief Reginald mit einem gewagten Versuch in den früheren gemütlichen Ton einzulenken, sein halbgefülltes Glas Anne hinhaltend.

Darauf thue ich keinen Bescheid, sagte Anne, sich in ihren Sessel zurücklehnend.

Sie kränken mich, sagte Reginald schmollend.

Meinetwegen. Warum schlagen Sie einen Toast vor, der Ihnen nicht von Herzen kommen kann.

Mir nicht von Herzen?

Nein.

Sie hatte sich wieder aufgerichtet und fuhr, Reginald mit funkelnden Blicken anstarrend, leise und heftig fort:

Weil Sie, wären Sie zufällig der Bruder jenes unglücklichen weißen Mädchens gewesen, deren schwarzen Liebsten auch zu Tode gemartert haben würden.

Aber Miß Anne!

So gewiß, als Sie mir gestern abend sagten, daß Sie vor dem bloßen Gedanken schaudern, ein Jude könnte Ihr Vorgesetzter sein; und auf die Zumutung, sozialdemokratische Ueberzeugungen zu haben, mit einer Herausforderung antworten würden.

Zweifellos, sagte Reginald, verlegen lachend, aber verzeihen gnädiges Fräulein die Frage, in welchem Zusammenhang steht dies alles mit Ihrem allerliebsten Fingernagel?

In dem Zusammenhange, erwiderte Anne leise und hastig, in welchem jeder Tropfen gottlos verachteten Blutes mit dem ungeheuren Unterstrom ebenso verachteten Blutes steht, der durch die Adern der Menschheit fließt. In dem Zusammenhange, in welchem Ihr fest zu einander haltet, deren soziale Stellung sich auf der Gottesbeleidigung aufbaut, daß Euer Blut besser ist als das Eurer Menschenbrüder. Sie gehören zu diesem Oberstrom, ich zum Unterstrom. Vermischen können sich die beiden Ströme nicht, nur bekämpfen. Wer in dem Kampfe siegen wird – die Zeit wird's lehren.

Eine Zeit, die wir alle sicherlich nicht erleben werden, rief Reginald. Aber, Marie, Du sagst kein Wort! Ist es recht, mich so hilflos meiner schönen Feindin auszuliefern, die mir natürlich, als Dame, in diesem politischen Streite über ist?

Du weißt, mein Vater lebte und starb als Republikaner, erwiderte Marie mit dumpfer Stimme!

Gott segne Sie! rief Anne, ihre Hand ergreifend.

Reginald biß sich auf die Lippe. Er war entschlossen gewesen, in diesem Streit, trotzdem derselbe eine ihm so ärgerliche Wendung genommen hatte, die lächelnde Ueberlegenheit eines Mannes zu bewahren, der einen unebenbürtigen Gegner nicht ernsthaft nehmen kann. Ueberdies, was Anne da perorierte, das waren ja zweifellos auswendig gelernte Phrasen aus irgend einer amerikanischen Zeitung, mit denen sie einem andren imponieren mochte. Nun aber hätte ihn doch Maries Wort, das einen wunden Punkt in der Familie so hart traf, fast um den Rest seiner Fassung gebracht. Er warf einen zornigen Blick auf die Schwester, beherrschte sich aber sofort und sagte, wieder lächelnd:

Ich gebe mich besiegt, einmal von den Gründen der Damen, die unwiderleglich sind; das andre Mal von ihrer Liebenswürdigkeit, die unwiderstehlich ist. Meine Damen – Ihr beiderseitiges Wohl!

Er hatte, sein Glas mit einer anmutigen Verbeugung leerend, zugleich mit einer Geste angefragt, ob die Damen nicht die Tafel aufgehoben sehen möchten? Marie beeilte sich dem Winke zu folgen. Langsamer erhob sich Anne; sie blickte finster drein, als ob sie sich schäme, so weit gegangen zu sein; oder mit sich zürne, weil sie nicht noch weiter gegangen war.

Reginald zeigte sich sehr beflissen, den Damen zu den paar Sachen zu verhelfen, die sie abgelegt hatten; über die Rechnung hatte er sich mit dem Kellner durch einen Wink verständigt. Der Aufbruch der kleinen Gesellschaft, welche sich im gedämpften Ton so überaus lebhaft unterhalten hatte, blieb, wie leise er geschah, in der Gesellschaft um so weniger unbemerkt, als die anwesenden Offiziere dem Kameraden ihre Gegenverbeugung machen mußten. Reginalds Miene war trotz der Scherze, in denen er sich erging, befangen und verstört; Marie hatte es vorausgesehen, daß er Annes Anerbieten, die Geschwister nach Hause fahren zu dürfen, für sein Teil ablehnen würde. Er habe noch für einen Moment nach der Kaserne zu gehen; müsse sich sogar sehr beeilen, wenn er nicht zu spät kommen wolle. Noch eine höflichste lächelnde Verbeugung; dann hatte er die linke Hand von dem bereits geschlossenen Schlage genommen und wandte sich die Linden hinauf, während der Wagen davonrollte dem Brandenburger Thore zu.

Eine Zeitlang schwiegen beide Damen. Auf Annes Gesicht lag noch immer die finstre Wolke; Marie dachte an die Unterredung vor ein paar Stunden mit ihrer Mutter, und ob dieselbe wohl noch für die Verbindung ihres Reginald mit Anne schwärmen würde, wenn sie dies gehört hätte? Und weiter, ob Reginald selbst jetzt nicht von der Bewerbung um ein Mädchen zurückstehen müßte, das sich zu solchen Grundsätzen bekannte?

Sie waren bereits wieder durch das Thor und fuhren am Rande des Tiergartens hin, als Anne sich lebhaft zu ihr wandte:

Soll ich Ihnen sagen, was Sie jetzt denken?

Nun? erwiderte Marie, sich zu einem Lächeln zwingend.

Sie denken: wie ist es möglich, daß eine junge Dame einen jungen Mann binnen einer Stunde so freundlich und so unfreundlich behandeln kann.

Der arme Reginald hat mir freilich leid gethan.

Mir auch, wenigstens thut er es mir jetzt, wo ich mir die Scene eben wieder vergegenwärtige. Eigentlich mag ich ihn gern. Er hat etwas Gewinnendes in seinem Wesen; ich kann mir denken, daß sich Eure Mädchen leicht in ihn verlieben. Ich will versuchen, ob ich es fertig bringe. Vielleicht befreit mich das von der fixen Idee, an der ich schon lange leide, besonders in den letzten Tagen und niemals stärker als heute.

Von welcher Idee?

Es müsse einen Mann geben, der wirklich ein Mann ist, was ich darunter verstehe: ein wahrhaft freier Mensch nicht bloß dem Namen nach, wie die bei uns zu Lande, die mir nicht genügen, weil sie von der Freiheit, mit der sie geboren sind und die ganz in dem Bereich ihres Willens liegt, im höheren Sinne den rechten Gebrauch nicht machen. Nein: ein Mann, der sich vor nichts im Himmel und auf Erden beugt, weil andre, die ohne anzubeten nicht leben können, es sich als etwas Anbetungswertes geschaffen haben und ihr Knie davor beugen: vor keinem Gott und keinem König. Ein Mann, der den Mut hat, seinen Gedanken ins Gesicht zu sehen, sei der Anblick auch noch so grausig. Ein Mann vor allem, der es nicht bloß beim Denken bewenden läßt, sondern die Spanne Lebenszeit benutzt, sein Denken in Thaten umzusetzen und so den entsetzlichen Zirkel zu durchbrechen, in dem die Menschheit unter der Last, die sie sich selbst aufladet, sich zu Tode quält und gequält wird. Liebe Marie, Sie sind so klug, sagen Sie mir: gibt es einen solchen Mann?

Ich habe geglaubt, erwiderte Marie, der das Herz bis in die Kehle klopfte, Sie hätten in Ihrer nächsten Nähe zwei solcher Männer: Ihren Bruder, den Sie so lieben; Ihren alten Lehrer, von dem Sie mir selbst sagen, daß Sie ihm so viel verdanken, daß Sie ihn so sehr bewundern.

Gewiß liebe ich sie, erwiderte Anne eifrig, – mein Gott, man muß doch irgend jemand zum Lieben haben! – aber der Mann, den ich meine, den ich Ihnen zu schildern versucht habe, ist keiner von den beiden. Sie sind beide weiche, sensitive Menschen – Naturen, viel mehr zum Leiden, als zum Handeln geboren, und deshalb passive Produkte, der eine: eurer verrückten politischen Verhältnisse; der andre: unsrer amerikanischen Hyperkultur. Ich bin überzeugt, sie würden, ohne sich zu besinnen, einem ertrinkenden Kinde nachspringen, ohne zu fragen, ob sie mit dem Leben davonkommen. Aber das ist eine That des Mitleids, unter dessen Herrschaft sie stehen, weil sie mit demselben geschaffen sind, nicht der Freiheit, die sie sich selbst erobert, sich selbst erst geschaffen haben.

Vielleicht werde ich Sie besser verstehen, sagte Marie, wenn Sie mir eine derartige That nennen wollten.

Zum Beispiel die des Brutus, wie sie Shakespeare schildert, erwiderte Anne. Der Mord eines Tyrannen, der uns Freund und Vater gewesen ist, den man wegen seiner großen Eigenschaften liebt und bewundert und doch mordet, weil er ein Tyrann ist. Und ich meine, Shakespeare würde seinen Helden noch größer gemacht haben, wenn er ihn zur That schreiten ließe mit der für ihn sicheren Voraussicht, daß er dieselbe auf der Stelle mit seinem eigenen Leben würde büßen müssen.

Ich kann nicht leugnen, entgegnete Marie, daß ich den Brutus immer aufs höchste bewundert habe. Aber vergessen wir nicht, daß es die Gestalt eines Dichters ist! Der Brutus der Wirklichkeit mag sehr anders ausgesehen haben. Und da lassen Sie mich, als Ihre Freundin, einen Gedanken aussprechen, der mir heute im Laufe unsres Beisammenseins wiederholt gekommen ist, während ich Ihr so eigenartig interessantes Wesen beobachtete und mir zu erklären suchte. Er ist nicht einmal mein eigener Gedanke, sondern ich habe ihn gelegentlich von einem Arzte, Doktor Brunn, gehört und wende ihn jetzt auf Sie an: nur der wahre Dichter besitzt die magische Kunst, die Gebilde der Phantasie von den Dingen der Wirklichkeit rein zu sondern und zu einer idealen Welt zu erhöhen. Die andern phantasiebegabten Menschen laufen stets Gefahr – und eine um so größere, je reger ihre Phantasie ist, ohne sich doch zu jener dichterischen Höhe zu erheben –: jene beiden Welten fortwährend durcheinander zu mischen, indem sie von den wirklichen Dingen fordern, was diese, als solche, niemals leisten und gewahren können. Woraus denn viel Verwirrung in den Köpfen und Herzen der armen Menschen entsteht, die mitten in diesen Streit gestellt sind, und so um jeden ruhigen Genuß des Lebens gebracht werden.

Aber es hat auch Dichter gegeben, die in eben diesem Streit zu Grunde gegangen sind; zum Beispiel unser großer Edgar Poe.

Er hat herrliche Gedichte gemacht, aber, da er zu Grunde gegangen ist – ein wahrhaft großer Dichter war er nicht.

Dann hätten nur die paar großen Dichter das Vorrecht, sich über den Rätseln des Lebens nicht wahnsinnig grübeln zu müssen?

Außer ihnen jedenfalls auch die Phantasielosen, die schon ein ganz respektables Kontingent stellen, erwiderte Marie lächelnd.

Und für die andern, wie ich, die keine Dichter sind und doch auch nicht zu der großen stumpfen Masse gehören, gäbe es keine Rettung?

Doch, sagte Marie, zu dem wolkenlosen Himmel aufschauend, eine: Resignation.

Zum Beispiel, einen Mann heiraten, den wir nicht lieben, weil wir den, den wir grenzenlos lieben würden, nicht finden können, oder er uns, nachdem wir ihn endlich doch gefunden haben, verschmäht?

Der bittere Ton, in welchem Anne es gesagt hatte, verriet die Absicht; aber worauf und auf wen zielte sie? Im ersten Moment meinte Marie: auf sie und ihre Empfindungen für Ralph; im nächsten war sie sich klar, daß dies unmöglich sei, und Anne nur sich selbst im Sinn gehabt haben könne.

Ich halte Sie für unfähig, einen Mann zu heiraten, den Sie nicht lieben, erwiderte sie.

Auch nicht, wenn es das einzige Mittel wäre, mich vor mir selbst zu retten?

Ich verstehe Sie nicht, entgegnete Marie verwirrt.

Wohl möglich. Verstehe ich mich doch selbst manchmal nicht, und heute – heute nun schon gar nicht. Es ist mir heute etwas so Sonderbares begegnet, etwas, das mir noch nie geschehen ist und mich ganz aus der Fassung gebracht hat. Ich sagte es Ihnen ja schon. Und nun bitte ich Sie um eines: seien Sie, bleiben Sie meine Freundin! Nie im Leben habe ich jemand gefunden, nach dessen Freundschaft mich so heiß verlangt hätte, als nach der Ihren. Wollen Sie?

Sie hatte sich zu Marie gewandt und mit beiden Händen die Linke derselben ergriffen. Die großen dunklen Augen, welche starr auf sie gerichtet waren, glänzten von Zärtlichkeit und zugleich zuckte in der feuchten Tiefe eine Angst, die Marie erschreckte.

Ich will es von ganzem Herzen; erwiderte sie, ihre rechte Hand zur linken fügend.

Anne hatte, sich herabbeugend, Maries beide Hände, die sie jetzt in den ihren hielt, an ihre Lippen gezogen und wiederholt geküßt. In demselben Augenblick hielt der Wagen vor dem Iliciusschen Hause. Die Geheimrätin stand am Fenster. Marie, die schnell emporgeblickt hatte, konnte nicht zweifeln, daß Annes leidenschaftliches Thun von der Mutter beobachtet worden war.

Auf Wiedersehen, liebe Anne!

Auf baldiges Wiedersehen, liebe, liebste Marie!

Anne lehnte sich, ohne nach den Fenstern oben aufzuschauen, in die Kissen zurück. Marie schlüpfte ins Haus.


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