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Achtes Kapitel.

Sie, in der Thür, sah es sehr deutlich: den offenen Wagen, in welchem der kaiserliche Greis lag, mit Blut überströmt, ein Toter oder Sterbender, auf die Schulter des Jägers gelehnt, der den Gebieter mit beiden Armen umfaßt hielt. Der Wagen fuhr im Schritt. Zu beiden Seiten, hinterher drängten die Menschen, still, mit bleichen, schreckensstarren Gesichtern. Bleich, mit schreckensstarren Gesichtern standen die Entgegenkommenden, die das Ungeheure, das sich plötzlich ihren Augen bot, nicht fassen konnten, und schlossen sich dem Zuge an, der sich langsam nach rechts – nach der Seite des kaiserlichen Palais – bewegte. Doch waren der Menschen verhältnismäßig wenige: die That mußte ganz in der Nähe geschehen sein. Wer sie gethan, es war ihr nicht einen Augenblick zweifelhaft.

Das also war's! Darum hatte er nichts gesagt. Er hätte ihr das nicht sagen dürfen. Sie würde ihn beschworen haben, das nicht zu thun. Alles, nur nicht das!

Nun war's geschehen. Nun hatte sie's gesehen mit ihren eigenen Augen das Ungeheure, worüber er schweigend gebrütet, und wofür er nun das eigene Leben lassen mußte. An helllichtem Tage auf offener Straße! Da gab es für den Thäter kein Entrinnen. Man mußte ihn ergriffen haben, wie man neulich den Hödel ergriffen und fast zerrissen hatte. Er, an dessen Herzen sie gelegen, zerrissen vom wütenden Pöbel!

Sie hatte, während das alles blitzschnell durch ihre Seele zuckte, noch immer nach rechts dem kaiserlichen Wagen nachgeschaut, den jetzt die dichter zusammenströmende Menge verdeckte. Nun nach links die Linden hinabblickend, sieht sie in nicht allzugroßer Entfernung, wie das Volk vor einem Hause auf derselben Seite der Straße zusammenläuft. Da muß es geschehen sein. Er hat sich in das Haus geflüchtet. Nein! Das war unmöglich: er fliehen vor den Folgen seiner That! So hat er es von jenem Hause aus gethan!

In demselben Momente ist ihr auch klar: warum aus einem Hause, aus einem verschlossenen Zimmer heraus: um seinen Verfolgern nicht lebend in die Hände zu fallen.

Da, aus dem Fenster hat der Mordhund geschossen! Da, aus dem im zweiten Stock!

Sie starrt mit den andern im Gedränge zu dem Fenster hinauf. Sie weiß nicht, wie sie aus dem Laden, wo sie noch eben war, auf die Straße, in das Gedränge, vor das Haus gekommen ist. In dem Portal kämpfen ein paar Schutzleute mit der wütenden Menge, die in das Haus will. Andere Schutzleute eilen herbei. Die Menge wird von dem Haufe zurückgedrängt von dem Trottoir über den Fahrdamm bis auf den breiten Promenadenweg in der Mitte. Man will es sich jetzt gefallen lassen. Aber wenn sie hernach den Hund herunterbringen, dann schlagen wir ihn doch tot! Daran sollen uns die Schutzleute nicht hindern!

Sie werden ihn auch so herunterbringen! sagt ein vierschrötiger Kerl höhnisch. Der wird in der grünen Gondel nach dem Molkenmarkt geholt. Da kommen sie schon!

Ein großer Wagen, wie der Wagen einer wandernden Menagerie anzusehen, kommt, was die Pferde laufen können, die Straße herauf; berittene Schutzleute sprengen nebenher. Der Wagen, kaum ein wenig langsamer fahrend, biegt in das weit geöffnete Portal; der Fuhrmann auf dem hohen Bock stößt mit dem Kopfe gegen das obere Sims des Portals und bricht mit zerschmettertem Schädel zusammen. Die Zügel entfallen seinen Händen. Der Wagen steht. Schutzleute klettern hinauf und heben den Mann herab, dessen Glieder, wie die einer Puppe, durcheinander schlottern. Ein paar Weiber jammern still; andre heulen laut auf bei dem entsetzlichen Anblick, der die Aufregung der Menschen ins Maßlose steigert. Sie stürzen über den Straßendamm wieder gegen das Haus: vielleicht gelingt es, in der Verwirrung, die entstanden ist, mit dem Wagen zugleich hinein zu kommen. Von neuem und wütender als vorher beginnt der Kampf um das Portal. Die Menge ist jetzt gewachsen; doch auch der Schutzleute sind mehr; abermals werden die Stürmenden zurückgedrängt; der Wagen verschwindet im Portal, das geschlossen wird.

Eine Pause in dem furchtbaren Drama entsteht. Was geschieht da drinnen? Da oben?

Sie sprechen durcheinander von Protokoll aufnehmen, Nationale feststellen, vom Kriminalkommissarius, der mit dem Wagen – in dem Wagen gekommen ist.

Einer tritt in den Kreis und ruft: das ist nun alles zu spät. Der Mensch ist schon tot!

Man umdrängt den Mann; es scheint, daß er dabei gewesen ist, als die Ersten in das Zimmer drangen, dessen Thür sie einschlagen mußten: ein paar Offiziere und Schutzleute; mehrere vom Civil. Er hat erst noch zwei totgeschossen und dann sich selbst.

Umgekehrt! schreit der vierschrötige Kerl mit höhnischem Lachen: erst sich selbst und dann die andern!

Das ist auch so ein Mordhund! ruft's aus der dichtgescharten Menge. Der muß mit nach dem Molkenmarkt!

Sie stürzen sich auf den Kerl, der sich tapfer wehrt. Eine grimmige Balgerei entsteht. Schutzleute kommen dazwischen, packen den Menschen und führen ihn fort.

Da wird das Portal wieder geöffnet; die stampfenden Pferde werden sichtbar; nun rollt der Wagen heraus: das Signal, auf das die Menge so lange gewartet. In hellem Haufen stürzt sie vorwärts. Sie fällt den Pferden in die Zügel, sie packt die Räder; der schwere hölzerne Kasten schwankt hin und her wie ein Rohr im Winde. Der Kutscher peitscht auf die Pferde; die bäumen sich und ziehen im Sprunge an. Die Wütenden müssen loslassen, – nur für einen Moment. Im nächsten haben wieder vierzig Fäuste in die Speichen gegriffen; die Räder drehen sich nicht mehr. Der Wagen, der nur noch fortgeschleift wird, neigt sich und droht umzuschlagen. Die Schutzleute haben blank gezogen und hauen auf die Rasenden ein. Ein entsetzliches Chaos, aus dem sich nun doch der Wagen löst und von den zur äußersten Eile angetriebenen, schnaubenden Pferden davongewirbelt wird. Ein Schwarm reitender Schutzleute galoppiert voraus, nebenher. Heulend, pfeifend, gellend stürzt die Menge, die sich ihre Beute entrissen sieht, hinterdrein.

Wie die Grauenbilder eines Traumes war das alles an den starren Augen der Unseligen vorüber gegangen; ja, als sie jetzt an dem Tiergarten dahinfuhr, hätte sie auf Augenblicke glauben mögen, es sei wirklich nur ein Traum gewesen. Da blaute der Himmel hell herab auf die Bäume, die regungslos den Nachmittagssonnenschein tranken; da promenierten die Menschen, fröhlich plaudernd, ohne Ahnung des blutigen Dramas, das sich soeben ein paar hundert Schritte von ihnen in der Stadt abgespielt hatte. Einige schauten verwundert nach dem Kutscher, der, halb umgewandt, so eifrig auf seinen Fahrgast einsprach. Er war dem Fräulein, als es den Laden verließ und die Linden hinabeilte, gefolgt; hatte während der ganzen Zeit in ihrer Nähe gehalten und von seinem Sitz über die Köpfe der Menschen weg alles vortrefflich gesehen, was er nun in großer Aufregung, zu seiner eigenen Erbauung haarklein rekapitulierte.

Anne hörte kein Wort von dem, was der Mann so eifrig sprach; ein Kanonenschuß, neben ihr abgefeuert, würde sie nicht aus ihrem Brüten gerissen haben. Das also war's! Wie anders hatte sie sich's gedacht: eine ungeheure Revolution, in der brütenden Stille der gährenden Gemüter Tausender und Abertausender klüglich genährt, geschürt von den Lenkern und Leitern, deren Oberster er war. Und nun hervorbrechend an hundert Stellen der Stadt zugleich, wie Glut und Lava eines flammenden Vulkans, alles verzehrend, alles verschlingend, was ihnen Widerstand bieten will. Er hatte es anders gemeint. Er hatte den morschen, vom Schweiß und Blut der Armen und Elenden mühsam zusammengekitteten Körper der Gesellschaft in seinem Haupte treffen wollen. Der dann von selbst zusammenbrechen mußte, auf daß sich aus seinen Trümmern und seiner Asche, phönixgleich, ein neues freies Volk erhob. Entsetzliche Täuschung! Statt der Befreiten, Jubelnden: heulende Weiber, wutschnaubende Männer, die ihn zerreißen wollten, zerrissen haben würden, wäre er in ihre Hände gefallen: der Tote! Der für einen Irrtum gestorben war! Ein Tropfen von dem Blut des dahingeschlachteten kaiserlichen Greises würde schwerer wiegen als sein zerfetzter Leichnam: das blutüberströmte Opfer, das er nun in sich selbst seiner Idee dargebracht. Und der Kluge hatte es nicht vorausbedacht! Oder er hatte es und bei sich beschlossen: dennoch muß es gebracht werden. Es gibt kein andres Mittel, das Volk aus seiner Dumpfheit aufzurütteln. Scheint es auch nur ein einzelner Knall, der in der Oede kläglich verpufft – die Oede hat ihn nicht verschlungen. Ueber Jahr und Tag – eine kurze Spanne Zeit in dem Leben der Völker – wird er zurückkehren mit dem Donner der stürzenden Lawine, die sein letztes Verzittern von den eisigen Firnen gelöst hat.

Und wäre es nicht, und bliebe alles stumm, wenn die Flüche über seinem Grabe verhallt sind – du hast kein Recht, ihm zu zürnen. Der Königsmörder, der Unmensch – dir muß er groß und heilig bleiben. Wie lange, da du ihm nachzueilen entschlossen bist! Wohin? In das gähnende Nichts, das der Tod ist. Für dich auch das Leben ist, aus dem er geschieden – weniger, schlimmer tausendmal schlimmer als nichts in dem Jammer um sein mühlos vergossenes Blut, das du rächen könntest, wenn glühende Wünsche Thaten wären.

Und ihm nun doch ein Rächer erwüchse?

Ihr war, als ob ihr das Herz still stände in der Brust. Darum hatte es sein müssen! Die Liebe hatte gemeint, es sei nur sie, die da allmächtig walte – ein finsterer Genius hatte die Hochzeitsfackel geschwungen. Und nun schlug das Herz hoch auf, als wollte es ihr die Brust zersprengen. Wenn das wäre! ihr dies ungeheure Glück würde in dem ungeheuren Leid – ja, dann mußte sie weiter leben, dann wollte sie gern weiter leben! Dann würde diesem Grauentag ein andrer folgen voll eitel Licht und Glanz, da das Volk, das heute: Kreuzige! schrie, Hosianna rufen würde, Hosianna dem Sohne des Märtyrers! dem Befreier, dem Erretter!

Der Wagen hielt. Sie schaute verwundert auf. Wie war sie hierher gekommen? Was sollte sie in diesem Hause, an dem sie emporstarrte, als hätte sie es nie gesehen? Dann war sie doch ausgestiegen. Der Kutscher, der vom Bock herabgesprungen war, ihr den Schlag zu öffnen, blickte stolz, daß er, ohne bestimmte Weisung, seine Dame dahin zurückgefahren, von wo er sie vor drei Stunden abgeholt hatte. Anne faßte in die Tasche, in der sie loses Gold hatte, und gab dem Manne, was ihr in die Hand gekommen war. Er erschrak – es war sein Fahrgeld hundertmal, – und stotterte etwas von Versehen, das der gnädigen Dame passiert sei. Sie hörte nicht hin und schritt auf die Hausthür zu. Der Kutscher stand ratlos; dann öffnete er entschlossen seine Tasche und ließ das Geld hineinfallen: es gab also wirklich Prinzessinnen, die Droschke fuhren! Aber die schöne Reitpeitsche konnte er nicht dazu behalten. Er nahm sie schnell vom Sitz und trug sie der Dame nach, die schon im Hausflur war, und, die Peitsche entgegennehmend, ein fremdländisches Wort murmelte, das wohl soviel, wie: danke! heißen sollte. Er stand noch ein paar Augenblicke und sah die Dame die ersten Stufen der Treppe hinaufsteigen, ohne daß sie sich umgedreht und ihm das Geld wieder abgefordert hätte. Kopfschüttelnd setzte er seinen Hut auf, machte, daß er zu seinem Wagen zurückkam und fuhr in scharfem Trabe davon.

Sie stieg die Treppe weiter hinauf vorüber an zwei Herren, die ihr entgegenkamen und, in eifrigem Gespräche ihr kaum auswichen. Wer hätte das gedacht! rief der eine. – Ich! rief der andre; ich hab's immer gesagt: dem Schuft ist nicht zu trauen. – Und sind doch so schmählich auf ihn reingefallen! rief der erste.

Die beiden stürmten die Treppe hinab. Sie hatte den oberen Treppenflur erreicht. Aus dem Arbeitskabinett, dessen Thür weit offen stand, erschallte eine dritte Stimme in lauten wütenden Worten. Ein Herr mit einem zornroten Gesicht, den Hut auf dem Kopfe, kam aus dem Kabinett und stürmte den andern nach, deren Stimmen noch von dem unteren Flur laut genug hörbar waren. Der arme Smith, der nun all die Schande auf sich nehmen sollte, an der seine reine Seele keinen Teil hatte! Sie war dem Guten ein gutes Wort schuldig; dazu das Geld, das sie in der Tasche trug, und das dem großen Zweck, für das sie es zusammengerafft, nun nicht mehr dienen konnte.

So trat sie in die offene Thür und sah, wovon sie zuerst glaubte, daß es ein Trugbild sei, ihr vorgegaukelt von den verstörten Sinnen – ein abscheuliches, aberwitziges. Bis sie innewurde, daß er es leibhaftig sei, der eben die starke Klinge des Einschlagmessers, das er beständig bei sich führte, unter die Platte des Stehpults zwängte, in welches der Vater das Geld für die laufenden Ausgaben, manchmal auch wohl größere Summen zu verschließen pflegte. Krachend sprang die Platte auf. Er wühlte in den Papieren, die der Kasten enthielt; nahm auch einige heraus, in die er einen flüchtigen Blick warf und dann, als wertlos, hinter sich schleuderte. Er fand nicht, wonach er suchte. Der verschlossene Pult war leer, wie die herausgezogenen Kasten des großen Schreibtisches, wie der weit offen stehende eiserne Geldschrank. Fluchend schmetterte er die Platte wieder zu und blickte, sich wendend, in ein totbleiches Gesicht, aus dem ihn die schwarzen Augen mit einem furchtbaren Ausdruck anstierten. Er prallte zurück. Dann aber schäumte die Wut wieder in ihm auf, die ihn erfaßt hatte, als er, dem Herbert vor einer halben Stunde die Thür gewiesen, hierher kam, das Nest leer und auf dem Schreibtisch ein Billet an ihn zu finden, in welchem der Durchgegangene sich mit cynischem Humor über den gefoppten armen deutschen Teufel lustig machte.

Er lachte höhnisch auf.

Zum Henker nun die Faxen! schrie er auf sie ein; zum Henker die großen Redensarten und tragischen Grimassen! Dein Vater ist über alle Berge. Hier in dem Wisch schreibt er's mir, und ich möchte mich mit Dir an der nächsten Straßenlaterne verheiraten! Verflucht die Stunde, wo ich mich mit euch eingelassen habe, amerikanisches Gaunerpack! Mit Dir eingelassen habe, Du –

Er kam nicht weiter. Mit dem Stiel ihrer Peitsche hatte sie ihn über das Gesicht geschlagen. Und noch einmal schlug sie ihn. Das Messer, das er auf sie gezückt hatte, entglitt seiner Hand und fiel klirrend auf den Boden. Geblendet, vor Schmerz heulend wie ein Tier, taumelnd, stieß er hart an die Kante des Schreibtisches; verlor das Gleichgewicht und brach ohnmächtig zusammen.

Sie warf die entehrte Peitsche auf den Elenden und ging ruhigen Schrittes aus dem Zimmer über den großen Treppenflur in den Korridor, der links zu Ralphs, rechts zu ihren eigenen Gemächern führte. Ein paar Momente stand sie sinnend; dann wandte sie sich links, den Korridor hinabschreitend, bis sie an die Thür von Ralphs Wohnzimmer gelangte, an der sie lauschend stehen blieb. Drinnen regte sich nichts; sie mochten alle in dem daranstoßenden Zimmer sein. Leise trat sie ein; das Zimmer war leer; die Thür nach dem Zimmer des Kranken stand offen.

Dem Zimmer des Toten.

In dem Bett, an der Wand, der Thür gegenüber sah sie ihn, das marmorweiße Antlitz mit den wundersam verklärten Zügen nach ihr gerichtet, welche die geschlossenen Augen nun nicht mehr sahen: der Knieenden, die ihr Gesicht auf die geliebte erkaltete Hand drückte. Mitten in dem Zimmer lehnte Smith sich auf Doktor Brunns starke Schulter, der dem leise Weinenden leise zusprach.

Sie hatte gesehen, was sie mit einer Zuversicht erfüllte, wie den Klimmenden der Ruf des voranschreitenden Genossen, der die steile Höhe erreicht hat. Unbemerkt, wie sie gekommen, ging sie wieder auf den Korridor, drei Thüren weiter, bis zu Smiths Zimmer. Sie trat an den Schreibtisch, nahm das Geldpacket aus der Tasche und schrieb darauf: »Meinem lieben Smith, für ihn und seine süße Tochter. Mögen alle guten Engel bei Euch sein immerdar!«

Dann war sie in ihrem eigenen Zimmer. Sollte sie hinter sich abschließen? Wozu? In einer Viertelminute würde es geschehen sein. Gefunden mußte sie ja doch werden. Weshalb denen, die sie zu suchen kamen, noch erst die Mühe machen, die Thür aufzubrechen?


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