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In dem Vorzimmer kam ihnen Smith entgegen. Der Anfall sei ein andrer, als die sonst von ihm beobachteten; das habe ihn so besorgt gemacht. Eben sei Doktor Brunn, nach dem er sofort geschickt, bei Ralph. Doktor Brunn nehme offenbar die Sache sehr ernst; er habe gleich nach der ersten Minute gesagt: es müsse jemand, der sich auf Krankenpflege gründlich verstehe, bei Ralph wachen; er glaube aber kaum, daß sich jetzt mitten in der Nacht jemand werde auftreiben lassen. Ob er gestern abend recht gehört, daß Marie als Gast im Hause sei? Wenn das der Fall, möchte er unmaßgeblich vorschlagen, Marie rufen zu lassen.
So habe ich Dich rufen lassen; schloß Smith seinen kurzen Bericht.
Das ist recht, Smith, sagte Anne. Wir haben nur zu lange Blindekuh miteinander gespielt. Ich lege mich jetzt zu Bett. Wenn Ihr mich nötig haben solltet, was ich nicht glaube, ruft mich! Sonst erfahre ich von Marie morgen früh, wie es hier steht. Gute Nacht denn!
Sie reichte Smith die Hand und sagte mit melancholischem Lächeln:
Ja, ja, mein Freund, wir erleben seltsame Dinge auf unsere alten Tage. Da ich nun Ihre Geheimnisse kenne, verlange ich nicht, daß Sie thuen, als ob Sie nicht schon längst ahnten, wie es um mich steht. Gute Nacht!
Sie war gegangen; Smith blickte ihr traurig nach, strich sich das Haar aus der Stirn und sagte, sich zu Marie wendend:
Ich habe es längst geahnt. Das unglückliche Kind! Nun ist es zu spät. Und mein armer Ralph! Aber es dünkte mich so süß, daß Ihr Euch finden solltet ohne mich. Man hofft ja, was man wünscht. Ich hoffte, auch Du liebtest meinen armen Jungen; und es würden wenige Minuten Beisammenseins zu Eurer Verständigung genügen – heute nachmittag! Ich ließ Euch deshalb allein, und nun hast Du ihn so grausam zurückgewiesen. Nicht grausam! Wie konntest Du anders, wenn Du ihn nicht liebtest!
Dies sind noch immer Mißverständnisse, Vater, erwiderte Marie hastig. Ich habe Ralph gar nicht verstanden; habe gemeint, er spreche von Ada. Ich würde auch Dich jetzt noch nicht verstanden haben, hätte Anne mir nicht – eben erst – gesagt, was ich kaum glauben kann, trotzdem Du es bestätigst – zu bestätigen scheinst.
Smith blickte freudig erschrocken auf.
So wäre noch immer eine Möglichkeit.
Marie umschlang den Zitternden und flüsterte ihm zu:
Ja, ja! ich liebe ihn – von ganzem Herzen liebe ich ihn.
Gelobt sei Gott! gelobt sei Gott! Dann kann auch noch alles gut werden, murmelte Smith, die Tochter an sich pressend: mein geliebtes, geliebtes Kind! Ihr geliebten Beiden!
Und er weiß auch noch nicht einmal, daß ich Dein Kind bin? fragte Marie, sich sanft aus den Armen des Vaters losmachend.
Doch, doch! erwiderte Smith. Ich habe es ihm gesagt, als er von der Gesellschaft wiederkam, so traurig, so krank. Ich meinte, das sei die geringste Sühne für mein thörichtes Zaudern und Zagen.
Und wie nahm er es?
Smith fuhr sich über die Augen:
Er hatte darauf nur ein Wort: es wäre zu viel des Glücks gewesen.
Doktor Brunn trat aus dem Krankenzimmer und winkte Smith:
Bitte, gehen Sie zu ihm! Es ist für den Augenblick nichts zu thun. Ich möchte noch ein paar Worte mit Fräulein von Alden sprechen.
Smith war in das andre Zimmer gegangen; Doktor Brunn nahm Maries Hand und führte sie nach dem Sofa:
Setzen wir uns einen Augenblick, liebes Fräulein! Ich gratuliere mir, daß ich Sie so richtig taxiert habe. Ich kenne keine zweite Dame, an welche ich diese Anforderung zu stellen gewagt hätte. Ich hätte heute abend nicht gedacht, daß unsrem theoretischen Gespräch so bald der Ernst der Praxis folgen werde. Der Fall ist sehr ernst. Ich hatte den Professor vorgestern in einen leidlichen Zustand verlassen, trotz der hochgradigen nervösen Erregung, in der er sich befand, und die ich auf Rechnung einer gewissen seelischen Affektion setzte, deren Ursache ich zu kennen glaubte, wie mir denn auch die Richtigkeit meiner Vermutung durch unsren guten Smith bestätigt wurde. Sie, die Schwester, wissen, daß ich von Fräulein Ada spreche. Smith wollte wissen, es werde die gespannte Situation durch ein Wort glücklich gelöst werden. Dies Wort scheint heute abend gefallen zu sein in dem unsern Wünschen entgegengesetzten Sinn. Sie werden es dem Arzte nicht als Indiskretion auslegen, wenn er Sie bittet, ihm zu sagen, ob seine Annahme richtig ist?
Ja und nein, erwiderte Marie nach kurzem Zögern; es hat eine Entscheidung stattgefunden, die aber insofern keine ist, als sie auf einem traurigen Mißverständnisse beruht. Ich hoffe zuversichtlich, dies Mißverständnis wird gelöst werden.
Wieder nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:
Ich selbst glaube in der Lage zu sein, es lösen zu können.
Dann machen Sie davon den schleunigsten Gebrauch! sagte der Arzt rasch. Jede Minute, die unser Kranker weiter in das trostlose Meer seiner Verzweiflung hinausgetrieben wird, ist verhängnisvoll für ihn – kann für ihn verhängnisvoll werden. Ein Unglück kommt selten allein. Der Stoß, den sein Herz heute abend erlitten hat, war heute nachmittag auf eine geradezu dämonische Weise vorbereitet. Er ist heute nachmittag bei dem scharfen Ostwind, den wir haben, längere Zeit unten im Garten gewesen – in seinem Zustande, nach einer wochenlangen Stubenklausur ein kompletter Wahnsinn. Ich begreife nicht, wie der sonst so verständige Smith es hat zulassen können. Der akute Gelenkrheumatismus steckte ihm ja in den Gliedern! Was habe ich nicht gesagt, vor der Gefahr, welche die leichteste Erkältung bringen könnte, zu warnen! Nun haben wir den Gelenkrheumatismus in einer so ausgebildeten Form – man könnte es einen Schulfall nennen. Dazu die Wahrscheinlichkeit – ich muß leider sagen: bereits die ersten Symptome einer heftigen Perikarditis – soweit meine Diagnose heute geht: am Saum der mitralis: die subjektiven Symptome sind freilich so unbestimmt, daß ein Irrtum nicht ausgeschlossen ist. Ich glaube meiner Sache gewiß zu sein, werde aber trotzdem morgen früh einen Kollegen mitbringen, der eine Autorität in diesem Falle ist. Bestätigt sich meine Prognose, so glaube ich Ihnen die traurige Wahrheit schuldig zu sein, daß unser Patient in großer Gefahr schwebt. Sein Organismus ist zu erschüttert, einen sehr harten Stoß, wie er ihm jetzt droht, sicher aushalten zu können. Deshalb noch einmal: sind Sie wirklich in der Lage, als Trostbringerin zu ihm zu kommen, nehmen Sie die erste Gelegenheit wahr! Es ist nicht zu berechnen, welche günstige Wirkung eine freudige Erregung auf die physische Basis hat. – Da sind die Medikamente!
Die Austin war hereingekommen mit einer kleinen Kollektion von Fläschchen und Packetchen, die sie schweigend auf den Tisch neben der Lampe hinlegte, um sich gleich wieder zu entfernen. Doktor Brunn ordnete die Sachen, indem er dabei sagte:
Die alte Person ist mißgünstig, daß ich ihr die Pflege nicht anvertraue. Ich kann's nicht. Ich habe sie vorhin beobachtet: sie hat Hände so hart, wie ihre Augen, und ungefügig, wie ihr Sinn. Der echte amerikanische Dienstbote, der nur seinen Kontrakt erfüllt, und wenn er, wie diese, schon Wärterin des Kindes gewesen ist! Also hier zuerst Salicyl – Sie sehen, ich habe eine große Dosis genommen – weniger würde nicht helfen. Für die örtliche Behandlung – es handelt sich vorläufig um das linke Kniegelenk ganz speziell, dann aber auch um das linke Ellbogen- und ebenso Schultergelenk – flüchtiges Liniment mit einem starken Zusatz von Chloroform – Umwicklung mit Watte selbstverständlich – genau so, wie bei meiner Patientin, die Sie im Augusta-Hospital so musterhaft verpflegt haben. Hoffen wir trotz alledem, daß unser Fall diesmal glücklicher verlaufen wird! Ich komme noch einmal mit Ihnen hinein – nur für einen Augenblick: der Zustand kann sich inzwischen nicht verändert haben. Aber werden Sie imstande sein, die Nacht durchzuhalten? Verzeihen Sie, daß ich die Frage erst jetzt thue!
Rechnen Sie sicher auf mich! sagte Marie.
Der Arzt drückte ihr die Hand. Marie nahm die Medizinsachen. Er ging voran, Marie folgte ihm auf leisen Sohlen. Sie traten in das Gemach des Kranken.
Smith, der am Bett gesessen hatte, kam ihnen entgegen.
Haben Sie ihn vorbereitet? fragte der Arzt mit einem Wink der Augen nach Marie.
Smith schüttelte den Kopf. Der Arzt runzelte die Stirn und setzte sich an das Bett, dem Kranken, der mit geschlossenen Augen dalag, den Puls befühlend.
Haben die Schmerzen zugenommen?
Ralph schüttelte den Kopf und stöhnte leise.
Vermeiden Sie jede, auch die leichteste unnötige Bewegung! sagte Doktor Brunn. Ich habe Ihnen hier eine Pflegerin gebracht, auf die Sie sich in jeder Beziehung verlassen dürfen. Ich hätte Ihnen keine bessere schaffen können: Fräulein von Alden.
Der Kranke riß die Augen auf und starrte Marie, die nun neben dem Arzt stand, wie eine Geistererscheinung an.
Sie dürfen Fräulein von Alden nicht wie eine andre junge Dame betrachten, sagte Doktor Brunn mit sanftem Zuspruch. Sie weiß, was Krankheit heißt. Sie ist eine geborene und erprobte Pflegerin, die Ihnen nur Gutes bringen kann: leiblich und seelisch.
Aus der Brust des Mannes, der von leiblichen und seelischen Schmerzen zugleich gefoltert war, kam ein leises, unheimliches Lachen, das in ein Wimmern überging. Und nun schluchzte er krampfhaft, das gewaltsam aufsteigende Weinen zu unterdrücken.
Marie konnte es nicht länger ertragen. In der Allgewalt des Momentes die Gegenwart des Arztes für nichts achtend, beugte sie sich über den Kranken und küßte ihn auf die Stirn.
Sie richtete sich empor. Ralph lag da, wie vorhin, regungslos mit weitgeöffneten, auf Marie gehefteten Augen, die aber jetzt, nicht, wie vorher, mit starrem Entsetzen, sondern von einem schier überirdischen Glanz von Seligkeit gefüllt waren.
Der Arzt ließ den erstaunten, fast erschrockenen Blick von dem Kranken zu Marie, von Marie zu Smith und wieder auf den Kranken gleiten.
Ah! murmelte er.
Er berührte sanft Ralphs auf der Bettdecke ausgestreckte Rechte, nickte Smith zu, der seitwärts, gesenkten Hauptes, in dem Anblick der beiden geliebten Kinder verloren, stand, und nahm Maries beide Hände mit einem herzlichen Druck.
Gott segne Sie! sagte er leise.
Dann hatte er das Krankenzimmer verlassen.