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Wohin? fragte Anne nach der ersten Begrüßung.
Das hoffte ich von Ihnen zu erfahren.
In den Park! rief Anne dem Diener auf dem Bocke zu, der, mit der Hand an dem Hut, sich nach den Damen gewendet hatte.
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Das Rasseln auf dem unebenen Pflaster war für die Unterhaltung nicht günstig – eine Wohlthat für Marie. So fand sie doch, da auch das schöne Mädchen an ihrer Seite keinen Versuch machte, die nach ein paar Absätzen hinüber und herüber abgebrochene Konversation wieder aufzunehmen, einige Minuten mehr, die Erregung, welche von dem Gespräche mit der Mutter in ihr nachzitterte, womöglich ganz zu überkommen.
Die Straße war zu Ende. Der Wagen bog in die Lichtensteiner Allee, dann links ab nach dem Neuen See. Links neben der Fahrstraße lief der Promenadenweg. Anne zog die Füße, welche sie auf den Rücksitz gesetzt hatte, herab und sagte:
Was meinen Sie, wenn wir ein wenig gingen?
Marie war es zufrieden. Die Damen stiegen aus; der Kutscher erhielt den Befehl, langsam weiter zu fahren und da, wo der Parkweg auf die Charlottenburger Chaussee mündet, zu halten. Marie sprach ihr Erstaunen darüber aus, daß Anne diese Weisungen mit solcher Bestimmtheit geben konnte.
Ich bin Jägerin, sagte Anne; einen Weg, den ich auch nur einmal gemacht habe, würde ich nach Jahren wiederfinden; und diesen habe ich schon ein halbes Dutzend mal zurückgelegt.
Der Tag war wunderschön. Von einem wolkenlosen blauen Himmel schien die hellste Sonne, die stille Atmosphäre mild durchwärmend. Die großen Bäume entbehrten noch der Blätter, aber viele der kleineren und die Büsche hatten sich schon mit saftig hellem Grün geschmückt; auf dem Waldboden sproßte es kräftig aus dem Laub des vorigen Jahres. Der Fußpfad war völlig abgetrocknet und doch elastisch, als ob Springfedern darin verborgen wären, so recht der Boden, meinte Marie, für das entzückende Wesen neben ihr, dessen Gang, dessen jede Bewegung die Anmut selber schien.
Sie sah Anne heute zum erstenmal im Lichte des Tages, und fand den Eindruck, den ihre Schönheit gestern abend auf sie gemacht hatte, nur erhöht. Auch das wundervolle Ebenmaß der Gestalt war ihr gestern im Ballkleide nicht so aufgefallen wie heute in dem eleganten Promenadenkostüm, das, modisch eng anschließend, die zierlichen und doch satten Formen schärfer hervortreten ließ.
Während Marie sich so in eine neidlose Bewunderung versenkte, welche sie die Sorgen, mit denen sie sich trug, für den Moment fast vergessen machte, war das schöne Mädchen an ihrer Seite still dahingeschritten, die Augen kaum einmal vom Boden hebend, flüchtig nach einem Finken aufzublicken, der in dem Baum über ihr seinen kurzen Sang in den hellen Tag hineinschmetterte. Einmal blieb sie stehen und schaute eine Weile sinnend über den See hin, dessen von einem leisen Windhauch hier und da bewegte Fläche, links neben ihnen aufgeblitzt war. Marie glaubte zu bemerken, daß ein gewisser Zug von schwermutsvollem Ernst, der vom ersten Moment an auf dem Gesicht Annes gelegen, inzwischen noch deutlicher sich ausgeprägt hatte. Sie findet Dich langweilig und mit Recht, sagte sie bei sich; aber warum ist sie da selber stumm? Sie war doch gestern abend so anmutig gesprächig!
Wie ist Ihnen der gestrige Abend bekommen, Fräulein Curtis? fragte sie.
Bitte, nennen Sie mich nicht Fräulein und Curtis! Sagen Sie: Anne! und erlauben Sie, daß ich Sie Marie nenne! Wollen Sie?
Von Herzen gern; erwiderte Marie.
Danke! Wie mir der Abend gestern bekommen ist? Gut. Wie sollte es anders? Mir bekommt alles gut; umgekehrt, wie meinem Bruder, dem so ziemlich alles schlecht bekommt.
Auch der gestrige Abend?
Auch der. Ich bin sehr bös auf ihn.
Ich sollte meinen, da wäre Mitleid besser an der Stelle.
Wenn mir jemand den Tag verdirbt, habe ich Mitleid mit mir und bin ihm bös. Ralph hat mir diesen Tag verdorben. Ich kann Sie heute nicht mehr bitten, uns den Tag zu schenken. Ralph ist krank, muß auf seinem Zimmer bleiben. Wenn er nicht erscheint, erscheint auch Mister Smith nicht oder, wenn er erscheint, spricht er nicht, und dann ist unser Mittagstisch zum Sterben langweilig. Der Vater redet nur von Geschäften, die Mama nur von Kleidermoden – das kann ich keinem Menschen zumuten. Ihnen am wenigsten. – Vor Ihnen wollte ich Staat mit unsrer Häuslichkeit machen.
Das wäre nun wirklich recht unnötig für mich, erwiderte Marie. Aber, wie Sie wollen. So komme ich ein andermal.
Marie empfand es als eine Wohlthat, daß sie heute nicht kommen sollte. Wenn sie sich auch zugeschworen, sich nun und nimmer zu dem ihr zugemuteten Kupplerinnendienst herzugeben, blieb sie doch wenigstens heute von den Fragen verschont, mit denen die Mutter sie am Abend bei der Nachhausekunft bestürmt haben würde, und vor der Auseinandersetzung, die dann unvermeidlich war.
Ueber solchen Erwägungen hatte sie den Faden des Gespräches verloren; auch Anne war wieder verstummt. Immer am Rande des Sees hinschreitend, waren sie bis zu der ersten Brücke gelangt zwischen der größeren Fläche des Gewässers und dem schmaleren Arm, welcher sich von demselben nach der Charlottenburger Chaussee abzweigt. Anne hatte sich auf das Geländer gestützt und blickte nach einem Schwan, welcher kaum die beiden Gestalten auf der Brücke bemerkt hatte, als er, mit langen Strichen ausholend, eilig herangeschwommen kam. An der Brücke machte er Halt, wartete ein paar Sekunden, bemerkte, daß es vergeblich war, tauchte den Schnabel ein, als ob es sich nur um einen Schluck Wasser gehandelt habe, und kehrte um, langsamer fortrudernd als er gekommen war.
Sollte man nicht denken, sagte Anne, der Bursch habe es so eilig gehabt, um nicht den Anblick von zwei hübschen Mädchen zu versäumen, und hat doch nichts gewollt als ein Stück Brot. Sehen Sie, das ist das Bild unserer jungen Männer von heute. Wir glauben, nichts werde ihnen in der Liebe genügen als das Höchste. Das spricht so schön vom Ewig-Weiblichen und blickt nach oben, als ob ihnen das Ideal von den Sternen herabschweben müsse; und am Ende ist's nichts weiter als die liebe Sinnlichkeit, die nach Befriedigung lechzt.
Marie erschrak, aus diesem Munde diese Worte zu hören.
Wie um alles in der Welt kommen Sie darauf? sagte sie mit unsicherer Stimme.
Im Speziellen, erwiderte Anne, durch Ralph, der mich heute morgen schwer gekränkt und enttäuscht hat, indem er mir ein Geständnis machte – ein halbes wenigstens – bezüglich der Eindrücke von gestern abend – aus dem ich sah, daß es, trotz des Idealismus, den er affichiert, mit seinem Geschmack nicht besser bestellt ist als mit dem andrer Leute. Im allgemeinen durch ein sehr intimes Studium der andern jungen Leute, das uns amerikanischen Mädchen bei der fast schrankenlosen Freiheit des Verkehrs zwischen den beiden Geschlechtern leichter gemacht wird als Euren streng behüteten deutschen jungen Damen. Nun, und da habe ich denn gefunden, daß kaum ein Gerechter unter ihnen ist. Alle fand ich sie gleich sinnlich, egoistisch, habgierig, nur auf ihren Vorteil bedacht; unfähig, sich, ich meine: ihr kostbares Wohlleben, ihre stupide Behaglichkeit zu opfern. Nehmen Sie dazu, daß sie fast durchweg in der sträflichsten Weise unwissend und zum Erschrecken geistlos sind, in nichts stark als in platten Scherzen und Wortspielen, die sie für witzig halten, wenn sie mit uns, und in schlüpfrigen Geschichten und zweideutigen Anekdoten, wenn sie unter sich verkehren – so haben Sie das Bild unsrer amerikanischen jungen Herren.
Marie hatte auf die letzten Worte kaum noch gehört. Ralph war nicht besser als die andern – er hatte ein halbes Geständnis gemacht, welches ihn in den Augen der Schwester so tief herabsetzte – das konnte doch nur eine Bedeutung haben, konnte sich nur auf Ada beziehen! So hatte also die Mutter recht gesehen; der Unwille, mit welchem sie selbst die Mission der Mutter aufgenommen, war, in diesem Punkte wenigstens, sehr unbegründet gewesen. Es wurde dem Herrn Professor nichts dargeboten als wonach er selbst eifrig verlangte! Den idealen Schwan hungerte nur nach einem Stücke Brot! Da mochte sich ja auch der zweite Teil ihrer Aufgabe ebenso leicht erledigen!
Sie wandte sich zu Anne, die noch immer, beide Arme auf das Gitter gelehnt, in das Wasser starrte, und sagte:
Das ist in der That ein hartes Urteil. Ich fürchte, vor den Augen einer so strengen Richterin werden unsre jungen Männer nicht viel besser bestehen.
Besser? erwiderte Anne, ohne ihre Stellung zu verändern; besser? Ich darf mir wohl noch kein Urteil über sie erlauben, aber was ich bis jetzt von ihnen gesehen habe – nein: besser erscheinen sie mir nicht, eher schlechter – in einer Beziehung wenigstens, und auf die ich den höchsten Wert lege. Sie mögen gebildeter sein als unsre jungen Leute, mehr – viel mehr gelernt haben; aber sie haben keine Initiative, nicht den Mut, ihr Leben frei aus sich heraus zu gestalten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, sich für ihren Willen einen Weg zu bahnen. Sie können nichts als in Reih und Glied marschieren, sich auf Kommando schlagen und stehen ratlos, sobald die Kommandostimme schweigt. Den amerikanischen Offizier vom Secessionskrieg finden Sie heut in einer Schreiberstube, oder auf dem Jahrmarkt, wo er Stiefelwichse ausschreit; den Hinterwäldler, in dessen Blockhaus Sie vor ein paar Jahren geschlafen haben, auf einem Sitz im Weißen Hause, oder auf dem Präsidentenstuhl. Das sind Männer.
Deren es auch bei uns die Fülle gibt; rief Marie.
Ich habe noch keinen entdecken können – in euren Gesellschaften wenigstens nicht.
Sie hatte, sich vom Geländer aufrichtend, Maries Arm genommen. Die Damen machten so, schweigend, ein paar Schritte nach dem Fußpfade in der Richtung des Fahrweges bis zu einer Bank, welche hier auf einer kleinen vorspringenden Uferhöhe mit dem Ausblick über die Breite des Teiches stand.
Lassen Sie uns ein wenig sitzen, sagte Anne; ich bin müde.
Sie nahmen Platz. In dem sonnedurchglänzten frischen Laub über ihnen zwitscherten die Vögel; kein Mensch ließ sich sehen außer dem Diener, der sich in respektvoller Entfernung halbwegs zwischen dem Platze, wo seine Damen saßen, und dem Wagen auf dem Fahrwege hielt. Denn der Kutscher, als ein nachdenklicher Mann, war, als die Damen so lange ausblieben, wieder umgekehrt und ihnen bis zu diesem Punkte entgegengefahren.
Warum sehen Sie mich so eigen an? fragte Anne.
Thue ich das? erwiderte Marie. Es mag sein. Ich finde Sie heute so – so ganz anders wie gestern abend.
Da war ich liebenswürdiger?
Das will ich nicht sagen, aber jedenfalls heiterer, lebensfroher.
Mag sein. Es ist mir heute morgen so viel Sonderbares, Unerwartetes begegnet. Erst das mit Ralph, worauf ich gar nicht gefaßt war; dann –
Sie schwieg abermals und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms Figuren in den Sand. Plötzlich sagte sie:
Sie kennen einen gewissen Herrn Selk, den mein Vater seit einiger Zeit als Privatsekretär engagiert hat?
Ja.
Er hat früher viel in Ihrem Hause verkehrt?
Ja.
Können Sie mir nicht etwas Näheres über ihn sagen?
Maries Antwort kam nicht sogleich. Sollte sie Hartmut verleugnen, wie sie durfte und – nach dem sehr bestimmten Wunsche ihrer Familie – mußte? Aber die unschönen Geheimnisse, mit denen man sie belastet, hatten sie so bedrückt; die Intriguen, in welche, man sie einzuspinnen versucht, so angewidert – ihre Seele lechzte nach Offenheit, nach Wahrheit. Es mochte sehr unpolitisch sein, was sie da sagte; sie fühlte, daß sie es sagen müsse:
Hartmut Selk heißt mit seinem wahren Namen Ilicius und ist der Sohn meines Stiefvaters aus einer ersten Ehe.
You don't say so! rief Anne, in ihrer tiefen Ueberraschung englisch sprechend.
Und doch ist es nicht anders, erwiderte Marie.
Dann, bitte, sagen Sie mir alles! es interessiert mich sehr; ich muß das wissen!
Es ist keine erfreuliche Geschichte, entgegnete Marie; aber, nachdem ich so viel gesagt, kann ich mit dem Anderen nicht zurückhalten, schon um des jungen Mannes selbst willen, der, wollte ich schweigen, schuldiger erscheinen könnte, als er vielleicht in Wirklichkeit ist.
Und Marie erzählte jene traurigen Geschehnisse, welche aus der ersten Frau Ilicius eine Frau Selk machten, die sich im Kummer verzehrte um das, was sie verloren: einen von ihr angebeteten Gatten; um das was ihr geblieben: ihre drei Kinder, von denen ihr zwei dann auch entrissen wurden, und das dritte, älteste, weitaus begabteste: Hartmut, kein Trost für ihr Alter werden wollte, nachdem er als Knabe und in den ersten Jünglingsjahren auch hochgespannte Erwartungen hinter sich gelassen hatte. Denn niemand kam schneller durch die Klassen, niemand erntete mehr Lob und Schulpreise als er, der von den Lehrern als ein Phänomen an intellektuellen Fähigkeiten gepriesen und wegen der Feinheit seiner Manieren, der Freundlichkeit seiner Sitten auch außerhalb der Schule den andern jungen Leuten als ein Muster, dem sie nacheifern müßten, hingestellt wurde. Der Geheimrat hatte, wenngleich nach einigem Schwanken, sich eines Sohnes, den ein so guter, ja glänzender Ruf umgab, erinnern zu müssen geglaubt und den damals etwa Sechszehnjährigen, der bereits ein Jahr in der ersten Klasse des Gymnasiums saß, in sein Haus und halb und halb in seine andre Familie aufgenommen. Der Knabe blieb zwar bei der Mutter wohnen; aber er kam täglich, seinen jüngeren Halbbrüdern eine Nachhilfestunde zu erteilen; den Halbschwestern, die noch Kinder waren, ein allzeit williger Märchen- und Geschichtenerzähler und Arrangeur der amüsantesten Spiele. Auch ihr selbst, die mit ihm von beinahe gleichem Alter, oder doch nur um weniges jünger war, hatte er sich in guter Freundschaft gesellt, stets voll tröstlicher, kluger Worte, wenn er sie weinend fand über die Kälte, mit der sie von ihrer Mutter behandelt wurde; immer bereit, ihr für ihre Studien neue Wege zu weisen, bessere Hilfsmittel anzugeben. Da war es denn selbstverständlich gewesen, daß der Geheimrat, als Hartmut nun das letzte Schulexamen mit kaum je dagewesener Auszeichnung absolviert hatte, einem Jüngling, dessen Begabung und Fleiß nichts unerreichbar schien, und der doch schließlich sein Sohn war, nicht nur seine Studienzeit garantierte, sondern auch, bis er sich selbständig gemacht haben würde, eine auskömmliche Unterstützung zusagte.
Dies gute Einvernehmen schien während Hartmuts ersten Universitätsjahres – er hatte das juristische Studium gewählt – noch zu wachsen. Selbst die Geheimrätin, die anfänglich dem Jüngling gegenüber eine strenge Zurückhaltung beobachtet hatte, legte ihr Vorurteil beiseite und sorgte dafür, daß er bei Gesellschaften in kleinerem Kreise, dann auch nicht bei den großen Gelegenheiten fehlte.
Und nun auf einmal trat ein Umschwung ein.
Wie das so gekommen ist, sagte Marie, wüßte ich nicht anzugeben. Die Einzelheiten sind meiner Erinnerung entschwunden, auch wohl größtenteils nicht zu meiner Kenntnis gelangt. Ich weiß nur, daß Hartmut sich seltener sehen ließ, nicht mehr die offene, frohe Miene von ehemals hatte, in seinen Aeußerungen sarkastisch und bitter wurde – mit einem Worte ein gänzlich verändertes Wesen zeigte. Ob er in schlechte Gesellschaft geraten war; ob die Natur, nachdem sie in ihm sich selbst übertroffen zu haben schien, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, nun eben so weit nach der andren Seite ausbog, – ich weiß es nicht, wieviel ich darüber auch gegrübelt habe. Dabei muß ich bemerken, es waren nicht etwa die landesüblichen studentischen Thorheiten und Extravaganzen, in denen sich Hartmut gefallen und für die er wohl in den Augen seiner bisherigen Gönner und, ich sollte meinen, auch des Vaters Vergebung gefunden hätte. Wie er es immer anders gehalten als seine Altersgenossen und Kommilitonen, so auch jetzt. Er sollte sich mit Schauspielern, mit Leuten von zweifelhaftem Rufe und Berufe umtreiben, in den niedrigsten Spelunken gesehen worden sein. Was ich von seinen sonstigen Ausschreitungen, die man wohl Ausschweifungen nennen muß, widerwillig gehört, Sie müssen es mir erlassen, das im Detail zu wiederholen. Es liefen Klagen von allen Seiten über ihn ein, die zum Teil übertrieben sein mochten, aber doch die schlimme Meinung und die Befürchtungen bestätigten, welche er in unserm Hause durch sein gänzlich verändertes Betragen längst erweckt hatte. Was aber den Unwillen meines Stiefvaters mehr als alles andere erregte, und den völligen Bruch herbeiführte, war etwas Besonderes. Ich weiß nicht, liebe Anne, ob Sie unsre Verhältnisse schon hinreichend kennen, um zu verstehen, welches Entsetzen einen so streng konservativen Mann, wie der Geheimrat es ist, befallen mußte, als der junge Mensch, den man so oft in seinem Hause gesehen, den er halb und halb als seinen Sohn wieder anerkannt hatte, in das sozialdemokratische Lager ging, um dort, so jung er war, bald eine bei seiner hohen Begabung leicht erklärliche hervorragende Rolle zu spielen. Sie würden dann begreifen, warum er in unserm Hause als ein völlig Verlorener galt, dessen Namen nicht einmal mehr ausgesprochen werden durfte. Und nun kam eine Zeit, an die ich nur noch mit Schaudern denke. Eine Rede, die Hartmut in einer sozialdemokratischen Versammlung gehalten – wie ich aus den Mitteilungen der Zeitungen schließen mußte: voller Uebertreibungen, aber auch unleugbarer Wahrheiten und hoher Geistesblitze – hatte ihn auf die Anklagebank gebracht: Hartmut Ilicius, genannt Selk! So stand in allen Berichten. Wenn der unglückliche Mensch einen Mord begangen hätte, ich glaube, er wäre ihm leichter verziehen, als dieser fürchterliche Affront. Die ganze Familie fühlte sich gesellschaftlich mit Schmach bedeckt, der Vater in seiner amtlichen Stellung erschüttert. Man atmete erst auf, als der skandalöse Prozeß vorüber war, ohne daß man dem Geheimrat höheren Ortes etwas anderes als mitleidsvolles Bedauern zu erkennen gegeben hatte, und Hartmut in seinem Gefängnisse verschwand. Er war zu anderthalb Jahren verurteilt worden – ein fürchterliches Schicksal, wenn man bedenkt, wie jung er war, welchen Versuchungen, Irrtümern gerade so hochbegabte Menschen vor andern ausgesetzt sein mögen. Und das alles: die überschäumende Jugend, so viel zerbrochene Hoffnungen, verlorene Illusionen, der Haß gegen seine Widersacher, die ihn geknebelt, der Ingrimm und die Verachtung auch gegen seine Parteigenossen, die ihn zum Teil schnöde verleugnet, ja schmählich verraten hatten – alles, alles eingesperrt in die öden Gefängnismauern, hinter denen keine Zukunft lag, oder doch nur eine, in welcher der Verbitterte den grimmen, aussichtslosen Kampf grimmig und aussichtslos fortsetzen würde!
Warum aussichtslos? rief Anne.
Marie, noch ganz verloren in so trübe Erinnerungen, schaute verwundert auf.
Nach meiner Einsicht in unsere Verhältnisse und Zustände muß ich die Strebungen unsrer Sozialdemokraten dafür halten; erwiderte sie.
Verzeihung, daß ich Sie unterbrochen habe! sagte Anne. Sie glauben nicht, wie sehr mich diese Geschichte interessiert. Bitte, fahren Sie fort!
Aber Marie war nun einmal unterbrochen und vermochte den Ton einer ruhigen Erzählung nicht wiederzufinden, um so weniger, als sie das Leben Hartmut Selks nur bis zu der letzterwähnten Katastrophe mit wirklicher, wenn auch endlich schmerzlicher Sympathie begleitet hatte, während er in der Folgezeit immer weniger ihrer Teilnahme wert, ja nun schon längst unwert erschienen war. So berichtete sie denn nur noch in der Kürze, daß nach Hartmuts Entlassung aus dem Gefängnisse in einer Art Auseinandersetzung zwischen ihm und seinem Vater, dieser dem verlorenen Sohne gegen das Versprechen, sich nie wieder auf ihn berufen und sich ein für allemal als abgefunden erklären zu wollen, eine größere Summe bewilligt habe, sich mit derselben, wo möglich in fremden Landen, eine Existenz zu gründen. Das Geld sei, wie vorauszusehen, schnell vergeudet gewesen. Von dem abenteuerlichen Leben, in das Hartmut sich dann gestürzt, wisse sie nichts zu sagen. Die ihr vor allem peinliche Episode vor zwei Jahren, als die erblindete Mutter in dem Augusta-Hospital sich einer schmerzhaften Operation unterwerfen mußte, die dann doch vergeblich war, verschwieg sie ganz. Die Gleichgültigkeit, die Hartmut gegen die alte Frau an Tag gelegt, solange sie in der Anstalt weilte, und später, als sie dann wieder in ihrer Wohnung verlassen dahinsiechte, um – zum Glück für sie – bald darauf ihre bekümmerte Seele in ihren Armen auszuhauchen; die hohnvolle Miene, mit der er am frischen Grabe der Aermsten gestanden; die halb fanatischen, halb skurrilen Reden, mit denen er sie selbst die Strecke vom Friedhof bis zu einer Droschke begleitet hatte, in die sie sich warf, dem unheimlichen Begleiter zu entfliehen – was sollte es frommen, das erregliche Gemüt ihrer jungen Freundin mit so trüben Dingen zu verwirren! Und dann: Hartmut hatte in Mister Curtis' Hause Aufnahme, endlich wieder einmal eine Beschäftigung gefunden, in der er sich nützlich erweisen – wer mochte es wissen: eine freundlichere anständige Zukunft schaffen konnte. Durfte sie bei Dingen verweilen, die nur zu geeignet waren, ihn in den Augen seiner jetzigen Beschützer zu kompromittieren? War sie nach dieser Seite nicht schon zu weit, viel zu weit gegangen? So eilte sie denn zum Schluß, die Bitte hinzufügend, Anne wolle, was sie gehört, als im strengsten Vertrauen gesagt, betrachten.
Aber das versteht sich doch von selbst, rief Anne mit einer Lebhaftigkeit, die an Heftigkeit grenzte. Und dann, als sie sah, daß Marie zusammenzuckte:
Verzeihen Sie, ich wollte sie wahrlich nicht kränken! Aber das andere wäre ja unschön und unritterlich. Ich habe noch nie gegen jemand Partei genommen, den ich unterliegen sah – im Spiel und im Ernst. Die Glücklichen haben immer Freunde die Fülle; wo soll der Unglückliche Freunde finden außer bei großmütigen Seelen und – die vielleicht auch nicht glücklich sind.
Ich hoffe, Sie beziehen das letztere nicht auf sich, sagte Marie, die Hand, welche ihr das schöne Mädchen gereicht hatte, herzlich drückend. In Ihren Jahren – ich darf ja wohl so sprechen, – fühlt man sich oft unglücklich aus keinem andren Grunde, als weil man das wahre Unglück nicht oder noch nicht recht kennt.
Ich bin älter als meine Jahre, erwiderte Anne mit dem schwermütigen Lächeln, das Marie heute schon wiederholt an ihr bemerkt hatte; wir Amerikanerinnen altern schnell und um so schneller, je reicher wir sind. Aber, auf unsren Mann zurückzukommen – haben Sie seit jener Zeit nie wieder eine Berührung mit ihm gehabt? Es scheint, daß diese Frage Sie beleidigt? Ich bin heute recht ungeschickt in meinen Aeußerungen. Wollen wir wieder einsteigen?
Bleiben Sie noch einen Augenblick! sagte Marie, ihre Hand auf Annes Arm legend. Ihre Frage hat mich nicht beleidigt, nur überrascht, indem sie mich vor die Wahl stellte, ob ich eine bequeme kurze Lüge vorbringen solle, oder die Wahrheit sagen, die mir in diesem Falle nicht ganz leicht wird.
Und Marie erzählte: wie sie Hartmut Selk begegnet war, nachdem sie sich bei Frau Curtis als Gesellschafterin gemeldet hatte – die wunderlichen Erlebnisse jenes Vormittags in ihrer Reihenfolge mit den Einzelheiten, soweit ihr dieselben für das Verständnis des Geschehenen nötig schienen.
So, sagte sie, nachdem sie geendet, nun bin ich auch dies Geheimnis los – Gott sei Dank!
Sie sind ein herrliches, tapferes Wesen, rief Anne, ihre beiden Hände ergreifend; sind ganz, wie ich Sie mir gedacht habe. Ich danke Ihnen tausend und tausendmal. Wenn wir noch nicht Freundinnen wären, fußfällig würde ich Sie um Ihre Freundschaft bitten. Und daß meine Mama Sie nicht wiedererkannt hat, das ist ja zum Totlachen. Aber Mister Smith, der alte Polonius, soll mir seine Einmischung büßen! Was in der Welt kann er sich dabei gedacht haben, als er Sie so aus unserm Hause scheuchte?
Ich meine, sagte Marie, es ist besser, wie es nun gekommen ist, und wir sind ihm zu Dank verpflichtet, da es ohne ihn – ohne seine kluge und taktvolle Intervention nicht so gekommen wäre. Aber nun lassen Sie uns wirklich aufbrechen!
Sie hatten mit wenigen Schritten den Wagen erreicht und waren in Begriff einzusteigen, als sie auf der Fahrstraße von der Stadtseite her Hufschlag wie eines durchgehenden Pferdes vernahmen.
Schnell! rief Anne, Marie von dem hier ziemlich schmalen Fahrweg in den Wagen drängend; und dann, zum Kutscher gewandt: Halten Sie die Pferde fest!
Im nächsten Augenblicke schon kam der Reiter um die Waldecke, welche ihn den Blicken der Damen verborgen gehalten hatte, war im Nu zur Seite des Wagens und parierte auf die Gefahr zum Sturz zu kommen den schäumenden Rappen.
Reginald! sagte Marie aufatmend.
Das nenne ich einen glücklichen Zufall, rief Reginald salutierend. Guten Morgen, meine Damen!