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Unterdessen hatte Bertram schon die Brücke, welche am Fuße der Gartenterrasse über den Bach führte, passiert und eilte auf dem Wiesenrain dem Dorfe zu. Hildegard hatte über Tisch gesagt, daß sie heute, wie immer am Donnerstag nachmittag, ihre neugegründete Spielschule besuchen werde; er glaubte also, die Dame leicht finden zu können. Kannte er doch von seinen häufigen Besuchen in Rinstedt jedes Gäßchen, und die Spielschule sollte an der Hauptgasse, nicht weit von der Pfarre, liegen. Was wollte er Hildegard sagen, wenn er sie traf? Zuerst natürlich die Tatsache feststellen. Aber dessen bedurfte es nicht; Konski war ein geriebener Bursche, der sich nicht leicht verhörte, und er stand mit der allwissenden Christine auf einem so guten Fuße! Also sie fragen, was sie bewogen habe, den nun schon durch beinahe zwanzig Jahre festgehaltenen Pakt diesmal zu brechen. Unnötige Frage! wann wären denn jemals Weiber konsequent gewesen! wann hätten sie sich denn nicht in solchen Dingen einander beigestanden und in die Hände gearbeitet, selbst wenn sie sich im übrigen keineswegs liebten! Und auch die Liebe schien ja jetzt zwischen den beiden groß zu sein! Hatte die schöne Frau doch, ganz gegen ihre Gewohnheit, Lydies Lob in allen Tönen gesungen! und der Umstand allein, daß sie die Tochter zu ihr in Pension gegeben, drei Jahre in dieser Pension gelassen, sagte ja mehr als genug. Die arme Erna! drei Jahre unter der Obhut des überspannten Frauenzimmers! das schöne, anmutige Geschöpf mit den großen blauen, tiefen Augen! es hätte nicht sein dürfen; es war eine Beleidigung für ihn! hatte er nicht abgeraten, was er konnte? eine vortreffliche Pension in Berlin ausgemittelt? sich erboten, die Oberaufsicht selbst zu übernehmen; dringend gebeten, ihm das Kind anzuvertrauen, dem Kinde Gelegenheit zu geben, einen Blick in größere Verhältnisse zu werfen? Und man hatte zu allem ja gesagt; war so dankbar gewesen für seine Bemühungen, seine Güte, um im letzten Augenblicke in den geliebten Sumpf der Misere der kleinen Residenzstadt zurückzuplumpen. Freilich, man war ja selbst in dem Sumpfe groß geworden, schwärmte noch immer sanft von der versunkenen klassischen Herrlichkeit, beklagte im stillen das traurige Los, welches dem Freifräulein von Unkerode nicht wie Lydien hatte gewähren wollen, sich zeitlebens in den unmittelbaren Strahlen fürstlicher Gnade zu sonnen; daß sie einen Mann hatte heiraten müssen, der, wie reich auch immer, doch ein Bürgerlicher war mit dem höchst bürgerlichen Namen Bermer und bürgerliche Freunde halte, an die man die allerfreundschaftlichsten, liebenswürdigsten Briefe unweigerlich seit zwanzig Jahren mit Sr. Wohlgeboren adressierte. Da war denn freilich ein Baron von Lotter-Vippach vorzuziehen! Und ihm den Menschen aufzudringen, trotzdem er doch ausdrücklich befürwortet, daß er, als halber Rekonvaleszent, der größten Ruhe bedürfe; und, wenn sie Gesellschaft hätten, lieber auf das Vergnügen, die Freunde zu sehen, jetzt verzichten wolle und vorsprechen werde, wenn er im Frühjahr aus Italien heimkehre!
So! das war's ungefähr, was er der schönen Frau sagen wollte – in aller Ruhe und Freundschaft natürlich – nur mit einem feinen ironischen Anfluge – und das neue Gebäude da mußte die Spielschule sein.
Es war die Spielschule; aber das junge Mädchen, das die in dem Vorgärtchen sich herumtummelnden Kinder beaufsichtigte, sagte durch das Gitter, die gnädige Frau sei bereits vor einer halben Stunde fort; sie glaube, in die Pfarre. Ein paar halbwüchsige Jungen, die herbeigelaufen waren, berichteten, die Frau Amtsrätin sei mit dem Herrn Pfarrer zu dem Herrn Schulzen.
Des Schulzen Hof lag an dem anderen Ende des Dorfes. Bertram wollte dorthin; aber als er bereits den halben Weg gemacht, fiel ihm ein, daß der Pfarrer Hildegard sehr wahrscheinlich zurückbegleiten würde, und er dann doch keine Gelegenheit hätte, sich mit jener auszusprechen. Er kehrte also wieder um, sie an der Pfarre, an der sie auf dem Heimweg vorüber mußte, zu erwarten. Indessen, wie konnte er warten, da er gar nicht wußte, ob ihm dann noch Zeit blieb, seine Flucht zu bewerkstelligen, er vielmehr jeden Augenblick fürchten mußte, daß der Wagen, der sie aus der Stadt brachte, die Dorfstraße herauf an ihm vorüberkam. Und hier so zu stehen und sie grüßen zu sollen – nimmermehr! Links ab führte ein schmales Gäßchen unmittelbar in den Wald, der sich auf der Höhe bis hart an das Schloß heranzog. Der Weg war ein wenig länger als der, welchen er gekommen, auch etwas steiler, aber jedenfalls viel kürzer als die Fahrstraße, die, nachdem sie sich am Eingange des Seitentales von der Chaussee im Haupttale abgezweigt, erst das ganze Dorf durchschnitt und sich dann in einer langen Serpentine den Schloßberg hinaufwand. So hatte er noch immer den Vorsprung von mindestens einer halben Stunde. Hoffentlich war Otto mittlerweile von dem Braunkohlenwerke, das nach der anderen Seite im Walde lag, zurück. Er wollte dann dem Freunde reinen Wein einschenken und ihn zum Überbringer seiner Empfehlungen an Hildegard machen. Es würde ein schlimmer Auftrag für den armen Pantoffelhelden sein; aber schlimm oder nicht: jeder ist sich selbst der Nächste, und man stand ja einmal in dem Ruf eines eingefleischten Egoisten! Dann brachte ihn ein schnell angespannter Wagen – Konski mochte, wenn es sein mußte, mit den Koffern zurückbleiben – in zwei oder drei Stunden erst durch den Wald, nachher wieder auf der Chaussee nach Fichtenau. Er liebte Fichtenau. Er würde in dem immergrünen Tal ein paar Tage bleiben, sich von den Strapazen der Reise und dem Ärger des heutigen Tages zu erholen. Auf jeden Fall war er Lydie entgangen, der Schlinge entwichen, welche die Weiber für ihn gestellt – das war eine Genugtuung, die er sich schuldig war, und die ihm den rauhen Waldpfad, den er jetzt betreten, ebnen mochte.
Freilich, der Pfad war rauh, viel rauher, als er ihn in der Erinnerung hatte. Viel rauher und auch viel steiler, in der Tat abscheulich steil – gleichviel, er mußte – immer an dem Bächelchen hin, das in der Schlucht neben ihm murmelte und unten in den Dorfbach fiel – bald an den Steg gelangen, der auf die andere Seite führte; dann ging es glatt oder doch so ziemlich glatt auf der halben Höhe bis zum Schloß.
Was hatte sie nur mit dem Pfarrer bei dem Schulzen zu suchen? Einquartierungsangelegenheiten vermutlich – die Vielgeschäftige bekümmerte sich ja um alles! – oder auch wieder irgend ein wohltätiger Zweck: Armenpflege, Krankenpflege – sie gönnte sich keine Ruhe und Rast in der Verfolgung so edler Ziele, seitdem die Landesmutter mit leuchtendem Beispiele vorangegangen – nur, sich bis zum anderen Ende des Dorfes zu begeben, wenn man bereits einen Gast im Hause hatte und andere Gäste jede Minute eintreffen konnten, war doch etwas sehr rücksichtslos von der Rücksichtsvollen. Vielleicht wollte man gerade dem einen aus dem Wege gehen, und der Weg der anderen führte an dem Schulzenhause vorüber. Man setzte sich dann zu ihnen in den Wagen und hatte auf der Fahrt durch das Dorf noch Zeit zu ein paar vertraulichen Mitteilungen und nützlichen Winken betreffs der Behandlung des mit solcher Schlauheit eingefangenen dummen Vogels. Noch nicht gefangen, meine Gnädigste, noch nicht!
Aber wo blieb der Steg? er hätte längst da sein müssen. Und die tiefe Schlucht hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern, nachdem man sich unten im Bach nasse Füße geholt – hatte sich denn heute alles gegen ihn verschworen!
Endlich: ein nagelneuer Steg, den man an Stelle des morschen alten ein verteufeltes Ende bachaufwärts regelrecht gezimmert mit obligaten schmuckhaften Geländern aus geschwungenen und verschlungenen Baumästen.
Der Pfad drüben war neu wie der Steg – ein richtiger Promenadenpfad, jedenfalls in das System der Pfade gehörig, womit Hildegard bereits seit Jahren die Wälder ringsum zu durchflechten sich bemühte. Die Verschönerungsleidenschaft Charlottens aus den Wahlverwandtschaften – das gehörte ja notwendig zu den Requisiten einer Chatelaine hierzulande – selbstverständlich ohne zarte Hinneigung für die wohlgeborenen Freunde ihres Gatten. Nun, er hatte die unnahbare Tugend der schönen Frau nie bezweifelt; und wenn sie sich jetzt ein ganz klein wenig aufs Kuppeln legte, so war das gewiß nur ein Ausfluß der überschwenglichen Güte ihres keuschen, kühlen, menschenfreundlichen Herzens. – Möchte nur wissen, ob die Menschenfreundlichkeit vor dem Klopfen und Bohren hier auch nur fünf Minuten standhielte! Jetzt fehlte bloß, daß ich mir durch das unsinnige Laufen und Klettern einen Rückfall geholt; dann könnte die Geschichte schließen, wo sie angefangen, und Lydie käme gerade zur rechten Zeit, um sich zu überzeugen, daß, was die Leute vom Herzbrechen erzählen, doch nicht so ganz ein Märchen ist. Pah! wenn meines bricht, so ist's, weil es einen bösen Klappenfehler hat und ich zur Unzeit Champagner getrunken.
Er hatte sich auf eine Bank fallen lassen, die an der Wegseite stand, und saß da, zusammengekrümmt, das Taschentuch vor den Mund pressend, damit sein Stöhnen nicht zu laut in den stillen Wald hallte.
Der Anfall ging vorüber; in der Brust wurde es wieder still; mit den wilden Schmerzen war die grimme Leidenschaft entwichen, in die er sich hineingearbeitet. Dafür fühlte er eine peinliche Schwere und Mattigkeit in den Gliedern, und im Kopf war es so dumpf und wüst.
Wenn es nun gebrochen wäre! so hier im Walde, wer weiß wie lange, ein toter Mann, zu sitzen und den Armen, der zuerst vorüberkam, grausam zu erschrecken – der Gedanke war nicht behaglich; aber das war denn auch das Schlimmste. Vor dem Tode fürchtete er sich nicht: der Tod war nur das Ende des Lebens. Und das Leben? wenn er sich sagen durfte, daß er niemand zuleide lebte, außer etwa dem braven Konski, den er mit seinen Grillen quälte – so lebte er auch niemand zur Freude – am wenigsten sich selbst. Die paar armen Schlucker von Studenten und jungen Künstlern würden ihre Pensionen auch nach seinem Tode die bestimmte Zeit ausgezahlt erhalten, und ein paar gemeinnützige Institute mochten sich in den Rest teilen. Das würde ganz glatt und geschäftsmäßig abgehen und keinen Menschen auch nur eine Träne kosten; es hätte denn Konski sein müssen, nur daß es unmöglich war, sich den leichtlebigen Gesellen in Tränen zu denken.
Auf dem Wipfel der Buche, an deren Fuße er saß, schrie eine Krähe.
Du wirst dich schon noch ein wenig gedulden müssen, sagte Bertram aufblickend.
Aber der Krähenschrei hatte wohl nicht ihm gegolten, sondern der Dame, die er jetzt den Seitenpfad herabkommen sah, der aus dem Walde gerade auf die Bank zuführte. Sein Herz wollte sich wieder zusammenkrampfen; aber er hatte sich mit dem zweiten Blick überzeugt, daß es nicht Lydie war. Lydie war größer und hatte aschblondes Haar, und die Dame hatte dunkles, sehr dunkles; sie ging auch anders: in einem leichten, gleichmäßigen Schritt, so daß es war, als ob sie den ziemlich steilen Pfad herabschwebte, trotzdem er die Füße deutlich unter dem hellen Kleide sich bewegen sah. Und jetzt war sie bis dicht vor ihn gelangt. Sie schrak ein wenig zusammen, denn sie hatte, nach der schreienden Krähe emporschauend, ihn nicht bemerkt, und er war so plötzlich von der Bank aufgefahren; doch faßte sie sich bald wieder, und ebenso schnell entwich die Röte, die sich über ihre Wangen ergossen.
Ist es möglich? – Erna!
Onkel Bertram!
Es war ein melodischer Klang in der Stimme, aber nicht die leiseste Spur von der freudigen Erregung, die er beim Erblicken seines Lieblings empfunden. Sein Herz zog sich zusammen, er wollte sagen: du hast mich sonst anders empfangen, aber er schämte sich, dem schönen Mädchen als ein Bettler gegenüberzutreten, und sagte nur, indem er ihre Hände losließ:
Du hast mich hier nicht vermutet?
Wie konnte ich? erwiderte sie.
Sehr richtig! dachte Bertram; wie konnte sie! es war eine dumme Frage.
Er wußte nicht, was er weiter vorbringen sollte, und schwieg verlegen. Die Krähe, die während der letzten halben Minute still gewesen, brach in ein abscheuliches Krächzen aus und flog über ihre Häupter weg in den Wald. Sie hatten beide unwillkürlich in die Höhe gesehen und gingen dann schweigend nebeneinander hin den Pfad entlang.