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Es war gegen drei Uhr, als der Arzt, zu dem Konski, der den Herrn nicht hatte verlassen wollen, den Hausdiener entsandt, eilig hereintrat. Konski nahm ihm Stock und Hut ab und deutete – sprechen konnte er nicht – nach dem großen Diwan in der Tiefe des Zimmers. Der Arzt ergriff im Vorübergehen die Lampe vom Schreibtische und leuchtete in das bleiche Gesicht. Konski war ihm gefolgt und hielt nun die Lampe, während jener seine Untersuchungen anstellte.
Er muß bereits über eine Stunde tot sein, sagte er aufblickend, weshalb haben Sie erst jetzt zu mir geschickt? Tragen Sie die Lampe auf den Schreibtisch zurück und sagen Sie mir, was Sie wissen.
Er hatte sich in Bertrams Sessel gesetzt.
Nehmen Sie sich einen Stuhl! erzählen Sie.
Und Konski erzählte.
Er war ein viertel nach zwölf vom Telegraphenamt zurückgekommen und hatte den Herrn emsig schreibend gefunden, als er die Flasche Champagner, die der Herr ihm mit herauszubringen anbefohlen, hereingetragen. Der Herr hatte ihn ausgescholten, weil er nur ein Glas gebracht; er, Konski, müsse sich auch eines holen, mit wem er denn sonst auf das Wohl der jungen Frau anstoßen solle?
Da habe ich denn ihm gegenüber gesessen – zum ersten Male in meinem Leben – da hinten in der Ecke an dem kleinen runden Tische, er in dem einen Stuhle, und ich in dem anderen. Und hat mit mir geplaudert, nicht wie ein Herr mit seinem Diener, nein, gerade – ich kann das nicht beschreiben, Herr Medizinalrat; aber Sie wissen ja, wie gut und freundlich er immer war. Ich hab' kein böses Wort gehört aus seinem Munde die zehn Jahre, die ich nun bei ihm bin, und wenn er einmal heftig war, da wußte er hinterher nicht, wie er's wieder gutmachen sollte. Und morgen wollte ich nach Rinstedt, um Hochzeit zu machen, und er hat uns die ganze Ausstattung geschenkt und den Laden eingerichtet mit allem, was dazu gehört. Da haben wir denn natürlich viel von Rinstedt gesprochen und von dem Manöver im letzten Herbste, und von der jungen gnädigen Frau, und von Italien, wo ich ja, wie der Herr Medizinalrat wissen, mit dem Herrn vor zwei Jahren war. Das heißt natürlich: ich sprach nicht viel, sondern der Herr; ich hätte nur immer zuhören mögen, wie er von Capri erzählte, wo wir damals nicht hingekommen, und wo die junge gnädige Frau jetzt ist. Dabei leuchteten seine Augen, daß es eine Pracht war; aber getrunken hat er so gut wie gar nicht, bloß so viel, um mit mir auf das Wohl der jungen gnädigen Frau anzustoßen – einen oder zwei Schluck höchstens, und der Rest ist noch in dem Glase. Ich mußte mir aber immerfort einschenken, denn ich könnte es vertragen und er nicht, und er wolle hernach noch die Arbeit fertig machen, zu der die Akten da auf dem Tische vor dem Herrn Medizinalrat liegen. Auf einmal sagte er, Konski, sagte er, ich werde müde; ich will mich eine halbe Stunde hinlegen. Derweilen trinken Sie ruhig die Flasche aus, und Punkt halb zwei wecken Sie mich. Es war eben ein Uhr.
Da hat er sich denn hingelegt, und ich habe ihn zugedeckt, und – ach, Herr Medizinalrat, ich werde es mir nie vergeben; aber ich hatte den Tag über gar viel Lauferei gehabt mit meinen Sachen, und zuletzt in der Nacht der lange Weg nach dem Telegraphenamt, und der Champagner mochte mir auch Wohl ein bißchen zu Kopf gestiegen sein – ich habe sicher keine fünf Minuten da so still allein gesessen, da bin ich eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es nicht halb zwei, sondern halb drei, daß ich einen rechten Schreck kriegte. Aber er schläft so fest und so ruhig, dachte ich, noch als ich vor ihm stand; es ist ein Jammer, daß du ihn wecken sollst, wenn er sich auch wieder auf die linke Seite gelegt hat, was er sonst gar nicht vertragen konnte und der Herr Medizinalrat ihm ja auch streng verboten haben. Ich weiß noch in Rinstedt – an dem ersten Abend – aber da ist er doch wieder aufgewacht, und nun ist er tot.
Sie sind nicht schuld daran, sagte der Doktor, indem er dem Weinenden die Hand reichte; Sie hätten ihn nicht am Leben erhalten können, so wenig wie ich. Und nun lassen Sie mich hier allein; Sie mögen im Nebenzimmer bleiben.
Der Doktor schritt, als Konski gegangen, zu dem kleinen runden Tische, auf dem die leere Flasche stand und ein leeres und ein halbvolles Glas. Über dem Sofa in der Ecke brannte rechts und links auf den Gaskandelabern an der Wand je eine Flamme. Er hielt das halbvolle Glas empor. Als er es schüttelte, stiegen aus dem klaren Naß helle Perlen. Er hat nie die Unwahrheit gesprochen, murmelte er, indem er das Glas niedersetzte. Es war ja sowieso nur noch eine Frage der Zeit. Den Tod hat er sich schon vor einem halben Jahre getrunken. Man kann sich nur wundern, daß er es so lange ertragen hat.
Auf dem Schreibtische lag Ernas Brief. Der Arzt las ihn fast mechanisch.
Es ist alles so ziemlich, wie ich mir dachte, murmelte er. Ein so geistvolles und dazu, wie es scheint, hochherziges Mädchen, und doch – aber sie sind sich alle gleich.
Ein einzelnes Blatt mit Bertrams Hand siel ihm in die Augen. Er griff danach; es war die deutsche Depesche:
»Heil und Glück und Segen heute und immerdar meinem lieben Kinde in Quisisana.«
Der Arzt hatte sich erhoben und schritt mit untergeschlagenen Armen auf und nieder in dem Gemach. Aus dem Nebenzimmer, dessen Tür nur angelehnt war, hörte er leises Schluchzen. Der Jammer des treuen Menschen hätte fast das tiefe Leid in seiner eigenen Brust entfesselt. Er wischte sich über die nassen Augen, trat an das Lager des Toten und streifte die Decke zurück.
Lange stand er, in staunende Betrachtung versunken.
Die hohe, schöne Stirn, beschattet von dem vollen, weichen Haar, dessen tiefes Dunkel kein einziger silberner Faden erhellte; die feingeschwungenen, wie zu einem geistreichen Wort geöffneten Lippen, deren Blässe die weißen, nur eben hervorschimmernden Zähne beschämten; die breite, gewölbte Brust – was Wunder, daß der Mann von fünfzig Jahren im Leben empfunden hatte wie der Jüngling, für den der Tod ihn genommen.
Und aus dessen reinen Zügen er jede leiseste Spur von dem Weh getilgt, das dies edle Herz gebrochen.
Und das nun still war für immer.
Er legte die Hand auf das stille Herz.
Qui si sana! sagte er leise.