Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

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XIII.

Bertram traf unten im Gartensaale vorerst nur Otto und den Baron, die ein lebhaft geführtes Gespräch bei seinem Eintreten jäh abbrachen; Otto sah sehr verlegen aus, der Baron warf ihm einen bösen Blick zu und wandte sich nach den jungen Damen, die auf der Veranda wanderten.

Es scheint, ich habe gestört, sagte Bertram.

Nimm's ihm nicht übel erwiderte Otto; er hat – schon seit gestern abend – unangenehme Nachrichten von zu Hause, die heute bestätigt werden und ihn zu einer Reise dorthin zwingen – und nun gerade jetzt – in dieser gespannten Lage – er wünscht natürlich – es ist sehr fatal –

Mit einem Worte: er hat seinen Antrag offiziell bei dir vorgebracht?

Nicht eigentlich offiziell – wir wissen ja gar nicht, wie Erna – du wolltest uns au courant setzen, raten – helfen; aber du läßt uns ganz im Stiche. Ich kann dir sagen: Hildegard ist darüber etwas pikiert.

Das habe ich bemerkt, und so, um das Versäumte nachzuholen, gebe ich euch den Rat: macht, daß ihr ihn los werdet! erspart Erna die Demütigung, dem Menschen einen Korb geben zu müssen.

Demütigung, dem Menschen! mein Gott, wie redest du!

Wie mir's ums Herz ist. Er ist Ernas unwürdig – völlig.

Das sagst du! aber warum?

Bertram antwortete nicht. Was sollte es auch jetzt noch helfen, sich mit Otto über den Wert oder Unwert des Barons zu streiten!

Siehst du, daß du nichts Positives vorbringen kannst, sagte Otto triumphierend; und dann, als er die tiefernste Miene des Freundes sah: Ich weiß ja, daß du es gut meinst – mit Erna, mir – mit uns allen. Du hast auch vielleicht recht wenigstens darin, daß Erna schließlich nein sagt. Tut sie es – na, dann ist die Geschichte zu Ende, und Hildegard und er müssen sehen, wie sie sich darein finden. Wenn es nur noch ein paar Tage währte – ich habe den Kopf auch ohne das voll genug – die Einquartierung morgen – die Schlußdebatte über die Eisenbahn, und dabei denke ich soeben daran, daß ich, ebenfalls morgen, eine Hypothek, die mir gekündigt ist, zu zahlen habe; es ist nicht viel – fünftausend Taler – aber es kommt mir sehr ungelegen – sehr – ich wollte schon vorhin zu dir, fürchtete dich zu stören – vielleicht nach Tisch oder heute abend – da ist meine Frau – nur keinen Eklat – ich beschwöre dich!

Hildegard trat herein; Lydie folgte bald; die jungen Damen und der Baron kamen von der Veranda; man ging zur Tafel. Die Unterhaltung wollte nicht recht von der Stelle; jeder schien mit seinen Gedanken beschäftigt, die, nach den Mienen zu schließen, keine erfreulichen sein konnten, außer bei Hildegard. Sie lächelte wiederholt geheimnisvoll vor sich hin und unterbrach endlich eine minutenlange Pause, indem sie zwei Briefe, die sie neben ihr Kuvert gelegt hatte, in die Höhe hielt und sagte:

Aber das ist doch zu arg; ich sitze hier mit einem ganzen Schatz der interessantesten Überraschungen, und es gibt sich keiner die Mühe, auch nur die mindeste Neugier zu verraten. Ihr wäret wirklich wert, daß ich euch kein Wort sagte, aber ich will gnädig sein, wie immer, und euch an meiner Freude teilnehmen lassen. Also zuerst: deine Mama, Agathe, hat nun doch meinen Bitten nachgegeben. Es ist so lieb von ihr; sie hat morgen selbst eine größere Gesellschaft – an die zwanzig Offiziere, schreibt sie – und könne die Kinder eigentlich nicht entbehren; aber sie sehe ein, daß ich sie in unserer Einsamkeit hier noch nötiger brauche, wenn das Gewimmel der Uniformen nicht gar zu monoton werden soll – enfin: sie schickt uns zwei von deinen Schwestern, Luise und Auguste – heute schon – wir können jetzt wirklich morgen abend einen kleinen Ball arrangieren, wenn wir die Oberförster- und Pastormädchen dazu laden, und Eckarts aus Fischbach, Sulzers aus Lengefelde und die anderen kommen. Nun, was sagt ihr?

Erna antwortete nicht, sie schien es kaum gehört zu haben; Agathe sagte: Du bist so gut, liebe Tante! – es kam ein wenig gepreßt heraus.

Das ist alles? rief Hildegard; freilich bin ich gut, viel zu gut für euch Undankbare, Blasierte, die ihr euch nicht einmal an der Aussicht auf einen Ball erwärmen könnt. Aber Sie, Baron?

Ich beneide die Herren, denen ihre Güte zu Nutzen kommen wird, erwiderte der Baron; ich für mein Teil werde, wie Sie wissen, schwerlich daran teilnehmen können.

Hildegard zog die Augenbrauen in die Höhe. Ich dachte, das wäre ein für allemal abgemacht, sagte sie; Ihre Verwandten mögen sehen, wie sie ohne Sie fertig werden; ich will nichts wieder davon hören. Das ist mein letztes Wort, Sie werden es respektieren.

Der Baron verbeugte sich und murmelte etwas von force majeure; Hildegard achtete nicht darauf; sie hatte bereits den zweiten Brief zur Hand genommen.

Hier eine andere Überraschung, sagte sie, eine ganz echte, wie Sie mir zugeben werden, wenn ich Ihnen dies gelesen habe. Bitte aber im voraus um Nachsicht wegen meines schlechten französischen Akzentes. Der Brief ist aus unserer Residenz, wie ich zum besseren Verständnis bemerken muß.

Von der Prinzeß Amalie? fragte der Baron hastig.

Nicht von unserer gnädigen Prinzeß, erwiderte Hildegard mit huldvollem Lächeln; aber doch von einer Prinzessin – Fürstin, wenn Sie wollen, denn so müssen wir ja wohl das la princesse übersetzen.

Möchtest du nicht lieber gleich alles übersetzen? sagte Otto zaghaft.

Auch das! erwiderte die schöne Frau; ich war sogar schon im Begriffe, da ich weiß, du kaprizierst dich darauf, kein Französisch zu verstehen. Also:

»Madame!

Werden Sie einer Ihnen völlig Unbekannten verzeihen, die es wagt, Sie um eine Gunst zu bitten, die man nur seinen Freunden oder völlig akkreditierten Personen zu gewähren pflegt – um die Gunst, für kurze Zeit Ihr Gast sein zu dürfen? Sie staunen, Madame; aber weshalb besitzen und bewohnen Sie ein Schloß, dessen klassische Architektur und stilvolle innere Ausstattung die Wunder des Landes sind? weshalb werden Sie als Meisterin vollendeter Gartenkunst von allen Einsichtigen gerühmt? Ich bereise Deutschland hauptsächlich zu dem Zwecke, das Beste und Schönste in diesen Genres zu studieren, um es auf meinen Gütern in Livland wenigstens nachahmen zu können. Ich werde Sie, wie gesagt, nicht lange belästigen – einen, vielleicht zwei Tage; morgen und übermorgen, wenn es Ihnen recht ist, da ich leider über meine Zeit nicht anders disponieren kann. Und was die Unbequemlichkeit betrifft, die ich Ihnen verursachen muß, werde ich mich bemühen, sie auf das kleinste Maß zu reduzieren. Ein Gärtner oder Förster, der mich draußen, ein Kastellan, der mich drinnen ein wenig umherführt; ein Eckchen an Ihrem Kamin, ein Plätzchen an Ihrem Tische, ein Kämmerchen, in dem ich schlafen kann – das ist alles! zu viel freilich schon, wenn ich bedenke – aber man darf nicht bedenklich sein, wenn man die vollendete Egoistin ist, welche die Ehre hat sich zu nennen, Madame, Ihre ergebenste – die Fürstin Alexandra Paulowna –«

Hildegard blickte von dem Briefe auf und sagte lächelnd:

Ja, wer den Hauptnamen lesen könnte!

Sie hatte den Brief Bertram, der zu ihrer Rechten saß, gereicht.

Also eine Russin jedenfalls, sagte der Baron zu ihrer Linken.

Ohne Zweifel – nun, lieber Freund?

Ich kann es nicht entziffern, erwiderte Bertram.

Darf ich? rief der Baron.

Bertram gab den Brief an Hildegard zurück, die ihn dem Baron reichte.

Nun, das ist doch ganz deutlich! rief er; Bo – Bo –

Er stockte.

Bo – Bo – Bo – Bo –, rief Lydie lachend; geben Sie mir!

Auch Lydie kam nicht weiter; das Billett machte die Runde über Otto und Agathe bis zu Erna, die, ohne einen Blick darauf zu werfen, es an Bertram reichte.

Du willst nicht versuchen? fragte Bertram.

Nein.

Es kam so kurz und scharf heraus; Bertram blickte erschrocken auf.

Das ist sehr unfreundlich von dir, sagte die Amtsrätin.

Auch Bertram hatte zuerst diese Empfindung; aber er kannte Erna zu genau, es mußte noch etwas anderes in ihrer Seele vorgehen, was in dem schroffen Nein einen Ausdruck gesucht hatte. Sie war sehr bleich und hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gepreßt, während ihre Augen mit unheimlicher Starrheit gerade vor sich hin schauten. Es war, als ob sie im nächsten Moment in Tränen ausbrechen müsse. Um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken und die eigene Unruhe zu überkommen, begann er von neuem eifrig an dem Namen zu buchstabieren und rief: Ich glaube, ich habe es! Bolinzow – Alexandra Paulowna Volinzow!

Zeigen Sie, bitte! rief Hildegard; wahrhaftig: Bolinzow – es ist ja ganz deutlich – wie man doch so blind sein kann – mein Gott, was ist Ihnen, lieber Baron?

Ich bitte tausendmal um Verzeihung, sagte der Baron hinter seinem Taschentuche, das er an das Gesicht gedrückt hatte, indem er sich zugleich von der Tafel erhob und den Saal eiligen Schrittes verließ.

Hildegard schaute ihm mit betrübtem Blicke nach.

Der Arme! sagte sie; wie leid er mir tut! er ist in einer Aufregung – und nun diese Nachrichten aus seiner Familie – wenn ich nur wüßte, um was es sich handelt – er ist die Diskretion und das Zartgefühl selbst.

Bertram hatte, während er nach einer Erklärung für Ernas Betragen suchte, fast mechanisch den ganzen Brief mit den Augen überlaufen. Er wurde sich dessen erst bewußt, als er an eine Stelle kam, die er sich nicht erinnerte, in Hildegards Übersetzung gehört zu haben.

Hier ist noch eine Zeile, liebe Freundin, sagte er, die Ihnen entgangen ist, und die mir doch von Wichtigkeit scheint; es steht da – vollendete Egoistin, die den Mut hat, ihrem Briefe auf dem Fuße zu folgen – und die Ehre und so weiter.

Unmöglich! rief Hildegard.

Aber es ist nicht anders: sehen Sie! Sie sind aus der drittletzten Zeile gleich in die letzte geraten.

Hildegard erschrak.

Aber, mein Gott, rief sie, was fangen wir an! sie wird noch dinieren wollen! doch das ist das geringste, aber unsere Zimmer sind ja von morgen nachmittag an sämtlich besetzt.

Die Herren Offiziere müssen ein wenig zusammenrücken, sagte Otto; es wird schon gehen.

Nein, es wird nicht gehen, rief Hildegard, wenn jeder von den Herren sein eigenes Zimmer haben soll; und den beiden Majoren und gar dem Oberst können wir doch nicht weniger als zwei zur Disposition stellen.

So muß ich Ihnen schon aus der Verlegenheit helfen, liebe Freundin, sagte Bertram. Sie wissen, ich wollte morgen früh fort; bleiben wir bei dem alten Plan, um so mehr, als ich soeben einen Brief erhalten habe, der meine schleunigste Rückkehr nach Berlin notwendig macht.

Das ist eine Ausrede! rief der Amtsrat.

Keine Ausrede, lieber Freund. Der Brief steht dir zur Verfügung; ich will übrigens zur Aufklärung gleich sagen, um was es sich handelt: eine Kandidatur für den Reichstag, zu der ich von meinen politischen Freunden beabsichtigt bin.

Du wirst dich doch auf dergleichen nicht einlassen, rief der Amtsrat.

Ich bin in der Tat dazu entschlossen.

Und deine italienische Reise?

Bleibt der Zukunft vorbehalten.

Deine Krankheit?

Ich befinde mich, dank Eurer vortrefflichen Pflege, so wohl wie nie.

Es ist unmöglich! rief der Amtsrat; ich dulde es nicht; es wäre geradezu –

Er war, indem er so in den Freund drang, nur dem Zuge seines gutmütigen Herzens ohne alle Nebenrücksicht auf seine speziellen Interessen gefolgt: erst jetzt schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß Hildegard erst heute morgen noch Bertrams Anwesenheit ein positives Unglück genannt und ihn beschuldigt hatte, als einziges Hindernis zwischen ihr und der Ausführung ihres Lieblingsplanes zu stehen.

So brach er denn erschrocken ab mit einem ungeschickt verlegenen Blicke auf seine Frau.

Hildegard errötete bis in die Schläfen. Jetzt mußte sie zum Bleiben auffordern, wenn nicht alles, was sie in diesen letzten Tagen mit Lydie und dem Baron, zuletzt auch mit ihrem Gatten, heimlich verhandelt, so gut wie offen vor Bertram liegen und es zu einem endgültigen Bruche kommen sollte, den sie denn doch, solange es irgend möglich war, zu vermeiden wünschte. Um den wahren Grund ihres Errötens zu verbergen, ergriff sie, wie von einer übermächtigen Wallung getrieben, seine beiden Hände und sagte: Sie sehen mich bis zur Sprachlosigkeit bestürzt, lieber Freund! Otto hat vollkommen recht: es ist unmöglich; es wäre geradezu abscheulich – denn das wolltest du gewiß sagen, lieber Otto? Sie können, Sie dürfen uns jetzt nicht verlassen – in ein paar Tagen, wenn es denn wirklich sein muß; aber nicht jetzt. Ich habe – ganz abgesehen von uns – schon in der freudigen Überraschung geschwelgt, mit der Herr von Waldor hier auf der Schwelle eines fremden Hauses einen alten Freund begrüßen wird. Und hat alte Freundschaft keine Macht über Sie – lockt Sie denn nicht die geheimnisvolle Russin, deren Namen Sie allein entziffern konnten, und die sich mit niemand wird unterhalten wollen, als mit Ihnen, wenn sie erst gehört hat, wie wundervoll Sie Französisch sprechen? Aber Otto – Lydie – Agathe – so helft doch bitten.

Man hatte sich in der allgemeinen Erregung von der Tafel, die überdies zu Ende ging, erhoben und war auf die Veranda hinausgetreten; auch der Baron hatte sich wieder eingefunden, aber hielt sich in einiger Entfernung; er schien sich von dem Anfall noch nicht völlig erholt zu haben. Die von Hildegard Angerufenen beeilten sich, der Aufforderung Folge zu leisten und sprachen durcheinander auf Bertram ein. Er hörte nicht, was sie sagten; er sah sie nicht; er sah nur Erna.

Sie war, als ob das Verhandelte kein Interesse für sie habe, aus der Veranda hinab an eines der Beete auf dem Rasenplätze getreten. Plötzlich wandte sie sich, kam langsamen Schrittes zurück, die Stufen herauf und trat vor ihn hin. Ihre vorhin so bleichen Wangen waren lebhaft gerötet, die großen Augen glänzten, während um die zarten Lippen ein trotziges Lächeln spielte. Sie befestigte eine köstliche rote Spätrose, die eben ihren Kelch entfalten wollte, in seinem Knopfloche.

Ich habe dich am ersten Abend gebeten – ich bitte dich nochmals: bleibe hier – mir zuliebe! Komm, Agathe!

Sie hatte ihre Cousine an der Hand ergriffen und sie mit sich fort in den Garten gezogen; Bertram war in das Billardzimmer getreten und klapperte dort mit den Bällen; die übrigen blickten erstaunt, verlegen, erschrocken, höhnisch drein. Aber wie sehr ihre verschiedenen Empfindungen nach einem Austausch verlangten, und wie gelegen auch der Augenblick schien, sie kamen vorläufig nicht dazu. Denn im nächsten Moment schmetterte von dem Hofe her ein Posthorn und verkündete zu Hildegards Schrecken, daß die Fürstin Volinzow ihre Anmeldung buchstäblich genommen hatte und ihrem Briefe auf dem Fuße gefolgt war.


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