Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

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XX.

Er hatte sich auf der untersten Stufe der Terrassen befunden, als sich aus der verstörten Seele, welche die Qual nicht länger tragen konnte, dieser Entschluß losrang. Eine schmale, steile Treppe führte hier an der Grenze des Gartens ohne Absätze hinauf; er nahm zwei, drei Stufen auf einmal; er war oben. Nun wandte er sich rechts über den Rasenplatz nach der Veranda, als plötzlich die Musik im Saale schwieg und auch sofort aus allen Türen die Tanzgesellschaft strömte, sich in der lauen Nachtluft zu erfrischen. Er wollte ihr in dem bunten Durcheinander der Schwatzenden, Lachenden nicht begegnen. Einzelne Paare kamen die Stufen herab; er wich zurück in das Dunkel der Bosketts, die den Wintergarten umgaben. Der Wintergarten war erleuchtet; er konnte durch ihn ungesehen und unbelästigt in die Gesellschaftszimmer gelangen; soweit er durch die Fenster den Raum überblickte, schien sich niemand dort aufzuhalten.

Er trat hinein. Zwischen Palmen und breitblättrigen Gewächsen führte ein schmaler Gang, der in der Mitte von einem kürzeren und breiteren durchschnitten wurde. Da, wo die Gänge sich kreuzten, ragte die höchste Palme aus mächtigem Kübel fast bis zum Glasdach auf. An dem Hinteren Ende des Querganges befand sich in der Wand eine mit zierlichen eisernen Gartenmöbeln ausgestattete Nische.

Er wußte, es war ein Lieblingsplatz Ernas, wo sie bei regnerischem Wetter stundenlang verweilte. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Stätte zu betreten, die ihm durch sie geheiligt war. Während er sich in einen der Stühle sinken ließ, beugte er das Haupt über den Tisch auf die gefalteten Hände. Und wie er so in der Gebärde des Betenden saß, wurden seine Gedanken zum Gebete: es möge dem Schicksal gefallen, sein Los zu entscheiden, jetzt und hier, es sei nun Seligkeit oder Tod. Er wolle eines und das andere nehmen als ein demütiger Mensch, der da weiß, daß er den himmlischen Mächten Untertan ist, die mit ihm schalten nach ihrem unerforschlichen Ratschluß.

Er hob den Kopf und richtete sich langsam auf, langsam zögernd. War sein Gebet nicht erhört? vermochte die Liebe nicht Wunder zu wirken, wie der Glaube, der doch geringer ist denn sie? Ja, sie mußte kommen, die er herbeisehnte mit seines Herzens ganzer Kraft!

Und da – wie er die Augen nach der Tür wandte, wurde die Portiere auseinander gezogen, und sie stand auf der Schwelle, die schlanke weiße Gestalt, vornüber geneigt, in die stille grüne Wildnis hineinspähend, lauschend. Nun kam sie leichten Schritts die Stufen herab, den Gang herauf bis zu der hohen Palme und blieb abermals stehen, von ihm abgewandt, die eine Hand auf den Rand des Kübels stützend, die andere gegen den Busen drückend.

Erna!

Er hatte es, in der Furcht, sie zu erschrecken, sehr leise gesagt; doch zuckte sie aus ihrer Stellung, aber wandte sich nicht um zu ihm, der nur durch einen kleinen Raum von ihr getrennt war, sondern lauschte nach der anderen Seite; und in demselben Moment hörte er auch die kleine Tür öffnen, durch die er selbst aus dem Garten eingetreten; es kam jemand den Gang entlang eilig auf Erna zu, die eine Bewegung machte, als ob sie fliehen wolle, und dann nicht mehr fliehen konnte.

Mein gnädiges Fräulein –

Sie antwortete nicht, und er schien Kraft und Geistesgegenwart mit diesen ersten, in sehr unsicherem Tone gesprochenen Worten erschöpft zu haben. So blieben sie ein paar Sekunden regungslos. Dann sagte Erna:

Fräulein von Aschhof hat mir mitgeteilt, daß Sie mich zu sprechen wünschen. Ich bin nur gekommen, Sie zu ersuchen, Fräulein von Aschhof nicht weiter mit Ihrem Vertrauen zu beehren; ich – ich bin empört, daß Sie es überhaupt tun konnten.

Um Himmels willen, hier muß ein Mißverständnis obwalten. Ich würde nie gewagt haben, mich an Fräulein von Aschhof zu wenden. Sie hat das erste Wort gesprochen mit einer Sicherheit, die keinen Zweifel bei mir aufkommen ließ; ich konnte nicht anders glauben, als daß Sie – Sie selbst, mein gnädiges Fräulein –

Das ist zu viel!

Der atemlose Lauscher vernahm das Rascheln ihres Gewandes und dann ein paar hastige, flehende Worte, die sie doch wieder festhielten. Sie hatten dabei ihre Stelle verändert; er konnte durch das dichte Blättergewirr eines hohen Schilfgewächses, das sich zwischen sie und ihn geschoben, kaum noch etwas von ihnen sehen, aber desto deutlicher jedes leiseste Wort verstehen.

Sie dürfen mich ein Mißverständnis nicht büßen lassen, an dem ich – ich schwöre es Ihnen – unschuldig bin, so daß ich nicht einmal ahne, wodurch es hat herbeigeführt werden können. Wie es aber auch sei – ich segne es als eine Gnade des Himmels, der nicht wollte, daß ich ungehört von Ihnen verurteilt würde. Ich bitte, ich flehe Sie an: hören Sie mich.

Was haben Sie mir zu sagen?

Was ich Ihnen in meinem letzten Briefe schrieb: lassen Sie mir, wenn Sie meinen Versicherungen keinen Glauben schenken wollen – und ich begreife es ja, daß, wie die Verhältnisse liegen, der Schein gegen mich spricht –, lassen Sie mir Zeit, nur ein wenig Zeit, bis diese leidigen Verhältnisse sich geklärt haben, und der Schein damit von selbst in nichts zerfließt. Nur so viel darf ich, muß ich sagen: ich liebe die Fürstin nicht, habe es nie getan; habe nie etwas für sie empfunden, als Teilnahme, Achtung, Freundschaft – wenn Sie wollen – Gefühle, welche die seltene Frau in jedem erwecken wird, der sie näher kennt. Sie ist zu keinem anderen Zwecke hier, als für mich zu sprechen; mit Aufopferung großer persönlicher Vorteile das unselige Geheimnis zu lösen, das mir Schweigen auferlegt. Aber sie ist dabei auf einen Widerstand gestoßen, den sie nicht beseitigen kann, und der sie und auch mich in der alten schlimmen Lage zu verharren zwingt. Darum noch einmal: lassen Sie mir Zeit! eine Gnadenfrist! Man gewährt sie ja dem Verbrecher; und ich habe keine andere Schuld, wenn es eine ist, als daß ich die Pflichten, die mir Dankbarkeit und langjährige Freundschaft auferlegten, heilig halte, selbst jetzt, wo es mir so unendlich schwer gemacht wird, wo es mich in Gefahr bringt, das Glück meines Lebens darüber einzubüßen.

Das ist alles, was Sie mir zu sagen haben?

Alles. Denn was ich sonst noch sagen könnte, es würde keinen Glauben finden, wenn Ihr Glaube an meine Wahrhaftigkeit nicht einmal so weit reicht.

Leben Sie wohl!

Erna! – ist es möglich! schweigt denn alles in ihrem Herzen? spricht denn, regt sich denn da gar nichts mehr für den, den Sie doch einst – ich wage das Wort nicht mehr auszusprechen; ich muß ja fürchten, Sie aufs neue zu beleidigen, erinnere ich Sie an das, was einstmals war. Großer Gott! und ich habe gedacht, wenn deiner Feder keine Kraft innewohnt, wenn auf dem Papier alles ungeschickt und tot ist, – du brauchst nur wieder ihr gegenüberzustehen, ihr in die geliebten Augen zu blicken, sie in deine – da wird sie dir glauben, noch bevor du sprichst. Und jetzt – jetzt – mein Blick hat keine Kraft, meine Worte sind leerer Schall – ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll; ich stehe da wie ein Bettler, der seine bittere Not geklagt hat, und vor dem sich die Tür verschließt, an die er mit zagendem Finger pochte. Bin ich so arm geworden? Nun denn, es kommt mir schwer an, die Hilfe eines Fremden anzurufen; aber Sie lassen mir keine Wahl. Es lebt in Ihrer unmittelbaren Nähe jemand, der in dem Besitze des Geheimnisses ist, dem es die Fürstin mitgeteilt hat, – halb unfreiwillig, fortgerissen von der Lebhaftigkeit ihres Temperaments, das sie zu zügeln nie gelernt hat, halb aus freien Stücken, in der Hoffnung, sie verrate dem Manne nichts, als was heute bereits alle, wenigstens alle Beteiligten wissen würden. Diese Hoffnung ist nun eben nicht in Erfüllung gegangen; jener Mann weiß das, und so, weil er sich unter diesen Umständen nicht für berechtigt hält, zu sprechen, wird er schweigen, wenn ich ihn richtig beurteile, trotzdem die Fürstin ihm bereits volle Freiheit gegeben, ja ihn dringend gebeten hat, Ihnen alles zu sagen. Ich gestehe, ich war bestürzt, als sie es mir vorhin mitteilte, es war mir – abgesehen von anderen Rücksichten – peinlich, den Schlüssel zu dem verhängnisvollen Rätsel in den Händen eines Dritten zu wissen. Nun aber, da ich schmerzlich meine Ohnmacht fühle, mag er für uns – für mich eintreten, wenn er will. Und er wird es wollen, wenn auch ich ihn bitte. Ich habe noch nicht drei Worte mit ihm gewechselt; aber eine Miene, so voll Seelenadel, wie die seine, kann nicht trügen. Und ihm – ihm werden Sie glauben!

Nimmermehr!

Sie werden ihm nicht glauben?

Ich will lieber sterben, als von ihm hören – mit ihm sprechen über – Oh, das ist schändlich, schändlich! Das ist das Äußerste! Was bis jetzt geschehen – aber dies – dies –

Großer Gott, was ist Ihnen? was heißt das?

Das heißt, daß dies mein letztes Wort ist: gehen Sie!

Ich gehe. Doch noch eines – mein letztes Wort, das sich qualvoll aus meiner Seele losringt: es gibt ein größeres Unglück, als seine Liebe verkannt, mißachtet, verworfen zu sehen. Das ist, sich sagen zu müssen, daß sie, die man mehr, tausendmal mehr geliebt hat, als sein Leben, von anderen Frauen, die man ihr nie gleichzustellen, kaum mit ihr zu vergleichen wagte, an Güte und Großmut übertroffen wird.

Ein rascher Schritt über die Fliesen des Ganges, das Öffnen und Schließen der kleinen Fenstertür nach dem Garten und dann ein Schrei, halb unterdrückt und nur um so fürchterlicher wie eines zum Tode Getroffenen.

Bertram eilte um das Gebüsch herum auf sie zu, die mit erhobenen Armen und weiten, starren Augen dastand.

Und abermals ein Schrei, und im nächsten Moment lag sie an seiner Brust, ihn umschlingend, ihn umklammernd, wie ein Ertrinkender den Felsen umklammern mag.

Onkel Bertram! ach, lieber, lieber Onkel Bertram!

Geliebtes Kind!

Rette mich! rette mich!

Ein Tränenstrom erleichterte den gepreßten Busen; sie schluchzte laut, auf seine Schulter gebogen. So war's erfüllt, was er noch vorhin als das Glück herbeigesehnt, dessen er nur für einen Moment teilhaftig werden wollte, um dann freudig zu sterben: er hielt sie an seinem Herzen – den schlanken jungfräulichen Leib, den zarten klopfenden Busen – ihr süßer Atem umwehte seine heiße Wange – und wußte, sie war in seine Hand gegeben; er hatte die Macht, sie festzuhalten, es kostete ihm ein einzig Wort, – und war doch alles nur ein Traumgeschenk, das man noch ein Paar Sekunden mit geschlossenen Augen bannt, und das, so man die Augen öffnet, entweicht auf Nimmerwiederkehr.

Ich will dich retten vor dir selbst, indem ich dich dir selbst wiedergebe, die du dich verloren hast.

Sie blickte ihn, den Kopf aufrichtend, verwirrt fragend an.

Heute nicht, liebes Kind, morgen! aber du mußt ein gutes, ein folgsames Kind sein. Ich will alles tun, was du willst, was du mir befiehlst, Lieber, Geliebter! es ist ja niemand so gut, so edel wie du! ich liebe niemand, wie ich dich liebe!

Sie umschlang ihn von neuem und heftiger als vorhin; ihre heißen Lippen zitterten auf seinen Lippen.

Aber er erwiderte den Kuß nicht, und um seine Lippen schwebte ein melancholisches Lächeln, als er, sie sanft von sich drückend und ihr das dunkle Haar streichelnd, sagte:

Und nie hat ein Vater sein liebstes Kind besser geliebt, als ich dich liebe.

Und wieder blickte sie zu ihm auf mit einem seltsamen Ausdruck von Angst und Scham.

Geh liebes Kind, geh jetzt! wir sprechen morgen; ich reise morgen nicht; ich reise nicht eher, als bis – du meiner nicht mehr bedarfst. Auf Wiedersehen morgen! und dann dürfen diese lieben Augen nicht mehr weinen.

Er ließ sie, die sich noch immer – aber jetzt unsicher, schüchtern – an ihn schmiegte, aus seinen Armen gleiten: Geh, liebes Kind, geh!

Sie ging – langsam, zögernd, das Haupt tief gesenkt. Auf der obersten der Stufen, in der Tür des Teezimmers, blieb sie stehen und wandte sich, als erwarte sie, daß er sie zurückrufe.

Er aber winkte mit Hand und Augen: Geh!

Sie verschwand hinter der Portiere. Er war allein.


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