Friedrich Spielhagen
Quisisana
Friedrich Spielhagen

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XVI.

Die Gesellschaft war nur noch wenige Minuten beisammen geblieben; die Herren aus der Oberförsterei wollten den regenfreien Augenblick benutzen, Alexandra hatte, Übermüdigkeit vorschützend, sich alsbald zurückgezogen, und dann Hildegard auch für die übrigen das Signal zum Aufbruch gegeben.

Es wird morgen ein anstrengender Tag für uns werden, sagte sie; wir bedürfen alle der Ruhe. Was besonders euch jungen Damen gesagt sein mag! ich bitte dringend, daß heute nicht in gewohnter Weise bis tief in die Nacht hinein getollt und geplaudert wird.

Der unerwartete Besuch der Fürstin hatte die Zahl der Fremdenzimmer, die disponibel blieben, wenn für die Einquartierung morgen hinreichend gesorgt werden sollte, noch um ein Bedeutendes verringert, da Alexandras Protest gegen den ihr aufgenötigten prachtvollen Salon nebst Toilettenzimmer und zwei Schlafzimmern für sie und ihre Kammerjungfer kein Gehör gefunden. Es sei überflüssig Raum vorhanden, hatte Hildegard versichert, und sie schäme sich ohnehin, einem so verehrten und lieben Gaste eine so dürftige Wohnung anzubieten. In der Tat aber waren die beiden Schlafzimmer ursprünglich für die drei Schwestern Palm bestimmt gewesen, von denen Auguste und Luise nun ein kleines Gemach im Turm beziehen mußten, während für Agathe in Ernas Schlafzimmer ein Bett aufgestellt wurde. Glücklicherweise mündete der Korridor, an welchem Ernas Zimmer lagen, nach wenigen Schritten auf die Tür zum Turmgemach, und so gab es denn doch, trotz Hildegards Verbot, für eine Stunde ein Herüber- und Hinüberhuschen und Lachen und Kichern und eifriges, geheimnisvolles Plaudern, bis endlich Agathe das Licht im Gemache der Schwestern auslöschte und Erna, welche in übermütigen Possen heute gar kein Ende finden konnte, mit sich ziehend, tastend die Tür gewann.

Ich konnte deine Lustigkeit nicht länger mit ansehen, sagte sie, als sie in ihrem Zimmer angekommen waren; ich dachte jeden Augenblick – großer Gott! ich wußte es!

Sie hatte angefangen, vor dem Spiegel ihr Haar aufzubinden, und fuhr jetzt vor einem leisen Stöhnen erschrocken herum. Erna saß in dem niedrigen Sessel vor ihrem Bette, das Gesicht in beide Hände gedrückt. Der schlanke Leib wurde wie von Fieberschauern geschüttelt, der zarte Busen hob und senkte sich ungestüm, während der gepreßte Atem in wimmernden Tönen kam und ging. Dann sank ihr Haupt an der Freundin Schulter, die neben ihr niedergekniet war und sie mit beiden Armen umfaßt hielt; die zurückgehaltene Tränenflut brach gewaltsam hervor; sie weinte, als sollte ihr das Herz brechen.

Arme, arme Erna, süße geliebte Seele! weine dich aus! es ist besser so, viel, viel besser als deine fürchterliche Lustigkeit! dir wird wieder wohl werden! du wirst wieder meine kluge, verständige Erna sein! du unglückliches, geliebtes Kind! Es wird ja alles gut; es ist ja unmöglich, dich nicht zu lieben, und so liebt er dich auch noch, glaube es mir! Ich will seine Liebe nicht; ich denke nicht mehr an ihn; ich hasse, ich verabscheue ihn!

Wenn es wäre, würdest du so weinen!

Erna richtete sich jäh empor, Agathens Arme von sich schleudernd.

Ich um ihn weinen!

Sie war aufgesprungen und schritt in dem Gemache hin und wieder. Das Haar, das sie vorhin schon gelöst hatte, floß ihr in langen, dunkeln Strähnen über Busen und Nacken, ihr Gesicht glühte, ihre Augen sprühten Flammen.

Um ihn! sage das nicht noch einmal! um ihn! der Schmach habe ich geweint, daß diese Frau es wagt, vor meine Augen zu kommen, daß ich es dulden muß! daß ich nicht vor sie hintreten und ihr in das angemalte Gesicht schleudern darf: fort aus diesem Hause! hier wohnen ehrliche Leute! Auch die Frechheit muß ihre Grenzen haben, und diese ist grenzenlos!

Agathe hatte sich von den Knien erhoben und saß nun in dem Sessel, kummervolle Blicke auf Erna richtend; geduldig wartend, bis wenigstens der erste Zornessturm sich gelegt hätte.

Ich bin überzeugt, sagte sie jetzt, er weiß gar nicht, daß sie hier ist; und – du bist auch davon überzeugt.

Und wenn es wäre, rief Erna, was wird dadurch anders? daß sie es wagen kann, darin liegt es. Sie würde es nicht, wüßte sie nicht im voraus, wie es von ihm aufgenommen wird. Er wird vielleicht im ersten Augenblicke erschrecken, ich glaube es wohl, und ihr dann dankbar sein, daß sie die Stirn hatte, ihm zu dem schnöden Triumphe zu verhelfen. Sie sind eben eines des anderen würdig. Es wäre zu entsetzlich, sagte Agathe, den Kopf schüttelnd; so schlecht können die Menschen nicht sein; es ist unmöglich.

Gewiß! rief Erna höhnisch; ganz unmöglich! ebenso unmöglich, wie daß er selber morgen kommt.

Aber Erna! ein Offizier muß dahin gehen, wohin er kommandiert wird! In solchem Falle hat er keinen eigenen Willen.

So sollte er eine Pistole haben, um sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen, lieber, als sich von einer schamlosen Frau in einem solchen Schauspiele aufführen lassen, wenn es doch nun einmal ein Schauspiel sein soll, das die Elende arrangiert hat, um mich zu demütigen. Aber sie irrt sich! ich werde ihr den Triumph nicht bereiten; ich, ich werde es sein, die triumphiert! Mag sie mit ihrer Eroberung prahlen; ich kann sie überbieten tausendmal! Ah! wie ich mich auf morgen freue! wie ich mich freue! was sind tausend seinesgleichen neben dem besten, dem einzigen Manne!

Erna, Erna! rief Agathe, die gefalteten Hände flehend erhebend; ich beschwöre dich: treibe es nicht zum Äußersten! mache dich nicht für immer unglücklich! mache Kurt nicht unglücklich –

Nenne seinen Namen nicht! rief Erna, ich will nichts weiter hören!

Ich muß seinen Namen nennen, denn ich muß von ihm sprechen, und du mußt mich anhören, damit du nicht tust, was dich ewig und ewig gereuen wird.

Weshalb gereuen? ich liebe Bertram.

Du liebst ihn nicht.

Kannst du in meinem Herzen lesen?

Ja, Erna, und besser als du, die du von Leidenschaft verblendet bist. Und wenn du mich noch so zornig anblickst mit deinen schönen Augen, in die ich selbst verliebt bin, und wenn du mich für immer wegschickst, und ich mich vor Sehnsucht nach dir totweine – ich würde dich nicht lieben, und ich wäre nicht dein armes, unglückliches Großmütterchen, wenn –

Das gute Kind konnte nicht weiter. Wie vorhin Erna, so saß sie jetzt, die Hände vor das Gesicht gedrückt, krampfhaft weinend, und Erna kniete neben ihr und wollte ihr die Hände von dem Gesichte ziehen und bat sie, sich zu beruhigen und sie wieder liebzuhaben und ihr liebes Großmütterchen zu sein.

Dann – sie hätten nicht zu sagen gewußt, wie der Szenenwechsel vor sich gegangen – lag Erna in ihrem Bette, und Agathe, auch schon im Nachtgewande, saß auf dem Rande, und was während dieser Tage zwischen ihnen in vielen abgerissenen Unterredungen verhandelt, kam noch einmal alles im Zusammenhange zur Sprache. Aber wenn das kluge Mädchen sich geschmeichelt hatte, ihr liebes Beichtkind dadurch zur Einsicht zu bringen, wie es doch um seine Seele nicht so schlimm stehe, als es in der Aufregung selbst geglaubt, so ging diese Hoffnung keineswegs in Erfüllung; ja das Gegenteil trat ein. Mit jedem Worte schien sich Erna mehr in eine Leidenschaft hineinzureden, an deren Existenz Agathe nicht glauben mochte und doch fast glauben mußte, wie jene nun von der ersten Begegnung im Walde bis heute abend ihr Verhältnis zu Bertram rekapitulierte und aus hundert Einzelheiten, die sie mit erstaunlicher Logik eine an die andere reihte, zu beweisen suchte, daß hier ihrerseits von keiner Grille, keiner Kaprice, keiner Verirrung der Phantasie, keiner Befriedigung verletzten Stolzes, keiner Verzweiflung die Rede sei, sondern von echter, wahrer Liebe, die keine Grenzen und nur den einen Zweifel kenne, ob sie selbst des geliebten Mannes würdig. Aber nicht etwa deshalb unwürdig, weil sie vorher schon zu lieben geglaubt! Das sei ein notwendiger Irrtum gewesen, um sie über sich selbst aufzuklären; sie darüber zu belehren, daß die Liebe kein Rausch, sondern eine klare, tiefe Empfindung, die alles übrige Empfinden und Denken in sich ziehe, wie ein mächtiger Strom die Quellen und Bäche rings um sich her; und in der sich, wie in den Fluten eines Stromes die Ufer, ihre ganze Existenz: Vergangenheit und Gegenwart, widerspiegele, nur schöner und herrlicher als in der Wirklichkeit.

Dem Gegenstände des Bildes gleich, in welchem sie ihr Leben und Lieben sah, floß Ernas Rede; und ihre Stimme, trotzdem sie leise sprach, hatte einen so eigenen, eindringlichen Klang, und die großen Augen, die sie weit geöffnet hielt, glänzten so wundersam in dem flackernden Scheine der Kerzen auf dem Nachttische – die arme Agathe befiel eine entsetzliche Angst. Wußte Erna noch, was sie sagte? phantasierte sie? konnte sie nicht über dem allen wahnsinnig werden?

Erna! Erna! rief sie, beide Hände der Freundin ergreifend und pressend, wache auf! – ich habe es ausgerechnet, wenn du achtunddreißig bist wie deine Mama, ist er siebzig Jahre, nur daß er nie so alt werden wird.

Um Ernas Lippen zuckte ein verächtliches Lächeln.

Dachte ich es doch! sagte sie; als ob die Zeit etwas mit der Liebe zu tun hätte! als ob nicht ein Jahr, in dem ich ihm dienen, ihn lieben darf, ein Jahrhundert aufwöge! Ach, Agathe, wie kleinlich denkst du von der Liebe! Und wenn er morgen stirbt, so sterbe ich mit ihm – das ist meine Rechnung; ich denke, sie ist einfach genug.

Die Verzweiflung gab Agathen Mut, auf den Punkt zurückzukommen, der, wie sie bereits während dieser Tage mehr als einmal erfahren, für Erna der empfindlichste war.

Ich will dir alles zugeben, rief sie, ich will dir alles glauben, was du von dir selbst behauptest; ich kann ja nicht in dein Herz sehen. Aber Herrn Bertrams Herz ist nicht dein Herz, und was in seinem Herzen vorgeht, das mag der liebe Gott wissen: du weißt es nicht; wenigstens hat er es dir nicht verraten, mit keinem Worte und keinem Blicke. Und ich meine, das hätte er längst getan, wenn er dich wirklich liebte. Welche Gründe hätte er, sich so vor dir zu verstecken?

Tausend für einen! rief Erna; oder ist es keiner, daß er sich tagelang mit dem Gedanken gequält hat, ich könnte mich für den Baron interessieren?

Davon ist er sicher mittlerweile zurückgekommen.

Dann, daß die Mama außer sich sein wird?

Darum kann er dir doch sagen, was er für dich empfindet.

Und wenn er an meiner Liebe zweifelt?

Großer Gott, Erna, wie kann er daran zweifeln?

Er kann es sehr wohl. In den ersten Tagen war ich noch selber über mich unklar. Und als ich fühlte, daß ich ihn liebe, bin ich oft so wunderlich gewesen, so launisch und trotzig; und nun gar, seitdem ich entdeckte, daß der Brief aus meiner Mappe fehlte, und ich überall nach ihm suchte, und er plötzlich wieder da war und während der Zeit jedenfalls, ich weiß nicht durch wie viele Hände gegangen und ganz gewiß auch von Mama gelesen ist – ich war so empört; ich habe ihm angesehen, er wußte manchmal gar nicht, was er von mir denken sollte.

An ihm hast du deine Empörung nicht ausgelassen – im Gegenteil! ihm ein Zeichen deiner Gunst über das andere gegeben.

Und daran habe ich recht getan, ich wollte Mama zeigen, daß ich mich vor ihrem Zorne nicht fürchte.

Und die Rose heute! und deine Bitte, daß er bleiben solle – dir zuliebe – Erna, war das auch recht?

Sollte ich ihn morgen reisen lassen?

Wenn er nun reisen wollte, durftest du ihn halten? Erna, da fehlt doch nur, daß du zu ihm fügst: willst du mich zu deiner Frau haben? Und ich würde mich nicht schämen, es zu sagen, wenn ich überzeugt wäre, daß er es von mir wünschte. Ja, ja, er wünscht es; ich sehe es jetzt ganz klar; er will auch den Schein des Verdachtes vermeiden, als habe er mich bestrickt, mich überredet – er will es meiner Eltern wegen. Nun weiß ich, was ich morgen zu tun habe. Gott sei Dank!

Nein, Erna, Gott sei's geklagt, daß du so reden kannst; denn daß du es wirklich denkst, daß du es wirklich tätest, ist eine Unmöglichkeit. So weit kann sich meine stolze Erna nicht vergessen. Ich beschwöre dich bei unserer Freundschaft, Erna, folge mir nur in dem einen: wenn es denn sein soll, lasse ihm das erste Wort; es muß ja zugleich das entscheidende sein; und dann mag Gottes Wille geschehen!

Agathe hatte die Hände wie im Gebet gefaltet: große Tränen rannen ihr über die Wangen. Der schlichte Ausdruck so tiefen Kummers rührte Erna. Sie umarmte die geliebte Freundin und küßte sie und versprach endlich zu tun, um was jene wieder und wieder bat.

Und nun geh zu Bett, du armes Kind! du bist so müde, und ich bin es auch.

Agathe hatte bereits, traurigen Herzens alles noch einmal überdenkend, wohl eine Stunde, ohne sich zu regen, in ihrem Bette gelegen, annehmend, daß Erna, die sich ebenfalls nicht regte, längst schlafe, als sie Plötzlich leises Schluchzen zu vernehmen glaubte.

Erna!

Es kam keine Antwort.

Erna! wenn es sich nun herausstellen sollte, daß Kurt unschuldig ist, was willst du tun?

Wiederum keine Antwort.

Hatte sie sich verhört? hatte Erna im Schlafe geweint? hatte sie es wirklich gefragt? oder hatte sie es nur gedacht?


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