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Erstes Buch.

Erstes Kapitel.

Glück auf den Weg!

Ulrich rief es ärgerlich lachend hinter dem Hasen her, auf den er eben vorbeigeschossen hatte, und der nun mit hintenübergelegten Löffeln über den Dünensand davonjagte. In demselben Augenblick hob sich ein zweiter unmittelbar vor seinen Füßen aus dem Heidekraut und galoppierte dem ersten nach. Der Jäger drückte den Kolben abermals gegen die Wange; aber der Hahn gelangte nur bis zur Mittelruh und blieb da, wie angewurzelt, stehen. Bevor er ihn zum zweitenmal aufgezogen, verschwand der Hase hinter der nächsten Sandwelle.

Ulrich betrachtete die alte, verrostete Doppelflinte nachdenklich. Wenn diese nach der Versicherung des kupfernasigen Schmiedes die beste von den sechsen war, die er an sportslustige Badegäste auszuleihen hatte, wie mußten da erst die andern beschaffen sein! Es war ihm schon recht. Weshalb hatte er seinen trefflichen Lefaucheux zu Hause gelassen! So war ihm wenigstens die Schande erspart, im Juli einen Hasen geschossen zu haben. Was thut freilich ein armer Badegast nicht in der Verzweiflung der Langenweile, die er nun bereits drei Wochen lang ausgestanden hat!

Es sollte mir über die vierte weghelfen, murmelte er; aber ich werde es dem Manne noch heute abend zurückbringen. Das Ding ist entschieden für den Jäger gefährlicher als für die Hasen. Uebrigens möchte ich schwören, daß es auf der ganzen Insel nur die beiden giebt. Weiß Gott, wie sie hierhergekommen sind! Vielleicht aus der Arche Noah.

Er warf die Flinte über die Schulter, sah nach der Uhr, blickte zum Himmel auf und sah wieder nach der Uhr.

Hm! murmelte er. Hätte gemeint, es müßte später sein. Freilich, die Sonne steht noch ganz hoch. Und sticht abscheulich. Glaube, es giebt ein Gewitter. Hoffentlich nicht, bis ich zu Hause bin. Werde so wie so zwei Stunden brauchen. Wie gehe ich am besten?

Die Wahl war nicht leicht; er konnte den Heimweg in drei Richtungen einschlagen. Rechts von ihm, aber in ziemlicher Entfernung, türmte sich die Pyramide der Weißen Düne, die jetzt, da die dem Meere zusinkende Sonne bereits hinter ihr stand, grau erschien. Bis zur Weißen Düne war das Terrain verhältnismäßig leicht passierbar: Strecken harten Sandes, abwechselnd mit gras- oder heidekrautüberlaufenen Streifen. Aber von der Düne bis zum Strande mußte man noch ein bös weites Stück durch ganz lockeren Sand waten, und der Strand selbst bot eben jetzt, bei tiefer Ebbe, bis er weiter unten, nach dem Dorf zu, fest und trocken wurde, keine besonders bequeme Promenade. Linker Hand, etwas näher und bereits hinter ihm, lag der Leuchtturm, von wo der Fahrweg nach dem Ort führte. Aber dann wäre er auf die öde Wattenseite gekommen mit dem trostlosen Blick auf den jetzt Tausende von Fuß bloßliegenden braunen Schlick, hinter dem sich bis zu dem schmalen Streifen des Festlandes drüben die Wasserfläche regungslos breitete. Er hatte den Weg einmal gemacht und sich gesagt, es solle das erste und das letzte Mal gewesen sein. So blieb denn freilich nur ein dritter: das Dünenterrain, das sich vor ihm erhob, mit der Wendung halb rechts so weit zu durchschneiden, bis er sicher sein konnte, aus ihm heraus zu dem glatten Strand zu gelangen, auf dem er dann den Rest des Weges, hart an der Brandung hin, behaglich nach Hause schlendern mochte.

Bis dahin hatte es freilich noch gute Weile: das Durchqueren der Dünen erforderte eine gesunde Lunge und kräftige Kniee. Längst schon hatte er auch die Flinte von der Schulter auf den Rücken genommen, um die Hände frei zu haben, die oft genug fest in das harte Riedgras greifen mußten, wollte er von der halb erklommenen Böschung nicht wieder in die Tiefe gleiten. Dennoch war er wiederholt gezwungen, von seinem Vorsatz, unweigerlich in gerader Linie vorwärts zu marschieren, recht gründlich abzuweichen in Respekt vor der oder jener weißen Wand, die hinter der Senkung, die er durchschnitten, so steil aufragte, daß er sich ironisch fragte, ob die wilden Kaninchen, deren Löcher in halber Höhe sichtbar waren, sich nicht etwa doch zum Gehen und Kommen einer Leiter bedienten.

Aber die Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, waren ihm gerade recht: längst schon hatte er die Erfahrung gemacht, daß schwere körperliche Ermüdung das einzige Mittel war, wenigstens zeitweise den Druck zu erleichtern, der auf seiner Seele lastete.

Seltsamerweise hatte er hier, wohin ihn der Arzt – gewiß auf Andrängen Herthas – geschickt, den Druck schwerer empfunden, als, wie er meinte, je zuvor.

Allerdings nicht in den ersten Tagen. Er kannte seine heimische Ostsee wohl; an der Nordsee war er zum erstenmal. Die melancholische Oede der Dünen, die Majestät eines Meeres, das seinen Zusammenhang mit den Oceanen in dem ewig sich erneuernden und immer neuen Phänomen der Ebbe und Flut so klärlich erwies, die trotz des Julimonds herrliche Frische der Luft, die endlose Promenade unmittelbar am Wogenschlage auf dem wie eine Scheunendiele festen und doch so elastischen Strande – es hatte ihn alles wunderbar angemutet; er hatte sich froh und leicht gefühlt, wie der Knabe von sechzehn Jahren, wenn er in den Ferien aus der engen Stadt und der dumpfen Schule auf das väterliche Gut zu Eltern und Geschwistern und dem angewohnten Leben in Garten, Feld und Wald heimkehren durfte.

Dann – nach einer Woche etwa – war das alte Leid wieder da, als hätte es mit in dem großen Packen wollenen Unterzeugs gelegen, den Hertha ihm nachgesandt für den doch sehr wahrscheinlichen Fall, daß schlechtes Wetter einträte, wo er sich dann sicher einen Rheumatismus holen würde.

Das schlechte Wetter war nicht eingetreten, so wenig wie die meisten von Herthas düsteren Prophezeiungen. Tag für Tag war die Sonne in strahlender Herrlichkeit aufgegangen, hatte ihren mächtigen Bogen über den wolkenlosen Himmel gezogen, um endlich als große, glühe Scheibe im Meere zu versinken; Tag für Tag hatte er seine weiten Spaziergänge kreuz und quer durch die Insel bis zu den fernsten, noch erreichbaren Punkten machen können.

Seine einsamen Spaziergänge.

Sie waren gegen die Vorschrift Doktor Balthasars, gegen die Mahnungen Herthas. Er hörte noch den ersteren sagen: Vor allem, lieber Baron, gehen Sie möglichst viel unter die Leute! Mischen Sie sich in die Gesellschaft! Ich bin 'mal vor zehn Jahren dagewesen, also noch sehr zur hannoverschen Zeit. Damals war nicht viel von Gesellschaft die Rede, wenigstens nicht für uns Bürgerliche, die nur als Badegäste zweiter Klasse galten und unter denen kein rechter Zusammenhang war. Aber das würde ja für Sie nicht gelten; und seit Sechsundsechzig soll sich das alles wesentlich gebessert haben. – Und Herthas letzte Worte waren: Suche nicht wieder die Einsamkeit, Ulrich! Von der haben wir hier genug. Mache Bekanntschaften, wenn du keine Bekannten finden solltest! Vergessen wirst du uns ja nicht. Aber es ist ganz gut, wenn du einmal ohne deine Frau und die Kinder bist. –

Er hatte die beste Absicht gehabt, dem Rate der Treuen zu folgen; es war bei der Absicht geblieben. Bekannte hatte er keine angetroffen, außer einem, und dem war er, nachdem man sich gegenseitig flüchtig begrüßt, sorgsam aus dem Wege gegangen. Und jener ihm. Wäre es doch gar nicht erst nötig gewesen, daß Hertha ihn vor zwölf Jahren dem Referendar von Odebrecht vorgezogen: sie hatten sich schon auf der Schulbank gründlich gehaßt. Und weiter gehaßt, als die gemeinsame Landsmannschaft sie in Heidelberg in dasselbe Corps brachte. Weshalb sich hier in Norderney aufsuchen, wenn jetzt, seitdem jener in dem Städtchen am See als Amtsrichter funktionierte, ein gelegentliches Zusammentreffen auf den Nachbargütern von beiden Seiten als ein leider unvermeidliches gesellschaftliches Unglück empfunden wurde! Die ganze übrige Badegesellschaft aber hatte aus Leuten bestanden, die ihm völlig fremd waren, und die vermutlich an ihm so wenig Interesse nahmen, wie er sicherlich an ihnen. Nur ein einziges Mal – gleich in den ersten Tagen – war er in die Lage geraten, aus seiner Zurückgezogenheit heraustreten zu müssen. Der Badedirektor, Herr von Hinze-Hinzenstein, hatte seine Karte bei ihm abgegeben, und er selbstverständlich die Höflichkeit erwidert. Bei der Gelegenheit war er auch Frau von Hinze vorgestellt und von der Dame verpflichtet worden, an dem Kaffeetische zu erscheinen, welchem sie allnachmittäglich nach Beendigung des Diners im Kurhause, auf der Veranda hinter demselben, von der man den ganzen Kurgarten überblicken konnte, bei den Klängen der Kurkapelle präsidierte. Er war der Aufforderung gefolgt und hatte in der Gesellschaft der verbindlichen Wirte, eines alten Generals a. D., zweier märkischen Gutsbesitzer und unterschiedlicher andrer Herren und Damen – alle selbstverständlich von Adel, mit Ausnahme eines Violinvirtuosen, der am Abend konzertieren sollte und von den übrigen Herrschaften sehr über die Achsel behandelt wurde – eine fürchterliche Stunde zugebracht und sich zugeschworen, daß er keinen Fuß wieder in diese Gesellschaft setzen werde.

Um seinen Schwur sicher halten zu können, hatte er die lärmvolle Mittagstafel im Kurhause aufgegeben und speiste seitdem mitten im Dorf bei einem seltsamen Kauz, der zugleich Fischhändler, Antiquar und Restaurateur war, und den wenigen, die seine hohen Preise zahlen konnten, vortreffliche Speisen, die er und seine Frau selber kochten, und auserlesene Weine verabreichte. Außerdem gebrauchte er die Vorsicht, sich zur Promenadenzeit nie am Strande sehen zu lassen, um nach einem großen Bogen durch die Dünen erst da in ihn einzubiegen, wo er sicher sein konnte, nur noch einzelnen besonders Wanderlustigen zu begegnen. Und auch dann ruhte er nicht, bis er selbst diese hinter sich gelassen, und den Strand hinauf und hinab kein dunkler Punkt sich zeigte, der einen Menschen bedeuten konnte.

Und dann atmete er tief und lang, wie jemand, der von einer schweren Last befreit ist, um vielleicht in demselben Augenblicke zu empfinden, daß der Druck auf seiner Seele stärker war als je.

Jener sonderbare Druck, der ihn nun schon seit Jahren quälte und über den zu klagen er sich sorgsam hütete in dem Bewußtsein, daß er sich selbst keinerlei Rechenschaft über einen Zustand zu geben vermochte, der ihm selbst so peinlich war und zu dem so gar keine Ursache vorzuliegen schien. Eine physische sicherlich nicht, wenn man Doktor Balthasar glauben durfte, von dem er sich auf dringendes Bitten Herthas wiederholt hatte untersuchen lassen, und der nach sorgfältigstem Auskultieren und Perkutieren jedesmal mit dem freundlichsten Lächeln erklärte, daß er einen gesünderen Mann noch niemals unter den Händen gehabt.

Und welche physische oder sonstige Veranlassung zu jener Verdüsterung hätte es gegeben für ihn, der ohne Sorgen leben durfte mit Ausnahme der alltäglichen, die auch einen tüchtigsten und fleißigsten Landmann unvermeidlich aus der Wirtschaft erwachsen? Und hatte er nicht eine Frau, die ihn über alles liebte, selbst weit über die schönen drei Kinder, die sie ihm geboren, und die er wieder liebte und zu lieben tausend Gründe hatte? Wie er, würde er sich selbst es nicht gesagt haben, von jedermann und jeder Frau drei Meilen in der Runde hätte hören können und in der That bei jeder Gelegenheit zu hören bekam. Nein, er hatte keinen Grund zu seiner Hypochondrie, die er selbst verwünschte, und schließlich – da doch alles in der Welt irgendwo herstammen muß – als ein leidiges Erbteil seiner Mutter ansah, welche er früh verloren hatte, wenn er sich auch ihres feinen, bleichen Gesichtes mit den tiefen, melancholischen Augen sehr wohl erinnerte.

An das alles hatte er während seines Aufenthaltes auf der Insel hundertmal denken müssen und dachte jetzt wieder daran, als er so, von dem mühseligen Marsch zu verschnaufen, unter dem Gipfel einer besonders hohen und steilen Düne, die er eben überklettert hatte, in dem warmen Sande lag. Er hatte gemeint, daß die Düne die letzte nach dem Strande zu sein müsse; aber vor und unter ihm dehnte sich eine weite Senkung, hinter der sich abermals eine Dünenkette erhob, die dann möglicherweise endlich die Äußerste war. Auch konnte er nicht mehr allzuweit von dem Orte selbst sein, denn in der Senkung standen hie und da zwischen dem Heidekraut Kartoffeln, die in den weiter entfernten Dünenthälern nicht mehr vorkamen. Die seewärts vor ihm liegende Dünenkette war niedriger als die, auf der er sich befand, doch nicht so viel, daß er das Meer hätte sehen können. Ueber der Dünenkette hing die Sonne in dem leichten graulichen Dunst, der den westlichen Horizont bedeckte, als ungeheure blutigrote, glanzlose Kugel. Auch kein leisester Hauch regte sich; unbeweglich standen die schlanken Halme des Strandhafers; die Luft atmete sich schwer und unerquicklich wie die in der Nähe eines heißen Ofens; von unten aus dem Heidekraut und den Kartoffelfeldern stieg ein starker süßlicher Duft, der etwas seltsam Betäubendes hatte. Es war, als ob die Natur den Atem anhalte, eines Ungeheuren, Furchtbaren, das sich vorbereitete, gewärtig.

Ganz die Empfindung hatte Ulrich. Nie zuvor hatte er jenen unerklärlichen Druck auf seiner Seele so grausam schwer gefühlt, wie in diesem Augenblick; ja, er empfand ihn in der Herzgegend zum erstenmal als wirklichen physischen Schmerz, als sei es jetzt zum Aeußersten gekommen und er müsse erliegen, oder etwas geschehen – etwas Uebermächtiges, Wunderbares, das ihn von seiner Qual erlöste.

Ein kleine Schar Strandläufer schoß, dichtgedrängt, zirpend, über ihm hin in die Dünen. Ein paar Möwen kamen trägen Fluges hinterdrein geschwingt. Die eine stieß, als sie über ihm war, ihr hohles Lachen aus. Er sprang in die Höhe und den jähen Hang hinab, nicht, weil er sich vor dem Unwetter, das sicher heraufzog, gefürchtet hätte, nur, um vor sich selbst zu entfliehen und der wahnsinnigen Angst, die ihm das Herz beklemmte.


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