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Viertes Buch.

Erstes Kapitel.

Sie ist krank geworden oder thut doch so, um der andern Platz zu machen, glaube mir! sagte die Generalin am Morgen des Seefestes zu Kittie. Lächerlich! als ob wir sie jemals zu solchen Gelegenheiten mitgenommen hätten!

Weshalb aber hast du denn die Person nicht beim Wort genommen, als sie sich eben erbot, bei Clementine zu bleiben? fragte Kittie. Ich kann sie nicht mehr sehen.

Mein süßes Kind, erwiderte die Generalin, Kitties Arm nehmend, während sie auf der Seeterrasse auf und ab gingen, sei versichert, ich detestiere sie, wie du, und bei der ersten passenden Gelegenheit fliegt sie. Aber die Gräfin hat ja einen Narren an ihr gefressen, und solange du auf Guido noch irgend reflektierst –

Wie oft soll ich denn wiederholen, daß ich das nicht mehr thue? rief Kittie. Schüchternheit – dummes Zeug! das redest du mir nicht mehr ein. Er hat mich vorgestern einfach miserabel behandelt.

Dafür hast du auch mit Hans Trottau gründlich kokettiert.

Nachdem ich sah, daß Guido – aber du willst mir nicht glauben.

Es ist Unsinn, liebes Kind!

Es ist keiner. Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Er hat sie den ganzen Tag angeschmachtet – wie närrisch! Ich wette, er hat sich schon auf der Eisenbahn in sie verliebt. Sie wird es auch danach angefangen haben! Der Person ist alles zuzutrauen!

Es wäre entsetzlich, murmelte die Generalin, ganz entsetzlich! Und wir hätten noch Oel ins Feuer gegossen!

Gründlich! sagte Kittie. Sie hat sicher gewußt, daß sie bei uns in seine Nähe kommen würde. Es ist alles zwischen ihnen vorher abgekartet gewesen.

Entsetzlich! wiederholte die Generalin. Wenn du nun doch wenigstens deiner Sache mit Hans Trottau sicher wärest!

So sicher, wie Amen in der Kirche. Du wirst es heute abend sehen.

Die Generalin seufzte, aber wagte nicht zu widersprechen. Kittie hatte wieder einmal gezeigt, daß sie die Klügere war. Es war das in letzterer Zeit mehrmals vorgekommen. Nur eingestehen mochte sie es nicht.

Sie waren an der Balustrade stehen geblieben und blickten, jedes in seine Gedanken versunken, Johann zu, der an dem Landungsbrückchen das größere Boot zu der Fahrt über den See zurechtmachte.

Eleonore war wieder zu Clementine zurückgekehrt, die sie seit gestern morgen nur immer auf kürzeste Zeit allein gelassen hatte, trotzdem die Generalin und Kittie ihre Sorge für sehr überflüssig erklärten: dergleichen Anfälle habe Clementine schon hundertmal gehabt.

Clementine bestätigte das: sie habe sich wahrscheinlich auf der Heimfahrt von Wendelstein ein wenig erkältet, trotzdem aber eine ruhige Nacht gehabt, bis sie gegen Morgen von den altgewohnten Schmerzen in der Herzgegend geweckt wurde. Die Mittel, die ihr Doktor Balthasar für solche Fälle verschrieben, würden sich, wie immer, bewähren.

Aber die Mittel hatten sich nicht bewährt, und es war, auf Eleonores energisches Andringen, zu dem Doktor in die Stadt geschickt worden. Er hatte eine Untersuchung angestellt, eine bedenklichere Komplikation nicht gefunden, ein neues Mittel verschrieben, im übrigen nur die äußerste Schonung und Ruhe anempfohlen.

Das hatte soweit tröstlich genug geklungen, ohne Eleonore zu beruhigen. Der Tag hatte keine entschiedene Besserung gebracht; der Zustand war auch heute vormittag, wie Doktor Balthasar, der eben wieder dagewesen war, zugeben mußte, unverändert. Ja, wenn eine Verschlimmerung eingetreten wäre! Aber so – Fräulein Ritter könne ganz unbesorgt das Seefest heute abend mitmachen. Es sei sehr interessant, ja einzig in seiner Art; das Fräulein würde bedauern, nicht dabei gewesen zu sein. Er habe aller Welt zugeredet, hinzugehen, gestern noch der Baronin Randow, der in dem ewigen Einerlei der Wirtschafts- und häuslichen Sorgen eine kleine Zerstreuung dringend not thue. Grillen fangen sei schon das mißlichste Geschäft, auf das sich der Mensch einlassen könne.

Nichtsdestoweniger hatte Eleonore eben die Generalin gebeten, zu Hause bleiben zu dürfen.

Nun, was sagt Mama? fragte Clementine, als die Freundin wieder an ihrem Bett saß.

Sie wünscht dringend, daß ich mitkomme. Ich weiß nicht, warum, erwiderte Eleonore.

Ich glaube, ich kann es dir erzählen, sagte Clementine, mit bleichen Lippen lächelnd. Weil sie nicht merken lassen will, wie furchtbar es sie ärgert, daß die Gräfin dich so ausgezeichnet hat, und Guido dir in seiner bescheidenen Weise den Hof macht.

Du, närrisches Ding, hast nichts als Liebesgedanken im Kopf!

Ja, eine Vestalin, wie du, bin ich freilich nicht. Im Ernst, Schatz: wenn Guido eines Tages kommt und dir seine Grafenkrone zu Füßen legt, wirst du sie und ihn liegen lassen?

Er wird schon nicht kommen.

Aber wenn er kommt?

So habe ich immer noch Zeit, mir die Sache zu überlegen. Vorläufig sollst du schlafen, hat der Doktor gesagt.

Wer schlafen könnte! murmelte Clementine, vor sich hin auf die Bettdecke starrend.

Eleonore betrachtete sie eine Zeitlang schweigend mit ernstem, prüfendem Blick. Dann sagte sie: Clementine, gestehe es, dich quält etwas außer deinem Leiden, das vielleicht nur die Folge davon ist. Kannst du es mir nicht sagen?

Ich sorge mich so um dich! erwiderte Clementine, immer vor sich hinstarrend.

Um mich? Wie das? Weshalb?

Ich habe die bestimmte Empfindung, daß du es hier bei uns nicht mehr lange aushältst. Ich kann es dir auch gar nicht verdenken: sie sind bei allem ihrem freundlichen Gethue so neidisch auf dich, und das mit dem Englischlernenwollen ist nur leeres Gerede. Kittie ist viel zu faul dazu, sie hat nie was lernen wollen. Wenn du aber fortgehst, und ich soll wieder allein sein mit den beiden – das ist ein so fürchterlicher Gedanke. Und siehst du, da wäre es doch so schön, wenn du Guido heiratetest und würdest Frau Gräfin und brauchtest eine Gesellschafterin für deine müßigen Stunden und dächtest da an die arme Clementine und nähmst sie zu dir – aus bloßer Barmherzigkeit, weißt du! Dann hättest du auch deine Dame Brita, wie die Frau Schwiegermama, und – und –

Sie hatte das Gesicht in die Hände gedrückt und war in Thränen ausgebrochen.

Kind, Kind! rief Eleonore erschrocken; du sollst dich stillhalten und regst dich auf um nichts und wieder nichts! Ich will ja deinen Grafen heiraten, wenn er mir zum zweitenmale die Krone zu Füßen legt. Einmal hat er es schon gethan im Eisenbahnwagen – die Krone auf seinem kleinen Reisekoffer. Ich habe sogar die Füße darauf setzen müssen. Aber du begreifst, das genügte mir nicht. Es muß schon die wirkliche Grafenkrone sein, die von purem, achtzehnkarätigem Gold, mit der er abends zu Bett geht. Siehst du, nun mußt du selber über den Unsinn lachen. Sei mein gutes Kind und versuche zu schlafen! Ich habe ein paar Briefe zu schreiben; ich möchte sie noch gern dem Postboten heute nachmittag mitgeben. Ich lasse die Thür auf. Wenn du irgend etwas willst, rufst du mich.

Eleonore hatte bereits längere Zeit nebenan vor ihrer geöffneten Schreibmappe gesessen, bevor sie ein erstes Wort zu Papier bringen konnte. In ihrem Herzen, in ihrem Kopfe sah es traurig aus. Auf die wonnige Stunde gestern nacht, deren holdes Erinnern noch durch ihre wirren Träume geglitten war, ein schmerzlichstes Erwachen. Sie hatte gethan, was sie nicht durfte und nicht gewollt: Ulrichs Leidenschaft, die sie nach der Scene am Abend vorher in Zorn und Haß verwandelt glaubte, durch die eigene Leidenschaft zu neuer, fürchterlicher Glut entfacht. Sofort hatte sie ihm geschrieben: sie danke ihm aus der Tiefe ihrer Seele für seine Liebe, die sie, wie er jetzt wohl überzeugt sei, mit derselben Innigkeit erwidere; aber auf den Knieen flehe sie ihn an, er solle nicht weiter verlangen, daß sie sein Weib werde. Es sei völlig unmöglich. Niemals werde sie darüber wegkommen, daß sie, um glücklich zu sein, die Gattin des Gatten, die Kinder des Vaters habe berauben müssen. Wie schrecklich auch die Wahl, sie wolle doch lieber in seinen Augen feig und erbärmlich erscheinen und das Schmerzlichste über sich ergehen lassen, daß er an ihrer Liebe zweifle, als vor ihrem eigenen Gewissen gerichtet sein.

Es war die bange Klage des Briefes von jener letzten Nacht in Norderney, zusammengedrängt zu einem kurzen, verzweifelten Schrei.

Sie hatte den Brief gestern dem Postboten mitgegeben, der jeden Nachmittag zur bestimmten Stunde in Seehausen vorsprach. Daß sie dem Manne den Brief heimlich in die Hände spielen mußte, indem sie hinter ihm hereilte und etwas von Vergessenhaben stammelte, und der Mann, ohne eine Bemerkung zu machen, aber, wie ihr schien, doch mit einem verwunderten Blick auf die poste restante-Adresse den Brief in seine Tasche gleiten ließ – sie hätte vor Scham in die Erde sinken mögen. Nein, nein! Das ging so länger nicht, das ertrug ihr Stolz nicht. Mochte darüber sein und ihr Herz brechen – es ging nicht. Sie mußte fort.

Die Tante würde große Augen machen, wenn sie nach den paar Tagen wieder zurückkam. Da lag der Brief der Guten seit vorgestern unbeantwortet. Es war ein trauriger Brief. Don Fernando hatte also wirklich gekündigt, bereits am fünfzehnten wollte er die Pension verlassen. Er sagt, schrieb die Tante, daß Chile jetzt aller seiner Söhne bedürfe; aber ich weiß, daß er nicht nach Hause geht, sondern sich in der Krausenstraße möblierte Zimmer gemietet hat. Ich würde den Verlust verschmerzen – er war mir von allen meinen jungen Herren der am wenigsten sympathische – wenn mein Projekt, nun wieder Knaben, wie ehemals, in meine Obhut zu nehmen, sich realisieren wollte. Aber trotz meiner Annoncen in drei verschiedenen Blättern, selbst – ich schäme mich, es zu sagen – in einem oppositionellen, ist keine einzige Anmeldung bis jetzt erfolgt. Das teure Geld, wie ich nun fürchten muß, rein hinausgeworfen! Dazu bedarf mein armes, armes Tilchen in ihrer Schwäche so viel Wartung, daß ich Auguste – Emilie ist schon fort – nicht auch entlassen kann, trotzdem in meiner Lage eine Aushilfefrau schon ein Luxus ist. Und am ersten Oktober der Umzug in irgend eine mesquine Wohnung, nachdem ich die Hälfte von den Möbeln, die so fest an mein altmodisches Herz gewachsen sind, verkauft habe! Wenn der liebe Gott nicht weiter hilft, ich weiß nicht, was aus deinen armen Verwandten werden soll.

Die gute alte Frau! Wie würde ihr altmodisches Herz vor Freude hüpfen, wenn ich ihr schreiben könnte: Liebes Tantchen, erlaube der Verlobten des Grafen Guido Wendelin ... und ich denke, es kann deinen Stolz nicht beleidigen, wenn in Zukunft die Frau Gräfin Nichte ... ah!

Eleonore fuhr sich mit der Hand über die Augen, als stünde da ein Bild, das sie wegwischen müsse, und schrieb mit fliegender Feder ein paar Zeilen, in denen sie der Tante Mut einzusprechen versuchte, hinzufügend, daß voraussichtlich nur noch wenige Tage vergehen würden, bis sie, ihrer jetzigen Situation bereits mehr als müde, wieder in Berlin sei, wo man dann gemeinschaftlich beratschlagen wolle, wie man der Not des Augenblicks und der Zukunft steuern könne.

Es war leeres Gerede, sie wußte es wohl; aber wenn man nichts zu sagen hat, was kann man andres thun als Worte machen?

Sie hatte sich an die offene Thür geschlichen: Clementine lag still und schien eingeschlafen zu sein.

Da war wieder eine, die der Hilfe bedurfte, die hilfeheischend zu ihr aufblickte, und der sie nicht helfen konnte. Ah, dies schreckliche, dies zermalmende Bewußtsein der Ohnmacht, wenn die Phantasie nach allem Höchsten und Schönsten greift, und man fühlt, daß es kein leerer Traum wäre, wenn die elende Wirklichkeit die Kraft, die sich da in Kopf und Herz regt, nicht zur Thatenlosigkeit verdammte!

Sie war wieder zum Schreibtisch zurückgeschlichen und hatte aus der Mappe Borykines Brief genommen, den sie am letzten Tage in Berlin erhalten und, weil er so toll war, nicht hatte beantworten wollen. Heute hatte sie Sympathie für diese Tollheit, die mit dem Leben, das keine vernünftige Chance bietet, va banque spielt.

Und ein übermütig-toller Brief wurde es, ein Preis des Nihilismus, nicht des russischen, der sich noch mit der Aspiration quält, in dieses Chaos Ordnung bringen zu wollen, sondern des Weltnihilismus, der begriffen hat: es ist nichts, schlechterdings nichts mit Liebe und Haß, Freude und Schmerz, Lust und Unlust, und kein Heil als in Nirwana, das jeden Trieb der Seele und des Herzens stillt, indem es alle auslöscht.

Ein langer Brief, den sie nicht wieder durchlesen mochte, als er fertig war. Sie hatte es satt, dies zu sagen, um es im nächsten Augenblicke zu widerrufen, jenes zu thun, um alsbald zu bereuen, daß man es gethan.

Ein paar Stunden später stand sie, zum Fest angezogen, vor Clementines Bett.

Wie schön du bist! sagte Clementine; kein Wunder, daß die Weiber dich hassen und die Männer lieben. Suche dir heute einen aus, der gut und bescheiden ist, weißt du; und von dem du sicher bist, daß er dich nicht mit Eifersucht quälen wird und überhaupt nichts wollen, als dich lieben und glücklich machen.

Ich fürchte, das Ganze möchte ein wenig langweilig werden, sagte Eleonore; aber ich will sehen. Unter der Bedingung, daß du unterdessen ganz artig bist und mich, wenn ich am Abend zurückkomme, mit deinen lieben Augen freundlich anlächelst.

Ich will mir gewiß die größte Mühe geben. Und nun noch einen Kuß! du Liebste, du Beste, du mein alles!


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