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Sechstes Kapitel.

Seit dieser Stunde konnte man die beiden öfter und oft beisammen sehen. Es schien sich aber, zu ihrer Genugthuung, niemand um sie zu kümmern. Die Herrschaften, welche Ulrich am Kaffeetische des Badedirektors kennen gelernt hatte, ebenso sein Universitätsfreund von Odebrecht. Wenigstes war er ihm nicht wieder begegnet. Eleonore kannte niemand, war von niemand gekannt. Ulrich hatte sich vorher so wenig in die Badegesellschaft gemischt, daß er und sie, wenn sie jetzt jezuweilen auf der Promenade erschienen, für ein eben angekommenes Ehepaar gehalten werden mochten. Oder auch für Bruder und Schwester. Für welches letztere eine gewisse Aehnlichkeit, die beide in dem schlanken Wuchs, dem dunklen Haar, vielleicht selbst im Schnitt der Züge oder doch im Ausdruck hatten, zu sprechen schien, und der Umstand, daß sie niemals Arm in Arm gesehen wurden.

Sie hatten sich einander gute Kameradschaft zugesagt und ließen es sich angelegen sein, ihre Zusage zu halten. Noch sollte Eleonore aus seinem Munde die erste Phrase hören; aber erwartete oder fürchtete auch keine mehr, wie bei den ersten Begegnungen: sie hatte sich längst überzeugt, daß seine ritterliche Höflichkeit ihm aus dem Herzen kam. Noch sollte Ulrich in ihrem Benehmen etwas entdecken, was der Koketterie auch nur ähnlich gesehen hätte: sie blieb sich immer gleich in ihrer herzlichen Freundlichkeit, ihrer schönen Offenherzigkeit, die von der kleinlichen Scheu, mit der andere Menschen ihre Worte abwägen, nichts zu wissen schien. Auf seine Familien- und sonstigen Verhältnisse waren sie nicht wieder zu sprechen gekommen. Sie fragte nicht weiter, und er wußte es ihr Dank. Er hatte ihr mitgeteilt, was sich mitteilen ließ. Das Dahinterliegende hätte er in seiner jetzigen Stimmung sich am liebsten aus dem Sinne geschlagen, nur daß es sich ihm immer wieder aufdrängte und dastand in einem Lichte, in welchem er es nie zuvor gesehen, und das, je heller es wurde, ihn um so mehr erschreckte. Dafür hatte sie ihm denn bei verschiedenen Gelegenheiten bald dies, bald jenes aus ihrem Leben erzählt; er konnte sich, wenn er die Fragmente zusammenfügte, ein Bild von ihrer Vergangenheit machen.

Wie anmutig war die Schilderung ihrer Kindheit gewesen, die sie in dem herzoglichen Lustschlosse, dessen Hauptmann ihr Vater, ein pensionierter Offizier, war, und in dem wundervollen Schloßpark verleben durfte! Und in dem kleinen Städtchen, das am Fuße des Schloßberges lag, mit seinen antiquierten Giebelhäusern und altmodischen Bewohnern, die so ehrbar vergnüglich dahinvegetierten! Und dann in dem Herrnhuterinnenstift, in welches die Eltern das junge Mädchen gethan hatten, daß sie stark bleibe in der Gottesfurcht und Ehrerbietung für ihren Landesvater – einen Jüngling, nicht viel älter als sie, mit dem sie hundertmal im Schloßpark gespielt hatte, und für den, bis er großjährig war, ein gestrenger Herr Oheim mächtig des liliputanischen Landes waltete – und alle die schönen Siebensachen lerne, die so wünschenswert für ein Mädchen sind, dessen Schicksal nach dem Ableben der vermögenslosen Eltern voraussichtlich unter dem lieblichen Dreigestirn: Lehrerin, Erzieherin, Gesellschafterin stehen wird. Inzwischen ein sonniges Idyll in dem Stift mit den vielen gleich lebensneugierigen Altersgenossinnen unter der Obhut der guten Schwestern, die so strenge Miene machen und so freundlich durch die Finger sehen konnten. Dann hatte eine tückische ansteckende Krankheit, die in dem Heimatstädtchen ausbrach und von der Mutter zum Lohn für ihre werkthätige Liebe aus dem Städtchen in das Schloß hinaufgetragen war, sie und den bereits alternden Vater nur zu früh weggerafft. Sie war nun noch ein Jahr lang in dem Stift geblieben, wo man sie am liebsten ganz behalten hätte und sie auch nicht ungern geblieben wäre, nur daß die Lebensneugier über den Hang zum Brüten und Sinnen schließlich doch den Sieg davongetragen und sie vorerst nach Berlin zu der einzigen Verwandten, ihres Vaters Schwester, geführt hatte, einer verwitweten Geheimrätin, die sich mit ihrer bereits erwachsenen Tochter schlecht und recht durchs Leben brachte, indem sie ihren kärglichen Mitteln durch eine Pension für junge Ausländer aufzuhelfen suchte. Der Aufenthalt bei der Tante, einer braven, wenn auch stark pedantischen Frau, und der Cousine, einem seelensguten Mädchen, das leider nur bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit in Thränen zerfloß, wäre ganz erträglich gewesen – ohne die Pensionäre. Aber es war ja von vornherein nur auf eine Station zwischen dem Stift und dem Leben in der Fremde unter fremden Leuten abgesehen. So ging sie denn ein halbes Jahr darauf nach England, ausgestattet mit den Segenswünschen ihrer Verwandten und den Erklärungen ewiger Liebe und Treue bis in den Tod seitens der sechs ausländischen Jünglinge, von denen glücklicherweise keiner das vielversprechende Alter von sechzehn Jahren überschritten hatte. In England trat sie zuerst als Governeß in das Haus eines reichen Londoner Kaufmanns, der einen Monat später fallierte, dann in das eines schottischen Lords, wo sie vier Jahre blieb, bis die ihr anvertraute jüngste Tochter in die Gesellschaft eingeführt und der Königin vorgestellt werden konnte. Dies wichtige Ereignis hatte vor vierzehn Tagen stattgefunden. Nun war sie in die Heimat zurückgekehrt, vorzüglich in der Absicht, ihre Gesundheit, die in letzter Zeit etwas gelitten hatte, zu kräftigen, bevor sie ein neues Engagement annahm.

Wenn so die Umrisse ihres jungen zweiundzwanzigjährigen Daseins schnell genug gezogen werden konnten, umschlossen sie doch einen reichen Inhalt, der sich freilich zumeist auf die letzten vier Jahre konzentrierte. Der Lord war ein fanatischer Reisender gewesen und hatte das Prinzip gehabt, seine ganze Familie mit auf die Reise zu nehmen. So war Eleonore während dieser Zeit nicht weniger als dreimal nach Paris gekommen, jedesmal auf eine halbe Wintersaison. Sie hatte den skandinavischen Norden kennen gelernt so gut wie Südfrankreich, Spanien, zuletzt Italien, von wo dann die Tour in den Orient beschlossen und auf der Stelle ausgeführt war. Da mußten dann freilich bei ihr, die sich stets in der großen Gesellschaft bewegt hatte, die sichere Haltung, die Redegewandtheit, die Kunst, sich bei aller Einfachheit mit feinster Eleganz zu kleiden, und jene übrigen Vorzüge wohl erklärlich sein, durch welche sich eine Weltdame vor andern auszeichnet; aber eines blieb Ulrich unbegreiflich: sie schien – wenigstens in der neueren Litteratur – alles gelesen zu haben. Dabei war sie, wie er sich jetzt überzeugt hatte, eine so tüchtige Zeichnerin und Aquarellistin, daß sie wohl auf den Rang einer Künstlerin hätte Anspruch machen können.

Wo um Himmels willen haben Sie nur die Zeit zu dem allen hergenommen? fragte er erstaunt.

Einmal übertaxieren Sie mich, erwiderte sie, und das, was etwa übrig bleibt, habe ich, wenn Sie noch ein bißchen Lust und meinetwegen eine bescheidene Dosis Talent hinzurechnen, zwei besonderen Umständen zu verdanken. Ich habe nie eine Minute meines Lebens mit Klavierklimpern verloren und war schon als ganz junges Mädchen eine schlechte Schläferin, die wohl oder übel zahllose Stunden, die andre verträumen, mit Lesen hinbringen mußte. Sodann: fremde Sprachen lernen sich spielend leicht, wenn man in den Ländern lebt, in denen sie gesprochen werden. Und was die Malerei betrifft – in der Familie meines Lords wurde von den Damen, alt und jung, wütend aquarelliert und gezeichnet. Ich muß noch lachen, wenn ich uns alle auf dem Deck eines Dampfers oder des Nilbootes, um eine Sennhütte herum, an dem Ufer eines Baches hin, der sich durch englische Wiesen schlängelte, an den Hängen eines schottischen Hochlandshügels sitzen und das dümmste Zeug, das wir einander als unsterbliche Meisterwerke anpriesen, auf Papier oder auf die Leinwand stümpern sehe. Denn ich sündige auch in Oel, daß Sie's wissen. Dazu hatten wir in London und Paris die besten Lehrer, die für Geld und gute Worte zu haben waren. Ist es Ihnen nach alledem noch ein Wunder, daß ich es so herrlich weit gebracht?

Und doch waren ihre »small accomplishments«, wie sie zu sagen pflegte, nicht das, was ihm bei dem seltenen Mädchen das weitaus Köstlichste schien. Tiefer, weit tiefer als ihre Kenntnisse und ihre Talente, die ja auch andre sich angeeignet und ausgebildet haben mochten, bewunderte er die Schärfe und Klarheit ihres Denkens und den Mut, der sie vor keiner Konsequenz zurückschrecken ließ, wenn sie auf dem Wege ihrer Gedanken lag. Ueber Gott und Welt, über Staat und Gesellschaft, über die Menschen und ihre privaten Beziehungen zu einander, über Freundschaft, Liebe, Ehe hatte sie tiefsinnige Betrachtungen angestellt und war zu Resultaten gekommen, von denen sie selbst sagte, sie werde sich wohl hüten, sie dem ersten besten preiszugeben. Aber wie kühn – für ein Mädchen doppelt kühn – auch vieles war, was sie vorbrachte und zu dem sie sich frei bekannte, ihr Ausdruck blieb immer maßvoll, nie entschlüpfte ihren Lippen ein unschönes oder gar unkeusches Wort.

Ich meine, sagte sie einmal, als sie auf die Grenze zu sprechen gekommen waren, über die nach der landläufigen Annahme eine Frau auch im Denken nicht hinausgehen darf, ohne ihre Weiblichkeit einzubüßen, daß das Wissen niemals unschön und noch weniger gemein sein kann, nur das Wollen und Wünschen, die dann das unschöne und gemeine Handeln in leidigem Gefolge haben. Ich bin eine Fanatikerin des Wissens und so eifersüchtig darauf bedacht, ihm seine Reinheit zu erhalten und seine Macht zu vergrößern, daß ich ihm, glaube ich, jedes Opfer des Wollens und Wünschens bringen könnte.

Aber war das nicht etwa, wenn auch sicher keine bewußte Unwahrheit, so doch eine jener Selbsttäuschungen, denen gerade hochstrebende Seelen so leicht ausgesetzt sind?

Ulrich fragte es sich wieder und wieder, wenn er in diese dunklen Augen sah, die so oft in einem seltsamen Feuer erglänzten, das dann urplötzlich verschwand, wie die Sonne, die sich in Wolken hüllt; wenn er das Spiel dieser Lippen sah, die so herzlich lachen konnten und um die es dann, vielleicht schön im nächsten Moment, so schmerzlich-wehmutvoll zuckte. Es schien undenkbar, daß diese Augen nie in Liebeslust und -leid geglänzt und geweint, diese Lippen nie im Kuß gebebt und gezuckt hätten. Ein so vor Tausenden ihres Geschlechts bevorzugtes Geschöpf konnte nicht durchs Leben gehen, ohne zahllose Männerherzen erglühen zu machen, und sie sollte unter allen diesen Herzen nicht eines gefunden haben, dem wieder ihr Herz entgegengeschlagen hätte? Es gab doch nicht nur Pensionäre unter sechzehn Jahren, über deren Liebesschmerzen eine junge Schöne freilich leicht in der Erinnerung übermütig lachen mochte. Waren da keine anderen Erinnerungen in ihrem Leben? War sie an allen Männern so achtlos vorübergeschritten, wie an den Herren auf der Strandpromenade, unter denen kaum einer war, der sie nicht bei der Begegnung scharf fixiert oder sich gar hinter ihrem Rücken nach ihr umgewandt hätte?

Im Anfang hatte er gemeint, es handle sich bei dem allem für ihn nur um ein psychologisches Interesse, um das natürliche Verlangen, in die Tiefen einer Seele zu blicken, die dem auch nur oberflächlichen Betrachter so viel Merkwürdiges bot. Dann hatte er sich gesagt: Es kann dem Freunde nicht gleichgültig sein, wie es um ihr Herz steht. Würde es dir doch eine so innige Freude bereiten, dies köstliche Geschöpf glücklich zu wissen! Dich selbst so glücklich machen, könntest du ihr raten, wenn sie des Rates, helfen, wenn sie der Hilfe, Trost spenden, wenn sie des Trostes bedarf, ihr, die nicht Eltern und Geschwister und, wie es scheint, auch sonst niemand auf der Welt hat, dem sie volles Vertrauen schenken, bei dem sie im Notfalle ihre Zuflucht nehmen könnte!

Aber wenn er für sie nur dieses allgemeine Interesse, diese freundschaftliche Teilnahme empfand, welch sonderbar beklemmendes, schmerzliches Gefühl war dann das, ohne welches er sehr bald – schon nach wenigen Tagen – diesen Gedanken nicht mehr nachhängen konnte? Das schien dann doch keine interesselose Teilnahme mehr; das schmeckte bedenklich nach Eifersucht, wenn es nicht die pure Eifersucht war. Eifersucht auf den Mann, den sie irgend einmal geliebt hatte oder jetzt liebte – jetzt, während sie heiter plaudernd an seiner Seite ging – oder später einmal, nachdem sie sich getrennt, lieben würde, und der das wahnsinnige Glück haben sollte, sie die Seine nennen zu dürfen. Gab es einen Mann, der dieses Glückes würdig war? Nein, tausendmal nein! Er brauchte von sich selbst nicht niedrig zu denken und that es nicht. Aber wie weit, wie weit war es von ihm zu ihr! Und doch, es ist nicht anders: ohne Wahl und Billigkeit verteilt das Glück seine Gaben. Irgend einer würde doch einmal das große Los ziehen auf Kosten der andern, denen es eine Niete in die verlangend ausgestreckte Hand drückt.

Und dann schreckte Ulrich aus so bösem Geträume auf und schalt sich einen Thoren. War es nicht eine ausbündige Thorheit, sich durch solche Grillen um das Glück von Stunden bringen zu lassen, die nur zu bald dahingeschwunden sein würden? Stunden, so köstlich, wie er sie nie im Leben genossen hatte, und niemals, niemals wieder genießen würde? Stunden, die eigens dazu vom Himmel ausersehen schienen, ihn schadlos zu halten für seine dürftige Vergangenheit und für die Oede, mit der ihn die Zukunft angähnte? So war es fraglos sein gutes Recht, die wonnige Gegenwart in vollen Zügen auszukosten, und kein Verbrechen, wenn er ihre Spanne um ein weniges zu verlängern suchte.

Denn schon fehlten nur noch zwei Tage bis zum Ende der Woche, welche die letzte seines Aufenthalts an der See hatte sein sollen. Er mußte sich entscheiden.

Zwar zu entscheiden gab es eigentlich nichts mehr; es galt nur noch den Brief zu schreiben, in welchem er Hertha seinen Entschluß, noch ein paar Tage, eine Woche vielleicht, länger auszubleiben, ankündigte und durch schickliche Gründe motivierte. Aber wo diese schicklichen Gründe finden? Die Nachrichten von zu Hause lauteten zwar gut, aber es war unmöglich, daß in der großen Wirtschaft nicht so manches gegen seinen Wunsch und Willen geschehen sein sollte, und es wieder ins rechte Geleis zu bringen mußte um so schwerer fallen, je länger er fortblieb. Sodann: die Ernte war in vollem Gang. Früher hätte er sich nicht träumen lassen, er könnte es je übers Herz bringen, in dieser Zeit nicht auf seinem Posten zu sein. Woher nun also die schicklichen Gründe nehmen? Und irgend ein Märchen zu erfinden oder gar zu einer offenen Lüge seine Zuflucht zu nehmen – nein! lieber die Pforten des Paradieses voll Licht und Sonnenschein hinter sich zuschlagen hören und wieder in das graue Leben zurückkehren, das ihm Mühe und Arbeit erträglich machen würden wie zuvor.

Da, als er sich eben hinsetzen wollte, Hertha seine demnächstige Rückkehr zu melden, kam ein Brief von ihr. Sie war so glücklich, daß es ihm in letzter Zeit ja entschieden besser zu gehen schien. Nun solle er aber auch nicht ungeduldig werden und die Kur, die sich jetzt so gut anlasse, abbrechen, weil die Zeit, welche er habe ausbleiben wollen, abgelaufen sei. Er komme vielleicht so bald nicht wieder vom Hause fort. Und zu Hause stehe alles nach Wunsch. Mit der Roggenernte seien sie so gut wie fertig; bis man mit der Weizenernte beginne, müsse so wie so noch eine Woche gewartet werden, sage Pasedag, dessen Eifer sie nur loben könne. Und daß sie selbst jeden Tag draußen gewesen sei und nach dem Rechten gesehen habe, brauche sie wohl nicht zu versichern. So möge er in Gottes Namen noch eine Woche oder so fortbleiben. Das Leben ohne ihn sei freilich erbärmlich genug, und das Haus komme ihr völlig verödet vor trotz der Kinder. So etwas müsse eben ertragen werden.

Der Brief schloß mit den obligaten »tausend Küssen«.

Die Erleichterung, welche Ulrich während des Lesens verspürt, war verschwunden, sobald er bis zu Ende gekommen. Es war ein schweres Opfer, das ihm Hertha brachte. Durfte er es annehmen in einem so ganz andern Sinne, als in welchem es gebracht war? Würde sie ihm zugeredet haben, zu bleiben, hätte sie ihn Tag für Tag an der Seite Eleonores gesehen?

Aber war denn die Wonne, die ihm ihre Nähe gewährte, ein Verbrechen? ein Verbrechen, daß er diese Wonne noch ein paar armselige Tage länger genießen wollte? Ja, wenn er sie geliebt hätte! Das that er doch nicht, oder doch nicht anders, wie man den warmen Sonnenschein liebt, wenn man lange im Schatten gestanden hat. Und die Sonne selbst! Lieber Himmel, sie steht so hoch und weiß nichts von dem armen Menschenkinde da unten, an dem sie zur Wohlthäterin wird. Und wird so weiter scheinen, wenn über das Menschenkind längst schon wieder der altgewohnte Schatten fällt.

Ihnen ist etwas Unangenehmes begegnet? fragte Eleonore, als sie sich am Mittag gewohnterweise in Otterndorfs Restaurant trafen.

Wenn Sie die Erlaubnis, noch acht Tage länger zu bleiben, die ich eben von meiner Frau bekommen habe, so nennen wollen.

Wie kann ich das beurteilen?

Dennoch möchte ich wenigstens Ihren Rat haben.

Den ich Ihnen geben will unter der Bedingung, die Goethe stellte, wenn ihn jemand um Rat bat.

Die war?

Den, den er geben würde, nicht zu befolgen.

Wenn Sie ausnahmsweise einmal nicht scherzen wollten!

Ausnahmsweise ist gut! Also nun im Ernst: um was handelt es sich?

Darum.

Und Ulrich teilte ihr aus dem Brief seiner Frau mit, was sich eben mitteilen ließ.

Ich fürchte, schloß er, ich bin zu Hause nötiger als meine Frau es Wort haben will. Auf der andern Seite müßte ich sträflich lügen, wollte ich sagen, daß ich mir für meine sogenannte Gesundheit von einem längeren Aufenthalt hier irgend einen Vorteil verspreche, wie denn diese ganze Gesundheitsfrage eine Erfindung meiner Frau und unsres Arztes ist. Aber dann fühle ich mich hier so wohl und glücklich, und wer möchte einem solchen Zustand nicht die möglichst lange Dauer geben?

Eleonore hatte, während er sprach, vor sich niedergeblickt.

Nun, was sagen Sie? fragte Ulrich ungeduldig, als ihre Antwort ausblieb.

Sie hob die Augen, bis sie in den seinen ruhen blieben, und sagte langsam und leise: Sie haben eine sehr gute Frau.

Ich wäre der letzte, der es in Abrede stellte, erwiderte Ulrich. Aber das kann unmöglich Ihre Antwort sein.

Zum Teil doch, und der Rest dürfte Ihnen etwas orakelhaft klingen. Ich habe nämlich immer gefunden, daß man gut thut, von zwei gleich wichtigen Entschlüssen, deren einer uns leicht, der andre schwer wird, den letzteren zu fassen.

Weshalb?

Weil die Gründe für den leichten Entschluß immer auf der Hand zu liegen scheinen, während die für den schweren zwar auch zu finden wären, nur daß wir uns die Mühe des Suchens nicht geben wollen.

Sie meinen also, daß ich reisen soll?

Ja, das meine ich.

So werde ich bleiben.

Wie das?

Haben Sie mir nicht eben erst gesagt, ich solle das Gegenteil von dem thun, was Sie mir raten werden?

So thun Sie, was Sie nicht lassen können! Das ist mein letztes Wort.

Ich könnte mir kein lieberes wünschen.

Sie sind unverbesserlich.

Ich muß es wohl sein, wenn selbst Ihre Macht an mir erlahmt.

Sollte das nicht Ihre erste Phrase sein?

Sie lachten beide; aber, so oder so, es war nicht mehr das unbefangene Lachen der ersten Tage, und sie beeilten sich, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen.


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