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Es war acht Tage später. Tilchen mußte noch immer das Bett hüten, auf das die Aufregung der Schreckensnacht sie geworfen, nachdem die schmerzvollen Erfahrungen der vorhergegangenen Tage ihr reizbares Nervensystem so grausam erschüttert hatten. Der alte, seit einem Menschenalter befreundete Hausarzt kam jeden Morgen und verordnete absolute Ruhe, starken Rotwein und Cognak. Die Geheimrätin verließ das Zimmer ihres kranken Kindes nur, um bei den Mahlzeiten zu präsidieren in tadelloser Toilette, die lange goldene Uhrkette – eine Hinterlassenschaft ihres »braven Bucher« – über dem altmodischen Herzen, mit jedem Tage mehr ein Bild der thränenreichen Hekuba. Auf die Frage nach Tilchens Befinden antwortete sie mit einem schmerzlichen Achselzucken oder, wenn man weiter in sie drang, mit einem: »Was soll ich sagen? Sie klagt nicht, das heroische Kind. Große Seelen dulden eben still«. – Don Fernandos spanischer Stolz litt unter dem Bewußtsein, daß man ihn in der verhängnisvollen Nacht in einem so beklagenswerten Zustande angetroffen hatte. Er war sehr trübsinnig geworden, ließ den Henriquatre keinen Augenblick in Ruhe, klagte mehr als je über die Leiden seines Vaterlandes, das, wie es schien, wieder vor einer jener Katastrophen stand, in denen es jedes seiner Patrioten bedurfte. Für Eleonore war er von zweifellos immer noch sehr ritterlicher, aber eisiger Höflichkeit. Gegen Auguste, die er auch sonst mit seinem Vertrauen beehrte, hatte er geheimnisvolle Hindeutungen auf eine Löwenhöhle gemacht, in die zwar sehr viele Spuren hinein, aber aus der keine herausführten. Die Köchin Brigitte, eine phlegmatische, aber phantasiereiche Oesterreicherin, erklärte: der chilenische Kater sei halt a bissel stark verliebt in das gnädige Fräulein Eleonore, gerade wie der japanische Aff' und der russische Bär es auch gewesen.
Eleonore hatte ihre ganze Zeit für sich. Sie hätte in ihrem stillen Zimmer nach Herzenslust schreiben und malen können – sie hatte keine Feder eingetaucht, keinen Pinsel angerührt. Wozu auch? Vergnügen gewährte ihr die Arbeit in dieser herabgedrückten Stimmung keine, und ein praktischer Zweck ließ sich nicht länger absehen. Ihre Aquarelle waren aus dem Ausstellungssaale zurückgekehrt; trotz der günstigen Besprechungen hatte kein einziges einen Käufer gefunden. An den Chefredacteur des Blattes, der ihre erste kleine Skizzenserie mit so überschwenglichen Ausdrücken des Lobes angenommen, hatte sie eine zweite größere geschickt, die derselbe Herr fast umgehend in einem kurzen, kühlen Briefe zu seinem Bedauern ablehnen mußte. Das geehrte Fräulein werde sich doch selber sagen, daß er seine Leser mit English High-Life-Notes nicht überfüttern dürfe. In der neuen Serie aber hatte sie die Eindrücke ihrer ägyptischen Reise zu einer ausführlichen Schilderung des Nillandes und seiner Bewohner verwertet; der Herr Redacteur also auch nicht einmal den flüchtigsten Blick in das Manuskript geworfen. Das wäre sicher nicht geschehen, hätte ihr der einflußreiche Freund noch zur Seite gestanden.
Sie hielt einen Brief von ihm in den Händen, der eben durch die Stadtpost unter einer von fremder Hand geschriebenen Adresse gekommen war, und den sie jetzt zum zweitenmal las:
»Mein teures Fräulein!
Diese Zeilen werden einen Tag später zu Ihnen gelangen durch die Vermittlung eines sichern Berliner Freundes – ein Brief direkt aus Zürich an ein Mitglied der »Familie«, die das räudige Schaf so lange geduldet hat, dürfte gefährlich sein. Nicht für mich. Rechtzeitig gewarnt, hatte ich einen Vorsprung von beinahe zwölf Stunden vor meinen Verfolgern. Das war mehr als genügend. Und da ich wie von meinem Leben überzeugt sein durfte, daß gewisse Papiere, für deren Herbeischaffung die russische Polizei eine Million geben würde, inzwischen in Rauch aufgegangen waren, konnte ich meine Flucht, bei der es manchmal recht abenteuerlich zuging, mit gutem Humor fortsetzen und zu Ende führen. An meiner armseligen beschlagnahmten Habe ist mir nichts gelegen, außer an dem chirurgischen Besteck. Ich hatte es von Bodkin, dem Leibarzt der Kaiserin, dessen Lieblingsschüler ich war, und der mich oft, halb im Ernst, halb im Scherz, seinen Nachfolger nannte. Schade, ich hätte einen so guten kaiserlichen Leibarzt abgegeben! Die Welt würde zu reden bekommen haben!
Wie lange ich mich hier aufhalten werde, vielmehr werde aufhalten können, wird von tausend Umständen abhängen, die sich meiner Kontrole vollständig entziehen, (siehe Mr. Mickawber in Dickens Copperfield, den Sie mir zu lesen gaben!) Wenn Sie mir die Gnade einer Antwort erweisen wollen – und ich bin sanguinisch genug, das zu hoffen – schreiben Sie, bitte, nicht an meine Adresse, die für die Post introuvable sein würde, sondern an die noch bescheidenere des Herrn Schuhmachermeisters Alois Henzi.
Und nun sollte ich eigentlich diesen Brief schließen; aber man thut ja wohl nicht immer, was man sollte? Oder Don Fernando müßte seinem famosen Henriquatre mehr Ruhe gönnen; Herr Nakamura befreundeten Nachbarn keine nächtlichen Visiten mit dem bloßen Krummsäbel in der Hand abstatten und sie schließlich gar an den Galgen liefern wollen; Frau Geheimrätin weniger oft an ihr altmodisches Herz appellieren und Fräulein Tilchen endlich die Kinderschuhe ausgetreten haben. Setzen Sie es auf Rechnung dieser verführerischen illustren Beispiele, wenn auch ich etwas thue, was ich gar nicht zu thun brauchte, da Sie es längst wissen, nämlich sage, daß ich Sie liebe, anbete oder welchen Ausdruck die deutsche Sprache noch sonst für eine höchste Leidenschaft hat. Eine andre freilich können Sie gar nicht einflößen: Sie, deren Geisteshoheit und Charaktergröße nicht einmal von dem Liebreiz Ihrer Erscheinung und der Anmut ihres Wesens übertroffen werden. Und das will gewiß etwas sagen für jeden, der das unaussprechliche Glück hatte, in Ihrer Nähe weilen zu dürfen, wenn es für Sie, die Stolzbescheidene, auch nur Worte – Worte sind. Ja, Du Königin der Mädchen, Du ahnst ja nicht, wie schön und herrlich Du bist! wie allmächtig Dein Blick! welch berückender Zauber in Deinem Lächeln! wie jede Deiner Bewegungen an eine Blume mahnt, die sich auf schlankem Stiel im lauen Sommerwind wonnevoll hinüber und herüber biegt! Ahnst ja nicht, welche Gewalt ich mir habe anthun müssen, um nicht vor Dir hinzuknieen: ich bin Dein Sklave! Schalte meine Herrin mit mir, wie's ihr beliebt!
Dein Sklave, Du schönstes Weib und – Dein Herr! Nein, ziehe nicht zornig die dunklen Brauen zusammen! Weg mit dem hohnvollen Spott um Deine weichen Lippen! Wo Gregor Borykine Sklave ist, muß er auch Herr sein. Das verstehst Du heute noch nicht und hassest mich in diesem Augenblick; aber meine Stunde wird kommen. Wann? Ich will es Dir sagen: wann Du erkannt haben wirst, daß Du nur einen Mann lieben kannst, und sie, die Dich anschmachten, keine Männer sind. Stelle sie auf die Probe! Er, der Dich liebt und sich durch ein Hindernis, es sei, welches es sei und habe den ehrwürdigsten aller Namen, in seiner Werbung um Dich auch nur beirren läßt – ist kein Mann. Er, der um Dich wirbt, und Du sagst ihm: ich will Dich nicht, und er reißt Dich nicht in seine Arme und trägt Dich davon, wie der Römer das Sabinerweib – ist kein Mann. Freilich ein Mann, wie ich es verstehe, ist sehr selten, gerade so wie das Weib, das ich meine. Aber dieser Mann und dieses Weib gehören zusammen und müssen einander suchen, bis sie sich gefunden haben.
Wie wir einander suchen und – finden werden.
Ich bin dessen so gewiß, wie ich atme.
Und nun, mein gnädiges Fräulein, leben Sie für heute wohl! Meine Wera, die Sie bereits abgöttisch liebt, schickt Ihnen einen Schwesterkuß. Ich aber mache meine Verbeugung so gemessen, daß selbst das altmodische Herz damit zufrieden wäre, und bleibe Ihr – vorderhand – Sklave
Gregor Borykine.«
»P. S. Bitte, verbrennen Sie dies sofort, sowie jede Zeile, die ich Ihnen schreibe!«
Eleonore saß mit auf die Kniee gestemmten Ellbogen, den Brief in der herabhängenden Rechten, auf dem Rande ihres kleinen Sofas, nachdenklich und traurig. Wie gut er sie kannte: »stolz-bescheiden!« Aber doch weniger bescheiden als stolz. Er, der dich liebt und sich durch ein Hindernis beirren läßt! – Nun ja! sie selbst hatte Ulrich gesagt, daß dies Hindernis unübersteiglich sei. Aber der hier sagte: es giebt kein unübersteigliches Hindernis für einen, der liebt und ein Mann ist. Hatte er nicht recht? Und wenn er es hatte, und er liebte sie und war der Mann, würde er dann nicht, wie er hier prahlte, der Sieger bleiben? und die Stunde kommen, wo er seine Siegerrechte geltend machte gegen den andern, der sich durch ein Hindernis beirren ließ und sie also nur zu lieben vorgab, sie nicht wahrhaft liebte, nicht wahrhaft ein Mann war?
Ein Schauder überlief sie, der Brief entglitt ihrer Hand; sie strich das Haar aus der Stirn.
Pah! sagte sie, du beschwörst Gespenster am hellen Tage und wunderst dich, daß dir bang ums Herz wird. Früher nahmst du solche Dinge leichter. Es ist die höchste Zeit, daß du von hier fortkommst: diese philisterhafte Sentimentalität steckt an.
Sie hob den Brief auf und verbrannte ihn, wie der Absender es verlangt, nachdem sie zuvor seine Züricher Adresse in ihr Taschenbuch geschrieben. Dann nahm sie aus dem Buche einen Ausschnitt aus der Kreuzzeitung von gestern.
»Eine Frau von Stande sucht für sich als Stütze und als Gesellschafterin für ihre zwei erwachsenen Töchter eine junge Dame christlicher Konfession, aus guter Familie, die sich bereits in vornehmen Häusern bewährt hat. Angenehmes Aeußere wünschenswert; musikalische Bildung nicht erforderlich; dagegen Fertigkeit in neueren Sprachen, vorzüglich im Englischen, obligatorisch. Alles Nähere nur mündlich.«
Dann war noch die Straße Unter den Linden und die Hausnummer angegeben und die Sprechstunde: zwei bis vier.
Da wäre ich also wieder bei meinem Ausgang angelangt, murmelte Eleonore. Es ist, recht betrachtet, sehr traurig. Aber was bleibt mir andres übrig?
Sie sah nach der Uhr.
Noch eine volle Stunde. Ein Ocean von Zeit für einen rettenden Engel.
Sie schrak unwillkürlich heftig zusammen, als in demselben Momente an ihre Thür gepocht wurde. Es war Auguste mit einer Visitenkarte: oben die neunzackige Krone, darunter Graf Guido Wendelin.
Was soll ich dem Herrn sagen? fragte Auguste, da das gnädige Fräulein, ohne etwas zu erwidern, auf die Karte starrte.
Hat der Herr nach mir gefragt?
Erst nach der Frau Geheimrätin. Aber ich sagte ihm gleich, daß die gnädige Frau nicht zu sprechen wären. Da hat er nach dem gnädigen Fräulein gefragt.
Führen Sie den Herrn in den Salon und bitten ihn, Platz zu nehmen! Ich werde sogleich kommen. Eleonore blickte noch einmal auf die Karte. Das ist doch sonderbar! murmelte sie.