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Drittes Kapitel.

Er hatte eben ein paar Schritte gemacht, als er sich wieder umwandte; er mußte doch wissen, wo sie wohnte, wenn er morgen früh die Mappe für sie abgeben wollte, und die Häuschen sahen einander so ähnlich. Dies war freilich nicht zu verfehlen; es lag der Front des Kirchturms gerade gegenüber. Durch die beiden Fenster linker Hand, die vorhin dunkel gewesen waren, schimmerte jetzt das Licht der Lampe auf dem Tische vor dem Sofa; für einen Moment sah er ihre Gestalt an dem Tische in Begriff, den zerknüllten Hut abzunehmen, welchen sie dann mit ausgestrecktem Arm lachend jemand zu zeigen schien: der Wirtin, die nun an den Fenstern sichtbar wurde, deren Vorhänge sie herabließ.

Gute Nacht! sagte Ulrich laut und winkte mit der Hand, gerade als ob sie ihn hören und sehen könnte. Das kam ihm selbst närrisch vor, und er mußte lachen, als er nun weiter ging. Aber der Abschied war auch so plötzlich, so unerwartet gewesen. Eben noch hatte sie in seinem Arm gehangen; eben noch hatte er ihre zarte Schulter an seiner Schulter gefühlt; eben noch hatte er den weichen tiefen Ton ihrer Stimme gehört, und das alles war nicht mehr, als ein Traum, aus dem man erwacht ist, und dessen holder Nachklang in unsrer Seele verzittert. Es war nicht mehr und würde nie wieder sein. Dies sicher nicht. Und wer konnte wissen, ob er das anziehende Geschöpf eben nicht zum ersten- und letztenmal in seinem Leben gesehen hatte? ob sie nicht morgen früh schon mit dem fälligen Dampfer davonfuhr? Aber das war doch sehr unwahrscheinlich. Sie war sicher erst seit einigen Tagen hier. Wäre sie es schon längere Zeit gewesen, sowenig er sich auch um die Badegesellschaft kümmerte, eine solche eigentümliche Erscheinung übersieht man nicht. Und dann hätte sie es ihm gewiß gesagt. Gewiß? Weshalb gewiß? Die Mappe – an die mochte sie nicht gedacht haben; und sonst, welche Veranlassung hätte sie gehabt, ihm eine derartige Mitteilung zu machen? welches Interesse hatte es für sie, ihn wissen zu lassen, ob sie kam oder ging? woher sie kam, wohin sie ging? Sie waren sich eben begegnet auf ihren Lebenswegen; der Zufall hatte gewollt, daß er ihr einen selbstverständlichen Dienst leisten durfte; sie hatte ihm dafür gedankt, und damit basta!

Ulrich war bei diesem trübseligen Schluß seiner Betrachtungen angelangt, als er vor seiner Wohnung stand. Er hätte nicht zu sagen gewußt, wie er durch das Dunkel auf den schmalen, ziegelgepflasterten Zickzackpfaden dahin gekommen war. Aus seinem Zimmer dämmerte bereits das Licht durch die heruntergelassenen Vorhänge, gerade so, wie eben noch aus ihrem Zimmer; das Häuschen sah genau so aus, wie das ihre; das Gärtchen davor hatte genau dieselben winzigen Dimensionen, wie das vor jenem; genau dieselbe niedrige Gitterpforte; genau denselben fußbreiten Ziegelpfad zwischen den kleinen Grasflecken auf die Hausthür zu. Und daß er das Zimmer linker Hand gewählt, als er ankam, anstatt das zur rechten, welches er ebensogut hätte haben können, war doch ein merkwürdiger Zufall!

Auf dem Flur kam ihm Frau Johansen entgegen. Die behäbige Witfrau war sonst nicht von vielen Worten, aber sie hatte sich wirkliche Sorge um den Herrn Baron gemacht, weil sie wußte, daß er heute nachmittag bis über die Weiße Düne hinaus auf die Jagd hatte gehen wollen, und da war sicher anzunehmen, daß er auf dem Heimwege vom Unwetter überrascht war. Nun solle sich der Herr Baron von Kopf bis zu Fuß umziehen. Das Abendbrot stehe bereits auf dem Tisch und das Theewasser koche. Freilich, Thee lange heute nicht. Sie wolle dem Herrn Baron ein steifes Glas Grog machen. Es könne auch nicht schaden, wenn der Herr Baron zwei oder drei tränken. Sonst bleibe von der Nässe leicht etwas in den Knochen. Das kenne man, wenn man zwanzig Jahre lang Badefrau gewesen sei.

Ulrich ließ sich die Sorge der guten Alten gern gefallen. Bis zu diesem Augenblicke hatte er keine Spur eines Unbehagens gefühlt; jetzt schüttelte ihn der Frost, daß ihm die Zähne zusammenschlugen. Die Kleider waren bis auf den letzten Faden durchweicht; er konnte sich ihrer nur mit Mühe entledigen. Das und der gewaltige Kampf vorhin gegen den Sturm würden ihm nichts anhaben. Aber sie mußte in denselben Zustand geraten sein, und sie war bei aller Elasticität ihrer Bewegungen offenbar nicht kräftig. Wie fein war das Gelenk der Hand gewesen, die so lange auf seinem Arm geruht! wie schmächtig ihre biegsame Taille! wie leicht die schlanke Gestalt, trotzdem sie doch keineswegs klein war! Und ein Gesicht mit diesen beweglichen Zügen und den großen Augen, die so sonnig lachen und im nächsten Moment so schwermütig blicken können, hat keine robuste Person. Wenn sie nur nicht krank würde! Auf die Aerzte in Norderney sollte so wenig Verlaß sein!

Ulrich hatte sich umgezogen, Frau Johansen die nassen Kleider zum Trocknen in die Küche getragen, und er saß nun vor dem sauber gedeckten Tisch, der mit allerlei guten Dingen reichlich besetzt war. Er spürte nicht Hunger, noch Durst; nur der guten Wirtin zuliebe aß er ein paar Bissen von dem Schinken und Rührei und nippte an dem heißen Grog. Er sei zu ermüdet, sagte er. Frau Johansen mußte das gelten lassen; aber sie horchte hoch auf und schüttelte bedenklich den Kopf, als sie wenige Minuten darauf in der Küche den Herrn Baron aus seinem Zimmer kommen und aus dem Hause gehen hörte. Es war das erste Mal seit den drei Wochen, daß er so spät ausging, und heute, nachdem er eben noch gesagt, daß er vor Müdigkeit nicht essen und trinken könne!

Ulrich war nicht müde gewesen; nur, als er ein paarmal das Zimmerchen durchmessen, hatte er gemeint, er müsse in dem engen, dumpfen Raum ersticken. Und wenn sie auch morgen früh nicht abreiste – wie leicht konnte die Flut in den Badekarren eindringen und der hübschen Mappe den Rest geben! Oder man schaffte den Karren von seiner bedrohten Stelle der Himmel weiß wohin, und er mochte lange danach suchen! Von seiner Wohnung in dem Damenpfade war es auf der Strandhöhe hin nur eine kurze Strecke, und dunkler als im Dorfe konnte es draußen auch nicht sein.

Es war allerdings sehr dunkel, wie er jetzt bemerkte, als er zum Hause hinaustrat und durch den tiefen Sand des Gäßchens auf den Dünenwall zuschritt, der ihn noch vom Meere trennte. Ueber den Wall weg schallte ihm der Donner der Brandung entgegen. Jenseit des Walles über dem Meere zitterte eine Helle, die er sich nicht erklären konnte.

Nun hatte er die Höhe erreicht und blieb von Staunen ergriffen stehen: so weit sein Blick den Strand hinauf und hinab trug, waren auf Hunderte von Schritten seewärts die in Schaum zerstiebenden Brandungswellen von seltsam weißlichem Licht übergossen; und weiter hinaus auf dem schwarzen Wasser des tieferen Meeres sah er deutlich Woge sich über Woge türmen, die in unabsehbaren Linien ihre zackigen, in Silberglanz leuchtenden Kämme schüttelten.

Vor dem Anblick des Wunders, von dem er so viel hatte sprechen hören und sich keine Vorstellung machen können, war ihm der Atem in der Brust gestockt, und dann war sein erster Gedanke: daß sie nicht hier ist! daß sie das nicht sieht! Drinnen im Dorfe ahnt man gewiß nichts davon. Soll ich hingehen und sie holen?

Das war ein toller Einfall, den er fahren ließ, so schnell wie er gekommen; aber mit seinem Entzücken an dem wundersamen Schauspiel, dessen Anblick er mit ihr nicht teilen durfte, war es nun auch vorbei.

Wunderlich! sprach er bei sich; es ist doch gerade, als ob das Mädchen es dir angethan hätte. Ob sie wohl lächeln würde, wenn sie das wüßte? und daß du hier im Sturm und in der Dunkelheit umherläufst auf die Gefahr hin, dir Arme und Beine zu brechen um der Mappe willen, auf die sie vielleicht gar keinen Wert legt? Und wie sollst du überhaupt nur zu dem Karren kommen? er stand vor einer Stunde schon im Wasser. Es ist die reine Verrücktheit. So etwas ist dir ja im ganzen Leben noch nicht begegnet.

Während er dieses Selbstgespräch halblaut vor sich hin führte, hatte er längst die Wendung nach der »Giftbude« gemacht und schritt nun, den Oberleib vornüber gebeugt, auf dem ziegelsteingepflasterten Fußpfade dahin. Es ging nicht eben schnell, denn wenn der Sturm sich ausgetobt hatte, so wehte doch noch ein mächtiger Wind, jetzt ihm gerade entgegen, und aus dem Pfade hatten Wind und Regen überall Steine herausgebrochen. Ein paarmal kam er auch an kleineren und größeren Gruppen von Menschen vorbei, die sich vom Wind zerzausen ließen, um das prächtige Schauspiel des Meerleuchtens bewundern zu können. Dann ging er langsamer oder blieb auch in der Nähe stehen, wenn er eine Dame in der Gruppe bemerkte, und spähte so lange an der über den Kopf gezogenen Kapuze und den flatternden Gewändern, bis er sich überzeugte, daß sie es nicht war. Es wäre auch das Rechte nicht gewesen, hätte er sie so in der Gesellschaft gefunden und sie die geflissentlich übertriebenen Ahs! und Ohs! und gar die schlechten Witze mitanhören müssen, von denen sein Ohr ein paar abgerissene Worte auffing. Sie hatte gesagt: es erwarte sie niemand beim Nachhausekommen. Sie war also jedenfalls ohne Familienanhang, und vielleicht floh auch sie den Badetrubel und liebte die Einsamkeit. Sie hat etwas in ihren Augen, was dafür spricht, und doch liegt in ihrem Wesen eine solche Sicherheit, wie sie nur jemand hat, der sich viel unter Menschen bewegt. Aber dann, wie kommt es, daß sie allein hier ist? Wenn sie eine Künstlerin wäre! Man möchte sie dafür halten, wenn sie auch das Gegenteil behauptet.

In der Helligkeit, die vom Meere heraufleuchtete, konnte Ulrich deutlich erkennen, daß der eigentliche flache Strand noch auf eine ziemliche Strecke vom Wasser frei war, trotzdem die Flut inzwischen gestiegen sein mußte. Offenbar war sie jetzt auf ihren normalen Stand zurückgegangen, seitdem der Sturm nachgelassen, der vorhin das Wasser bis an den Palissadenwall gepeitscht hatte. Am Strande hin, zu dem er jetzt hinabgestiegen war, konnte er trockenen Fußes bis zu den Badekarren gelangen. Es waren ihrer nur drei, wie er sah; der letzte links war der, in welchem er vorhin mit ihr Zuflucht gesucht. Die Thür öffnete sich jetzt leicht; nach einigem Umhertappen in dem finstern Karren fand er zuerst das Gewehr, das in der Ecke lehnte, dann die Mappe, die auf dem Bänkchen lag, auf welchem sie ein paar Augenblicke gesessen. Die Mappe fühlte sich naß an; aber sie war von starkem Leder, wohlverschlossen, und so mochte der Inhalt gerettet sein. Auf jeden Fall konnte er ihr noch heute abend ihr Eigentum zurückstellen.

Heimwärts schlug er denselben Weg ein, den er vorhin mit ihr gegangen war: den Hohlweg, die Düne hinter den Palissaden hinauf, vorbei an der »Giftbude«, die jetzt, bis auf ein Fensterchen in einem Abschlage, dunkel dalag. Der eingeregnete Schwarm von vorhin hatte die Zwischenzeit benutzt, um nach Hause und ins Trockene zu gelangen. Vorwärts eilend überholte er noch ein paar Nachzügler, die lärmend und johlend den üblen Pfad dahinstolperten. Die Trunkenen lachten, als sie im Dunkeln einen Menschen mit der Flinte auf der Schulter und etwas in der Hand, das sie für eine Jagdtasche halten mochten, an sich vorüberhuschen sahen, und riefen ihm Spottreden nach, die der Wind verwehte. Dann war er wieder in das Dorf gelangt und stand vor ihrem Hause. Er hatte gefürchtet, das Haus werde bereits geschlossen sein; aber von der Thür war nur die untere Hälfte, wie ortsüblich, eingeklinkt, durch die obere konnte er über den dunklen Flur bis zur erhellten Küche sehen, in welcher der Wirt, seine Abendpfeife rauchend, an einem Tische saß, während der Schatten einer andern Person sich an der Wand bewegte. Es waren nur wenige Schritte durch das Gärtchen und den Flur bis zur Küche; aber auch ihre Fenster waren noch erhellt. Wie leicht konnte sie ihre Zimmerthür, an der er vorüber mußte, öffnen und – ja, was dann? So übergab er die Mappe ihr, anstatt den Wirtsleuten. Das war doch einfach genug. Dennoch schlug ihm das Herz, als er jetzt das Haus betrat, mit ein paar großen Schritten den Flur durchmaß und in der Küche erschien vor den beiden Wirtsleuten, die den späten Besuch verwundert anstarrten. Und dann noch verwunderter einander, als der Fremde die ihnen wohlbekannte Malermappe ihres Fräuleins auf den Tisch niederlegte, ein paar unverständliche Worte murmelnd, um dann so plötzlich zu verschwinden, wie er gekommen war.

Er aber atmete draußen hoch und freudig auf, wie jemand, der eine große Gefahr wacker bestanden hat, und lachte, durch die dunklen Gassen eilend, ein paarmal vor sich hin, sich das Staunen in ihrem holden Gesicht ausmalend, wenn ihr die Wirtin die Mappe brachte, hoffentlich noch heute abend, spätestens doch morgen früh – vor ihrer Abreise. Unsinn! weshalb sollte sie denn gerade morgen früh abreisen? Er würde sie morgen sicher wiedersehen, wenn er kam, sich zu erkundigen, ob ihr die Sturmfahrt nicht geschadet habe. Das war einfache Pflicht der Höflichkeit.

In dieser Nacht dauerte es länger als gewöhnlich, bis Ulrich einschlief. Der Wind heulte in langgezogenen Tönen; zwischendurch erscholl, bald lauter, bald dumpfer, der Donner der Brandung, die jetzt ihre letzte Fluthöhe erreicht haben mochte. Von Zeit zu Zeit klatschte der Regen, der wieder eingesetzt hatte, gegen das niedrige, viereckige Kammerfenster; die Rinne, die an der Hausecke unmittelbar neben seinem Bett angebracht war, gurgelte ununterbrochen. Und durch das Chaos von Tönen hörte er immer ihre weiche, tiefe Stimme, während er sich jedes ihrer Worte zu erinnern suchte. Es waren merkwürdig wenige, fand er jetzt, und doch hatte er die Empfindung, als ob sie viel, so viel miteinander geredet hätten.

Endlich schlief er ein. Im Traume wurde die harte Seegrasmatratze, die er sein Dünenland zu nennen pflegte, weil sie sich in allen möglichen Hebungen und Senkungen gefiel, erst zur Düne, auf deren Gipfel er im warmen, feinkörnigen Sand lag; dann zu einer Wolke, die ihn emporhob; und dann schwand die Wolke, und er schwebte frei über Dünen und Meer auf und nieder, hin und her, wie eine leichtbeschwingte Möwe. Darüber erwachte er und wunderte sich: seit seinen Knabenjahren konnte er sich nicht erinnern, im Traum geflogen zu sein.

Es wiederholte sich auch ein paarmal in der Nacht, nur daß er sich beim Erwachen nicht weiter wunderte, vielmehr meinte, dies von aller Last befreite Schweben sei nicht nur etwas Köstliches, sondern komme dem Menschen von Rechts wegen zu.

Erst gegen Morgen verfiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


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