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Da der alte Hausarzt um diese Stunde in dem Wohnzimmer vorzusprechen pflegte, hatte Eleonore den Grafen in den Salon eintreten lassen müssen, den die Geheimrätin nach altem Berliner Brauch »die gute Stube« nannte und für ihre besten Möbel reservierte, welche jetzt im Sommer unter ihren grauen Ueberzügen ein besonders beschauliches Dasein führen mochten zusammen mit dem in Gaze gehüllten krystallenen Kronleuchter. So nahm sich denn der Graf, der in schwarzem, mit dem Bändchen eines Ordens geschmückten Frack und weißer Binde erschienen war, in dem öden Gemach so fremdartig aus, wie die schmalen Sonnenstreifen, die durch die heruntergelassenen Rouleaux und Gardinen irgendwie doch einen Weg gefunden hatten. Er stand vor der auf einer Gipssäule ruhenden Büste, welche ein befreundeter Künstler irgendeinmal von dem verstorbenen Geheimrat angefertigt hatte, und die nun leider in ihrem dichten verhüllenden Schleier ebensowohl das Bild der geheimnisvollen Göttin von Sais sein konnte.
Das fuhr Eleonore durch den Kopf, als sie die Thür öffnete, und gab ihr, in einem jener schnellen Uebergänge aus einer Stimmung in die andre, an die sie bei sich gewöhnt war, ein Stück von ihrem vielbewunderten, in diesem Hause fast schon vergessenen Humor.
Der Graf hatte sich bei ihrem Eintreten schnell umgewandt. Sein freundliches Gesicht sah nicht so verfallen und bekümmert aus wie vor acht Tagen, aber doch gespannt und nervös, und die Hand in hellen Glacés, mit der er ihre ausgestreckte Hand ergriffen hatte, zitterte ein wenig, während sie aus den wasserblauen Augen, die er freilich sofort wieder abwandte, ein schüchterner, aber warmer, bewundernder Blick traf.
Ein seltsamer Verdacht, der in ihr beim Erblicken seiner Karte aufgestiegen war, und den sie als völlig toll sofort hatte fallen lassen, kam zurück und gab sich die Miene, doch nicht völlig toll zu sein.
Das kann interessant werden, dachte Eleonore, und laut sagte sie, indem sie den Grafen mit einer Handbewegung aufforderte, ihr gegenüber auf einem der verhüllten Fauteuils Platz zu nehmen: Wie freundlich von Ihnen, Herr Graf! Sie kommen in erster Linie, uns beiden Glück zu wünschen, daß ich vorigen Sonnabend in der Friedrichstraße nicht unter die Hufe Ihrer prächtigen Braunen und weiter unter die Gummiräder Ihres Coupés geraten bin.
In den wasserblauen Augen malte sich tiefstes Erschrecken: Sie unter die – aber mein gnädigstes Fräulein, das wäre ja mehr als entsetzlich – wie ist denn das möglich gewesen? rief er.
Nur einem Schutzmann verdanke ich mein Leben, erwiderte Eleonore lachend und erzählte die kleine Episode.
Entsetzlich! murmelte der Graf, positiv entsetzlich! Und mein Kutscher ist sonst, ich darf sagen, musterhaft.
Er trägt auch nicht die mindeste Schuld. Sie kennen die Unbedachtsamkeit, mit der wir Damen Straßendämme zu kreuzen pflegen.
Und nicht einmal gesehen habe ich Sie!
Sie hatten augenscheinlich an Wichtigeres zu denken.
Wichtigeres? Großer Gott! Ich! und Wichtigeres!
Also sprechen wir von etwas andrem. Meine Tante wird bedauern, Sie nicht haben empfangen zu können. Ihre Tochter, meine Cousine, ist seit einigen Tagen krank. So ist die Hausordnung ein wenig gestört.
Ich hörte es zu meinem Leidwesen. Aber Sie selbst, sehe ich, sind im Begriff auszugehen?
In der That war Eleonore bereits in der Promenadentoilette, in welcher sie sich der Dame von Stande aus der Kreuzzeitung vorstellen wollte.
Ich habe nicht die mindeste Eile, sagte sie; wir können so ruhig plaudern wie damals in unsrem Eisenbahnwaggon. Sind Sie während der ganzen Zeit in Berlin gewesen?
O nein! Erst seit den letzten acht Tagen.
Und die übrige Zeit?
War ich zu Hause, ich meine auf meinem Gute –
Und machten Besuche in der Nachbarschaft –
Nicht einen einzigen. Ich war nicht in der Stimmung. Nur bei meiner Mama bin ich gewesen – in den letzten Tagen, bevor ich hierher kam.
So haben Sie das Glück, noch eine Mutter zu besitzen.
Ich wüßte nicht, was ich ohne meine Mama – aber wie darf ich das zu Ihnen sagen, die Sie, wie ich annehmen muß, nicht mehr so glücklich sind!
Leider nein. Vater und Mutter starben mir vor bereits beinahe fünf Jahren. Ich habe auch sonst, außer der Tante und der Cousine hier, keine Verwandten.
Da geht es Ihnen so ziemlich wie mir. Außer der Schwester in England und meiner Mama habe ich nur noch den Stiefbruder meines verstorbenen Vaters, einen alten Junggesellen im Hannoverschen, der kreuzgesund ist, aber die sonderbare Marotte hat, alle paar Monate einmal sich einzubilden, daß es mit ihm zu Ende gehe, wo er dann regelmäßig mich rufen läßt, wenn ich gerade zur Hand bin. Auch als ich vor vier Wochen das Glück hatte, Ihnen auf der Eisenbahn zu begegnen, kam ich von ihm. Meine Mama lebt auf ihrem Witwensitz, eine halbe Meile von mir. Sie hat sich seit dem Tode meines Papas vor zehn Jahren ganz aus der Welt zurückgezogen, an der sie auch sonst wenig Gefallen fand, besonders seitdem ihre beste Freundin, die Mutter des Freundes, von dem ich Ihnen, glaube ich, erzählt habe, gestorben war.
Sie haben Ihren Freund inzwischen nicht gesehen?
Nein. Ich sagte schon, ich habe ganz einsam gelebt.
Verzeihung! Sie sprachen von Ihrer Frau Mutter. Bitte fahren Sie fort! Es interessiert mich sehr. Ist Ihre Frau Mutter leidend?
Sie hat ein schweres Augenleiden, von dem ich immer fürchte, daß es in völlige Blindheit übergehen wird. Glücklicherweise ist sie sehr musikalisch, lebt und webt so zu sagen in der Musik, wenn sie gleich auch für die Litteratur ein lebhaftes Interesse hat. Zumeist freilich für die ihrer Heimat. Sie ist Norwegerin, müssen Sie wissen, aus einem uralten, mit dem frühern Königshause verwandten Geschlecht. Ja, und da läßt sie sich dann vorlesen von einer Landsmännin, die sie, als sie sich vermählte, mit herübergebracht, und die sie seitdem keinen Augenblick verlassen hat – eine treue, brave Seele, die ihrer Zeit redlich das Ihre gethan hat, mich verziehen zu helfen. Wenn ich, wie jetzt, bei der Mama bin, wird natürlich meist deutsch gesprochen und gelesen. Gelesen nicht viel: meine Kenntnis der deutschen Litteratur reicht nicht eben weit. In der englischen bin ich besser bewandert – Dickens, Thackeray – ich ziehe Thackeray vor, Mama meint, Dickens sei als Dichter größer, aber sie reichten beide nicht an Lord Byron und Shakespeare.
Da muß ich Ihrer Frau Mutter recht geben.
O, sie hat einen vortrefflichen Geschmack und ist überhaupt eine Elitenatur. Sie würden sie lieb haben, wenn Sie sie kennten.
Ich zweifle nicht daran.
Ganz gewiß, Sie würden einander sofort verstehen. Mama spricht nebenbei auch vortrefflich englisch. Natürlich nicht so vortrefflich wie Sie, gnädiges Fräulein. Ich habe ihr viel von Ihnen erzählt. Sie möchte Sie so sehr gern kennen lernen.
Er will mich als Gesellschafterin für die alte Dame engagieren, sagte Eleonore bei sich.
Ihre Frau Mutter ist sehr gütig, sagte sie laut, und Sie sind es, Herr Graf. Viel zu gütig. Ihre Frau Mutter würde, fürchte ich, sobald sie mich kennen lernte, ein weniger schmeichelhaftes Bild von mir gewinnen, als in welchem Sie mich ihr dargestellt zu haben scheinen.
Aber wie können Sie nur so sprechen? rief der Graf eifrig. Weniger schmeichelhaft? Mein Gott, wer bin ich denn, daß ich imstande, auch nur annähernd imstande wäre, Ihren Vorzügen gerecht zu werden und Sie zu schildern, wie Sie in Wirklichkeit sind?
Ich hoffe, daß Sie dergleichen, denn doch nicht über mich zu Ihrer Frau Mutter geäußert haben, sagte Eleonore lachend.
Allerdings habe ich dergleichen geäußert und aus vollster Ueberzeugung, wenn ich auch die einzelnen Ausdrücke nicht reproduzieren könnte. Worauf auch selbstverständlich gar nichts ankommt – ganz und gar nichts.
Die nervöse Erregung, welche Eleonoren, als sie das Zimmer betrat, bei dem Grafen aufgefallen und im Laufe des Gesprächs verschwunden war, hatte sich wieder eingestellt und in erhöhtem Maße. Seine Wangen waren gerötet; die hellen Augen hatten eine tiefere Färbung angenommen; die vollen Lippen unter dem emporgestrichenen Bärtchen zuckten, und der Chapeau claque in den kleinen behandschuhten Händen kam nicht mehr zur Ruhe. Es war nicht das erste Mal, daß Eleonore in dem Tête-à-Tête mit einem Manne diese bedenklichen Symptome wahrgenommen und beobachtet hatte.
Wenn er nur das nicht möchte! dachte sie erschrocken; was kannst du thun, daß es dahin nicht kommt?
Es wollte ihr nichts Schickliches einfallen. Da schlug die kleine Alabasterstutzuhr, welche auf der Konsole unter dem verhüllten Spiegel verhüllt zwischen den beiden verhüllten Leuchtern stand. Sie schlug falsch – es hatte sich in den letzten Tagen niemand um sie gekümmert – aber das war gleichgültig. Eleonore gab sich die Miene, die Schläge zu zählen.
Der Graf machte eine lebhafte Bewegung.
Sie wollen ausgehen, rief er, und ich halte Sie zurück.
Ich muß einen Geschäftsgang in die Stadt machen, sagte Eleonore; aber es hat keine Eile.
Auf jeden Fall ist es für mich die höchste Zeit, aufzubrechen, sagte der Graf, sich erhebend.
Eleonore war ebenfalls aufgestanden.
Ich versichere Sie, sagte sie, es ist so eilig nicht. Sie müssen mir sogar noch eine Frage beantworten, die mir während der ganzen Zeit schon auf den Lippen geschwebt hat: wie um alles in der Welt haben Sie mich in der großen Stadt aufgefunden?
Der Graf wurde rot bis in die Schläfen und lächelte verlegen.
Ich hoffte, es sollte ein Geheimnis bleiben, erwiderte er nach einer kurzen Pause zögernd. Aber da Sie fragen – auf etwas, das Sie fragen, nicht zu antworten, wenn ich antworten kann – das käme mir wie eine Sünde, ein Verbrechen vor. Als ich mich damals auf dem Perron von Ihnen verabschiedete, wollte ich Sie gerade um die Gnade bitten, mir, falls Sie, wie ich annahm, länger in Berlin blieben, zu erlauben, Ihnen meine Aufwartung zu machen, weil – weil – ja, mein Gott, gnädiges Fräulein, wie soll ich das sagen? – weil mir noch im Leben keine Unterhaltung so viel Freude, so viel Genuß gewährt hatte, und nicht wahr? da hat man doch natürlich den Wunsch, es möchte einen der Himmel solche Freude noch einmal bereiten. Eben war ich im Begriff, die Bitte an Sie zu richten, da traten die Damen dazwischen; ich mußte mich, wollte ich nicht aufdringlich sein, zurückziehen; sagte mir auch, daß meine Bitte thöricht und unbescheiden gewesen sein würde. Nun wollte ich wenigstens wissen, wo Sie wohnten, damit ich, wenn ich mal nach Berlin käme, doch an Ihrem Hause vorübergehen könnte – und – zürnen Sie mir nicht, gnädiges Fräulein! – da habe ich unter dem Vorwande, Sie hätten im Coupé etwas liegen lassen, was ich Ihnen am folgenden Tage wieder zustellen müßte, meinem Jäger befohlen, Ihrer Droschke, die sich gerade in Bewegung setzte, in einer andern zu folgen und sich die Straße und die Hausnummer genau zu merken. Nun sind Sie mir aber bös?
Es hatte alles so gut und treuherzig geklungen, daß Eleonore die Sorge, von welcher sie während der letzten Minuten geängstigt war, fahren ließ. Nein! dieser harmlose Mann trug sich nicht mit unheimlichen Plänen. Hier konnte sie endlich einmal sich einen Freund gewinnen, und der niemals etwas andres würde sein wollen.
Nicht im mindesten! rief sie lachend. Aber dann, weshalb sind Sie nicht schon am nächsten Tage gekommen, anstatt vier Wochen darüber ins Land gehen zu lassen?
Ich – ich, stammelte der Graf; ich hatte – ich war – ich glaube, gnädiges Fräulein, ich habe Ihnen gar noch nicht einmal den Gruß ausgerichtet, den meine Mama Ihnen durch mich sendet.
Einen Gruß von Ihrer Frau Mutter? rief Eleonore.
Ja, einen herzlichsten, allerherzlichen Gruß. Und weiter läßt Ihnen meine Mama sagen, daß – ich schwöre Ihnen, gnädiges Fräulein, es sind die eigensten Worte meiner Mama – daß das Glück – mein Glück und mit meinem das meiner Mama für den Rest ihrer Tage, sagte sie, einzig und allein in Ihrer Hand ruht, und – o, mein Gott, erbarmen Sie sich doch – ich weiß ja, daß ich es nicht wert bin.
Er war, während er sprach, bald blaß, bald rot geworden und hatte immer leiser, immer undeutlicher gesprochen. Die letzten Worte waren kaum noch verständlich gewesen. Jetzt, als er vollends schwieg, war er wieder sehr rot, und die wasserblauen starren Augen drohten aus ihren Höhlen zu treten.
Es war also doch so gekommen, wie Eleonore gefürchtet hatte. Sie empfand nur eines: innigstes Mitleid mit dem guten Menschen, und dachte nur an eines: wie sie es ihm sagen könnte, ohne ihn zu schwer zu kränken.
Sie sind jedes Glück wert, erwiderte sie leise, aber nur eine Liebe, die Ihrer großherzigen Liebe entspräche, würde Ihnen dies Glück schaffen. Ich gäbe viel, sehr viel darum, könnte ich es Ihnen schaffen, aber – ich kann es nicht.
Ich wußte es, sagte der Graf tonlos. Leben Sie wohl, und verzeihen Sie mir!
Er war jetzt wieder tödlich blaß; seine Lippen zuckten; seine Augen waren wie gebrochen.
Nein, nein! rief Eleonore, seine zitternde Hand ergreifend; so dürfen Sie nicht fort! Nicht fort, ohne daß ich Ihnen gesagt, wie dankbar aus tiefstem Herzen ich Ihnen für Ihre edle Liebe, Ihrer Mutter für ihre unverdiente Güte bin. Sagen Sie ihr – sie wird mich verstehen und mir verzeihen – sagen Sie ihr, daß ich mich mit Stolz ihre Tochter genannt haben würde, aber es nicht darf, weil – mein Herz nicht mehr frei ist. Wollen Sie ihr das sagen?
Gewiß, gewiß! murmelte der Graf. O, mein Gott! mein Gott!
Sie sah, wie er nur eben noch sein lautes Weinen unterdrücken konnte. Auch ihr traten die Thränen in die Augen.
Mein armer, armer Freund! sagte sie, seine zitternde Hand jetzt in ihre beiden Hände nehmend. Es klingt ja wie Hohn, wenn man um Liebe gebeten wird und dafür nur seine Freundschaft bieten kann. Und doch, ich armes Mädchen, ich habe nicht mehr; und ich bitte Sie so recht herzlich: nehmen Sie, was ich habe! Lassen Sie mich Ihre Freundin sein! Wollen Sie?
Er konnte nicht antworten, nur ihre Hände, die sie ihm willig überließ, mit Küssen bedecken.
Dann war er aus dem Zimmer geeilt. Gleich darauf hörte sie seinen Wagen, der vor dem Hause gehalten haben mußte, über das holprige Pflaster davonfahren.
Eleonore stand noch immer auf derselben Stelle, regungslos, mit finster zusammengezogenen Brauen vor sich hin ins Leere starrend.
Wieder der alte Fluch: sie war nicht geboren, um glücklich zu sein; dafür mußte sie denn andre unglücklich machen. Unglück? Pah! Unglück für die Männer – das heißt Schwäche. Warum betteln sie um unsre Liebe? Borykine hat recht. Einen Bettler kann man abweisen; der Starke, der die sich Sträubende umschlingt und zu sich aufs Pferd reißt und mit ihr nach Rom sprengt – der läßt sich nicht abweisen.
Sie strich sich mit der Hand durch das Haar.
So! sagte sie laut. Mit der Frau Gräfin war es also nichts. Nun wollen wir zur Abwechslung einmal wieder Governeß spielen.