Friedrich Spielhagen
Uhlenhans
Friedrich Spielhagen

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28 Viertes Kapitel.

Das Erscheinen des Enkels, den sie oft tage-, wochenlang nicht, oder doch nur im Vorübergehen zu sehen bekamen, zu dieser Stunde erfüllte die alte Dame mit tiefem Schrecken. Sie warf einen angstvollen Blick auf ihn, einen zweiten bittenden auf ihren Gatten, als wollte sie sagen: ich ahnte es, aber ich kann nichts dafür. Der Kammerherr hüstelte verlegen, das war in der That überaus fatal. Er hatte eine ernstliche Dazwischenkunft des verhaßten Stiefenkels keineswegs mehr befürchtet, vielmehr mit Sicherheit angenommen, derselbe werde in seiner lässigen Weise den entscheidenden Moment vorübergehen lassen, um hernach vor einer vollendeten Thatsache zu stehen. War er nun doch gekommen, eine Erklärung zu provozieren? Dann mußte man sehen, wie man sich aus der Affaire zog. Das beste würde sein, alles zu leugnen. Unwiderrufliches war ja auch leider noch nicht geschehen. Hinterher würde man dann mit um so größerer Entschiedenheit das eben Abgeleugnete betreiben.

Die alten Leute hatten Zeit genug, sich das Heikle der Situation, in welche sie so unversehens geraten waren, klar zu machen. Hans stand noch immer auf der Schwelle, ohne sich zu regen. War er selbst durch das Plötzliche des Aufeinandertreffens überrascht? Fand er wieder einmal im rechten Augenblicke nicht das rechte Wort? Man mußte versuchen, diesen Augenblick möglichst abzukürzen.

Der Kammerherr ergriff den Arm der Gemahlin, indem er sie zugleich mit einem verstohlenen Druck aufforderte, ihm 29 unbedingt zu folgen. So schritt er mit derselben auf Hans zu und sagte in scheinbar bester Laune, diesmal nicht auf französisch, sondern, wie immer, wenn er mit seinem Stiefenkel einmal sprechen mußte, in seinem noch halb schwedischen Deutsch:

Sieh da! der liebe Baronen! Kommen selbst zu sagen, daß die Wagen wartet. Ja, ja, die Damens! die Damens! Aber jetzt auch ist die höchste Zeit.

Er hatte gehofft, daß Hans aus der Thür treten und sie durchlassen werde. Aber Hans wich nicht vom Flecke, zog vielmehr die Thür hinter sich zu, verbeugte sich und forderte mit einer Handbewegung zum Bleiben auf, während ein Blick der Zofe sagte, daß sie sich entfernen möge. Der alten Dame war der Schrecken in die Glieder gefahren; sie ließ sich kraftlos auf einen der Fauteuils nieder, welche den großen, eingelegten, runden Tisch in der Mitte des Saales umstanden. Wie sie dahin gekommen, wußte sie nicht. Auch ihr Gatte fühlte plötzlich wieder das gichtische Knie und hatte sich ebenfalls gesetzt, während Hans in einiger Entfernung von ihnen, halbwegs zwischen Thür und Tisch, stehen geblieben war.

Ich bitte um Verzeihung, sagte er, wenn ich störe. Ich habe eine Nachricht erhalten – einen Brief, einen expressen Brief – der vor einer Stunde – ich war heute Morgen nach Bergen geritten zu einem Termin und seitdem nicht wieder zu Hause, – der Statthalter hat ihn eben von Neuen-Prohnitz herüber gebracht, weil er wußte, daß ich hier – von Gustav, Großmama.

Er hatte, während er das in seiner stillen, halb befangenen Weise sagte und dabei das große, schwarze Auge unverwandt auf seine Großmutter gerichtet hielt, aus der Seitentasche seines Reitrockes einen Brief genommen, den er langsam mit etwas unstäten Händen entfaltete und jetzt der alten Dame überreichen zu wollen schien. Wenigstens machte er, den geöffneten Brief in der ausgestreckten Hand, einige Schritte auf diese zu, blieb aber wieder stehen; die Großmutter hatte sich nicht geregt, nur der zusammengeklappte Fächer in ihrer behandschuhten Rechten zitterte gewaltsam, das welke Gesicht war unter der 30 Schminke erbleicht. Der Anblick schnitt Hans ins Herz; es jammerte ihn der alten Frau, die um des schlimmen Mannes willen da an ihrer Seite sich nicht freuen durfte, daß ihr Enkel nach so langer Zeit, und nachdem ihn die meisten schon für verloren gehalten hatten, endlich heimkehrte.

Ich bitte nochmals um Verzeihung, sagte er gütig, ich bin selbst überrascht. Ich verstehe nicht, weshalb er nicht – aber vielleicht lesen Sie –

Er machte abermals eine Bewegung auf die Großmutter zu und stand wieder still. Der Kammerherr hatte sich erhoben, mit der Hand höflich abwehrend:

Bitte, bitte! sagte er, wir sind nicht indiskret. Der Brief ist nicht für uns. Sie haben wohl die Güte, uns ein anderes Mal mitzuteilen, was in demselben für uns etwa von Interesse wäre – vielleicht morgen. Heute – jetzt – es ist die höchste Zeit, daß wir aufbrechen. Vielen Dank! Vielen Dank! Kommen Sie, meine Liebe, kommen Sie!

Er hatte die letzten französisch gesprochenen Worte mit einem strengen Blicke auf die alte Dame begleitet, welche sich denn auch sofort, obgleich mit sichtbarer Anstrengung, erhob.

Also auf Wiedersehen morgen, fuhr er fort, mit dem Hut in seiner Linken zierlichen Abschied winkend – und nochmals vielen Dank – vielen Dank, lieber Baronen!

Ja, gewiß, lieber Hans, vielen Dank, murmelte seine Gattin, in der zitternden Rechten den Fächer bewegend.

So wollten sie, Arm in Arm, an Hans vorüber. Er war ein wenig auf die Seite getreten; sein düsterer Blick irrte wie hilfesuchend nach den beiden Thüren auf der entgegengesetzten Seite des Saales im Rücken der alten Herrschaften. Plötzlich fuhr ein freudiges Zucken über sein Gesicht. Eine jener beiden Thüren hatte sich geöffnet, und Hertha, bereits völlig zu der Ausfahrt gerüstet, war eingetreten. Sie stutzte einen Moment, überflog mit raschem Blicke die Scene und trat mit schnellen Schritten heran.

Pardon, Großmama – Lisette konnte wieder einmal nicht fertig werden – bon soir, Excellenz! Guten Abend, Hans! 31 Willst Du auch mit? Freilich in Stulpenstiefeln! Also Geschäfte – natürlich – aber jetzt, wo wir fort müssen – halte die Großeltern nicht auf, es ist die allerhöchste Zeit.

Bitte, lies den Brief.

Welchen Brief?

Hier!

Er hatte ihr den Brief in die Hände gedrückt und war zur Thür hinaus.

Hertha blickte ihm achselzuckend nach. Das war heute einmal wieder der rechte Hans: eine ganz besonders unangenehme Geschichte augenscheinlich, in der sie, wie gewöhnlich, die Vermittlerin spielen sollte zwischen dem Träumer, der freilich zuletzt immer recht hatte, und seinen Großeltern, die den armen Menschen durch den Himmel weiß welche Extravaganzen wieder einmal in irgend eine schlimme Verlegenheit gebracht hatten; ein Mahnbrief aus Sundin oder dergleichen. Pah! Das hatte denn doch wahrlich bis morgen Zeit.

Sie wollte den Brief ungelesen auf den Tisch fallen lassen. Indem sie das offene Blatt zusammenfaltete, hatte sie unwillkürlich einen Blick auf die wenigen Zeilen geworfen, die es enthielt: »Lieber Hans. Endlich ist nicht ewig und endlich kehrt der Vagabund –«

Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch ihre Glieder. Sie griff mit der linken Hand nach dem Herzen, im nächsten Moment nach der Tischkante, an der sie sich festhielt, während sie den Inhalt überflog. Konnte es denn sein? Und sie schrie nicht auf vor jauchzender Lust? Sie starrte vor sich hin, regungslos. Plötzlich richtete sie sich empor, legte den Brief auf den Tisch und begann langsam das Flortuch, das sie um Kopf und Hals geschlungen, aufzuknüpfen und abzunehmen, ebenso wie den Shawl von ihren Schultern.

Das alles hatte so kurze Zeit beansprucht; die beiden alten Herrschaften standen noch wie vorhin, Frau von Lindblad ängstlich, erwartungsvoll; ihr Gemahl erstaunt, erschrocken, wütend. Es war augenscheinlich, das Mädchen wollte zu Hause bleiben. Er zischte ein halblautes »Sacré« durch die falschen Zähne 32 und ließ den Arm der Gattin fahren, indem er zugleich auf Hertha zutrat:

Ich will nicht hoffen, mein Fräulein, sagte er französisch, daß Sie uns um ein Vergnügen bringen werden, auf das wir – und Sie wissen, nicht bloß wir – heute mit Sicherheit gerechnet haben.

Hertha schaute auf. Das alte Gesicht vor ihr, das sonst so süßlich zu lächeln verstand, war von Angst und Zorn verzerrt; sie wußte, wie boshaft und rachsüchtig der Mann war, und daß sie im Begriffe stand, ihm einen Plan zu vereiteln, an welchem er seit Jahr und Tag mit nimmermüdem Eifer gearbeitet. Es war ja möglich, daß sie ihm durch ihr Benehmen einiges Recht gegeben zu dieser zornigen Miene, zu diesem hämischen Tone. Nur daß sie an diesen Ton nicht gewöhnt war und denselben nicht dulden wollte – von ihm nicht und von niemandem, und daß sie niemandem das Recht zugestand, über sie gegen ihren Willen zu verfügen. Wie es jetzt werden würde, was sie thun würde – es war ihre Sache.

Ich bedaure unendlich, sagte sie, aber Gustav ist zurück – in Prora – er hat Hans gebeten, ihn von dort abzuholen.

Sie hatte es mit der größten Höflichkeit und vollkommen ruhig gesagt; ja sie lächelte, als der alte Herr erschrocken zurückprallte. Das war freilich schlimmer, viel schlimmer, als er gefürchtet. Ein Brief – nun ja, obgleich es besser gewesen wäre, der Vagabund hätte keinen geschrieben oder schreiben können; aber zurück – in Prora – heute Abend noch hier!

Das ist abscheulich! Es ist unmöglich! murmelte er.

Es ist gewiß, sagte Hertha, er hat es selbst geschrieben – aus Sundin – gestern – sehen Sie, Excellenz! Und nicht wahr, liebe, gute Großmama, Sie finden es begreiflich und in der Ordnung, daß ich, – ich meine, daß wir den schlechten Menschen empfangen. Es ist das Natürliche und Schickliche. Wenn wir nach Griebenitz fahren in dem Augenblicke, wo wir doch nun wissen, daß er zurück ist, und Hans ihn uns bringen wird, so ist das eine Demonstration, die uns bindet. Ich will nicht gebunden sein, auch nicht gegen Gustav. Ich will ihn 33 nicht merken lassen, wie er mich durch sein langes Schweigen gekränkt hat. Er war auch so schon eitel genug und wird wohl inzwischen nicht viel bescheidener geworden sein.

Hertha war mit sich zufrieden. Sie hatte es mit so leichter Zunge gesagt, die beiden alten Leute merkten gewiß nicht, wie schwer ihr bei alledem das dumpfklopfende Herz in der Brust hing. Aber die erwartete Antwort kam nicht sogleich. Frau von Lindblad, an welche sie ihre Worte zuletzt ausschließlich gerichtet, blickte nur immer ängstlich auf ihren Gatten, der mit Mühe einen Rest der gewohnten Haltung bewahren zu können schien, und jetzt in heiserem Tone zu ihr sagte:

Keine Kindereien, wenn ich bitten darf, Mademoiselle! Wir haben versprochen, heute Abend in Griebenitz zu sein; und wir werden unser Versprechen halten, gleichviel, ob es dem jungen Herrn, der sich so abscheulich gegen uns betragen hat, beliebt, heute Abend zurück zu kommen oder nicht. Das sind Sie in erster Linie sich selbst schuldig, Mademoiselle – ja, ja, sich selbst, wenn Sie noch eine Spur von dem Stolz und Selbstgefühl haben, an dem es Ihnen doch sonst nicht fehlt. Sie sind es zweitens uns schuldig, die wir seit Ihrem vierten Jahre Elternstelle bei Ihnen vertreten und nie etwas anderes gewollt haben als Ihr Bestes. Sie sind es zuletzt den Freunden in Griebenitz schuldig, die es als ein schweres Unglück, aber freilich auch als eine unerhörte Beleidigung empfinden würden, wenn die Verlobte des Sohnes vom Hause nicht zu dem Feste käme, das nur zu ihren Ehren bereitet ist.

Hertha hatte, während der alte Herr so auf sie einsprach, nicht mit den Wimpern gezuckt, nur bei den letzten Worten verdunkelten sich ihre Augen; die Lippen preßten sich einen Moment aufeinander, bevor sie langsam und bestimmt sagte:

Sie irren, Excellenz. Ich habe mich noch keinen Augenblick als Verlobte des Herrn Grafen Axel betrachtet und weder ihm noch einem andern Veranlassung und Grund gegeben, mich dafür zu halten. Aber ich danke Ihnen, daß Sie mir gesagt haben, welche Bedeutung man der heutigen Gesellschaft beilegt. Wäre ich vorher nicht entschlossen gewesen, fortzubleiben, jetzt bin ich es.

34 Sie griff nach ihren Sachen auf dem Tische.

Liebe Hertha, liebes Kind! sagte die alte Dame bittend, thue es mir zuliebe!

Ich kann nicht, Großmama, erwiderte Hertha, zu ihr tretend und ihr die Hand küssend, jetzt kann ich es nicht mehr.

Die alte Dame wollte etwas entgegnen, aber ihr Gatte kam ihr zuvor, indem er rief:

Sie können es nicht; jetzt nicht mehr, so, so! Nun, Mademoiselle, dann will ich Ihnen sagen, was ich kann, und was ich thun werde. Ich werde heute Abend dem Grafen, der Gräfin, Sr. Durchlaucht dem Fürsten, Ihrer Durchlaucht der Frau Fürstin, ich werde der ganzen Gesellschaft verkünden, daß wir seit heute Abend das Glück haben, den Herrn Baron Gustav von Prohn wieder unter uns zu wissen, und daß seine Kousine, Fräulein Hertha von Prohn, zu Hause geblieben ist, um zu fragen, ob der genannte Herr, dessen bekannte ausgezeichnete Qualitäten inzwischen gewiß noch rühmlichst gewachsen sind, die Gnade haben will, sie noch zur Frau zu nehmen, nachdem er sie drei Jahre hindurch zum Gespötte des ganzen Landes gemacht hat.

Ein so greuliches Bild der alte Mann darbot, indem er, dicht vor sie hintretend, diese Worte in den höchsten Tönen kreischte und mit heftigen Gebärden begleitete: Hertha war nicht um einen Zoll zurück gewichen. Nur die tiefe Blässe des zarten Gesichtes, aus dem die blauen Augen fast schwärzlich glänzten, und ein leises Schwingen der Stimme verrieten die innere Erregung, als sie jetzt langsam, jede Silbe abwägend, erwiderte:

Ich zweifle nicht daran, daß Sie das alles thun und sagen würden, wenn Sie dürften. Nur daß Sie es, Gott sei Dank, nicht dürfen.

Sie meinen, Mademoiselle?

Sie wissen, was ich meine und – wen ich meine.

Es hätte des Blickes, welchen das junge Mädchen bei diesen Worten nach der Thür warf, durch die Hans gegangen war, für den alten Herrn nicht bedurft; er wußte allerdings, was und wen sie meinte. Grausamer konnte er an die Fessel der völligen Abhängigkeit von dem Verhaßten nicht gemahnt werden 35 – an die Fessel, die er eben jetzt abstreifen zu können gehofft hatte, und die er nun verdammt sein sollte, weiter zu tragen. Er schnappte ein paarmal nach Luft, schüttelte mit einem: Wir werden sehen! das kaum hörbar über die zuckenden Lippen kam, wütend die Faust gegen Hertha, ergriff seine Gattin, die während der schrecklichen Scene zitternd und nicht wagend ein Wort hinein zu reden, dagestanden, am Arme, und zog sie fast hinter sich her zum Saale hinaus.

Die schwere Thür war mit einem Krachen, welches dumpf durch das hohe, weite Gemach schallte, ins Schloß gefallen. Hertha atmete tief auf. Dann war sie mit einem Sprunge an dem Tische und hatte Gustavs Brief ergriffen und an die Lippen gedrückt. Lieber, Geliebter, Geliebter! und ich konnte auch nur einen Augenblick –

Sie wollte noch einmal lesen; die Buchstaben verschwammen ihr vor den thränengefüllten Augen. Sie fuhr sich mit den behandschuhten Händen über die Wimpern.

Dummes Zeug, murmelte sie, wie würde er lachen, wenn er das sähe!

Sie lachte nun selbst – ein kurzes, jauchzendes Lachen. Dann las sie eifrig mit brennenden Augen:

»Lieber Hans! Endlich ist nicht ewig, und endlich kehrt der Vagabund zurück. Ich schreibe dies von Sundin, Abends 9 Uhr; fahre morgen Mittag – dem Briefe einen Vorsprung zu lassen – von hier fort und werde also gegen sieben Uhr in Prora sein – beim alten Nimmo, wenn Bacchus seinen getreuen Knecht nicht inzwischen zu sich genommen hat, was mich nicht wundern sollte. Also jedenfalls im »König von Preußen«, wo ich Dich vorzufinden oder doch noch an demselben Abend zu sprechen hoffe. Mehr zu schreiben habe ich weder Zeit noch Lust. Das übrige mündlich.

Gustav

Aus dem Gesichte des jungen Mädchens war das glückselige Lachen gewichen; der Brief entglitt den herabsinkenden Händen. Vorhin hatte sie nur gelesen, daß er zurück, daß er da sei – nichts weiter. Aber jetzt – kein Wort, keine Silbe von ihr! Schrieb so einer, der liebt? – noch liebt? Vielleicht bloß kam, 36 zu sagen, daß er nicht mehr liebte? Daß sie frei sei? Frei wählen könne? Eine Närrin sei, wenn sie nicht den Reichsten wählte? längst gewählt habe?

Sie hatte mit einem schnellen Griffe die Sachen zusammengerafft. In demselben Momente fuhr von einem Luftzuge das Fenster, welches der Kammerherr vorhin zu schließen vergessen, klirrend auf. Durch das offene Fenster, doppelt hell, erklang das Prasseln der im Sprunge anziehenden Pferde und das Rollen der Equipage die Steinrampe hinab.

Zu spät.

Dennoch war sie an das Fenster gestürzt, nur, um noch eben zu sehen, wie der Wagen rechts um die Scheune nach dem kleinen Hofthor bog.

Zu spät.

Und so hatte sie das große Los verscherzt, nach dem sie bloß die Hand auszustrecken brauchte – die glänzendste Rache an dem Treulosen – wenn er treulos war! Und konnte sie daran zweifeln? Nach diesem Brief? Der alles Schlimmste bestätigte, wovon sie seit einem Jahre schon gefürchtet, daß es kommen würde? Und nun war es da.

Ein Geräusch vom Hofe aus ließ sie wieder aus dem Fenster blicken. Hans' Pferd wurde eben unten an die Rampe geführt; in demselben Augenblicke sah sie auch Hans selbst, der eilig die Rampe hinab ging, aufsaß und sofort im Galopp davonsprengte, um die Bosketts vor dem Hause herum, in die Lindenallee hinein, unter deren breiten Kronen er alsbald verschwand.

Sie lächelte bitter.

Das war der Mann, auf dessen Schutz sie sich vorhin so keck berufen, und der sie doch die abscheuliche Scene mit dem zornigen alten Herrn allein hatte durchkämpfen lassen. Und sie jetzt wieder allein ließ, ohne ein Wort des Dankes, daß sie geblieben, ohne ein Wort der Teilnahme, der Verständigung, der Ermutigung! So viel Zeit hätte er sich doch nehmen können. Aber freilich, es galt ja, dem geliebten Bruder entgegen zu reiten – da mußte das Pferd laufen, was es konnte. Der gnädige Herr mußte ja so schnell wie möglich erfahren, daß 37 Haus und Hof und alles zu seinen Diensten stehe nach wie vor; er nach Belieben schalten und walten könne, nach wie vor. Daß die Braut seiner demütig harre und ihn liebe nach wie vor und sich glücklich, selig schätzen werde, wenn er die Gnade habe, auch nur noch ein wenig Gefallen an ihr zu finden!

Sie war von dem Fenster zurück getreten, unruhigen Schrittes auf und nieder gehend. In dem Gemache begann es bereits zu dunkeln, aber auf sie selbst fiel noch von draußen der letzte Abendschein. Und so sah sie plötzlich ihr Bild, als ob das Licht von ihr selbst ausginge, in mattem Glanze, aber vollkommen deutlich auf der schwarzen Fläche eines der Spiegel. Sie blieb stehen und betrachtete es lange mit streng prüfendem Auge. Linie um Linie, Falte um Falte musterte sie die schlanke, weißgekleidete Gestalt von den Atlasschuhen, die unter dem gefalteten Saume hervorsahen, bis zu der Rosa-Kamelie in dem dunkelblonden, gewellten Haare. Zuletzt blieb der Blick auf den Augen des Spiegelbildes haften, und die Augen schienen immer größer zu werden und immer schöner zu leuchten.

Verlassen? sagte sie. Pah! dich verläßt man nicht.

Sie wendete sich ruhig ab, nahm, an dem Tische vorüber streifend, ihre Sachen und schritt durch das dämmerige Gemach auf die Thür zu, welche auf den Korridor nach ihrem Zimmer führte, als diese geöffnet wurde, und die rundliche Gestalt der Frau Pahnk herein trat und eilig auf sie zulief.

Herthing, Fräulein Herthing! Mein süßes Kind! Ich hab' es ja immer gesagt, Gusting kommt zurück! Mein Gusting! Ich weiß alles; er hat mir alles gesagt. Und ich soll Ihnen auch vielmal danken, daß Sie nicht mit den alten Herrschaften weggefahren sind. Und ich soll ein gutes Abendbrot machen; und ob Sie nicht das blaue Kleid anziehen wollten, das mit dem kleinen Kragen, es sei das, in dem er Sie zuletzt gesehen.

Sie war Hertha um den Hals gefallen und in Schluchzen ausgebrochen; Hertha machte sich alsbald wieder frei.

Wer hat Dir das alles gesagt? Gustav?

Frau Pahnk wischte sich mit der Schürze die Augen. Gusting? Ja, wie soll mir denn der das gesagt haben? Er 38 ist ja noch in Prora. Baron Hans! Er war eben bei mir unten in der Küche. Er weiß ja, wie ich mich freuen würde. Jetzt reitet er nach Prora, um uns' Gusting zu holen, uns' Herzensgusting! Herr Gott, Herr Gott! Herthing, Fräulein Herthing, freuen Sie sich denn nicht?

Komm' und hilf mir beim Umziehen, sagte Hertha – das blaue Kleid bleibt im Schrank. Da, Du kannst das tragen!

Sie hatte Frau Pahnk ihre Sachen über den Arm geworfen und ging voran; kopfschüttelnd folgte die alte Vertraute.

Nach drei Jahren! und so! Aber warum wäre sie denn zu Hause geblieben? Und wenn sie sich nur erst wieder gesehen haben und in den Armen liegen – ja, gegen mein' Gusting da kommt so ein Herr Graf noch lange nicht auf.


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