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Es hatte heute Nacht lange gedauert, bis Hertha vor den in ihr wühlenden Gedanken einschlafen konnte. Und auch dann war es kein erquickender Schlummer gewesen, eine Betäubung nur, ein halbwaches Träumen, dessen rastlos wechselnde Bilder noch die Wehrlose ängstigten. Durch dunklen Wald war sie geflohen, verfolgt von einem Ungetüm, das ihr zur Seite schwärzlich zwischen dicken Stämmen und dichtem Gestrüpp dahinhuschte, bis es hervorbrach: kein Ungetüm, sondern Hans' alter treuer Bernhardiner Pluto, der sich vor ihr aufrichtete, ihr die Tatzen auf die Schulter legte, und sie mit guten Augen anblickte, die zu einem Auge wurden: Hans' Auge; und Hans war es, der sie in seinen Armen hielt. Sie hatte laut lachen wollen über die sonderbare Verwandlung, aber Hans hatte sie fest und fester an sich gedrückt. Sie wußte, daß er sie tot drücken würde in seinen gewaltigen Armen, wenn sie ihn nicht wieder liebte, und hatte um Gnade bitten wollen, um Zeit: sie werde ihn gewiß noch einmal lieben, wie er es verdiene. Aber sie hatte kein Wort hervorbringen können und geglaubt, jetzt müsse sie sterben, als aus seinem Auge, das sie immer auf sich gerichtet sah, trotzdem ihr Gesicht an seine Brust gepreßt war, eine Thränenflut brach, die zu einem Bache wurde, auf dem sie in einem Boote dahinglitt zwischen flüsterndem Schilf an der Seite eines Mannes in fremdartiger Kleidung, dessen mit einer Halbmaske bedecktes Gesicht sie nicht erkennen konnte. Aber in die Angst, die sie empfand, hatte sich eine sonderbare Wonne gemischt, denn der Maskierte – wußte sie – war Gustav; und hatte plötzlich die Maske fallen lassen und sie mit glutvollen 117 Liebesaugen angeblickt. Sie hatte zürnen wollen; da war er vor ihr niedergefallen und hatte seine Stirn auf ihre Kniee gelegt und bitterlich zu weinen und zu schluchzen angefangen; und sie mit ihm, bis er plötzlich den Kopf erhoben und ängstlich gefragt hatte, ob sie sich nicht vor Hans fürchte, der da am Ufer stehe mit der angelegten Büchse, während sie doch wisse, daß er niemals vorbei schieße und sie beide im nächsten Augenblicke tot geschossen haben werde. Da hatte Hans abgedrückt und den Kolben der Büchse, aus dessen Rohr noch der Rauch stieg, Gustav auf die Brust gesetzt, der tot auf der Erde lag, während er sie immerfort traurig anblickte und, ohne die Lippen zu bewegen, sagte: Jetzt kommst du an die Reihe. Aber das Büchsfernrohr wurde zu dem schlanken Stamme einer Fichte und der blaue Rauch zur mächtigen Krone, und sie war hinauf geflogen, sich im dichten Geäst zu verstecken. Umsonst, denn wohin sie auch eilig huschte, überall bog es sich auseinander, daß die Sonne durchblitzte, während flatternde Vögel fortwährend Hier! Hier! riefen und Pluto, der unten auf dem Rasen den Stamm umkreiste, fortwährend heraufbellte: Dort! Dort! Der schwanke Zweig, an den sie sich klammerte, bog sich tiefer, tiefer; sie stürzte hinunter in einen endlos gähnenden Schlund und erwachte.
Durch die Vorhänge schien rötlich der Morgen; in der Linde vor dem Fenster priesterten die Sperlinge; vom Hofe her erscholl das Gebell des Kettenhundes.
Sie saß aufgerichtet im Bette mit starren Augen, während sie den Traum noch einmal träumte rückwärts vom Sturz aus dem Verstecke im grünen sonnigen Baum in den gähnenden Schlund bis zu der Flucht vor dem Ungetüm durch den nächtlichen Wald.
Er muß mir Zeit lassen, murmelte sie; ich werde es schon lernen.
Ihr müdes Haupt sank in die Kissen zurück. Als sie zum zweitenmale erwachte – diesmal aus tiefem, traumlosen Schlaf – war es von einer Berührung.
Frau Pahnk saß vor ihrem Bette und hatte ihre Hand gefaßt.
118 Ich hätt' Sie gern noch länger schlafen lassen, aber es ist acht Uhr, und es hat schon einen Heidenlärm gegeben. Der Herr Baron ist ganz früh hier gewesen. Ich war natürlich schon auf; er ist aber nicht zu mir in die Küche gekommen und hat eine Tasse Kaffee getrunken, wie er zu thun pflegt; er ist nur in den Pferdestall gegangen und hat Krischan gesagt, daß er mit der Chaise um neun Uhr in Prora sein soll – Sie wissen, Fräulein Herthing – und, als Krischan vorhin anspannen will – denken Sie, Fräulein Herthing! – kommt Excellenz im Schlafrocke auf den Hof und will partout die Chaise für sich haben, um nach Griebenitz zu fahren – denken Sie sich, Fräulein Herthing – nach Griebenitz, um sieben Uhr Morgens! Na, er ist ja denn natürlich auch zu Hause geblieben und hat ja wohl nur Krischan ängstigen wollen –
Ist Krischan fort? sagte Hertha.
Der Herr Baron hat es ja befohlen, und wie sollen sie denn auch sonst herüber kommen? Aber ich weiß nun gar nicht, wo sollen sie denn eigentlich wohnen? Ich hab' schon gedacht: hier unten in den vier Gartenzimmern, weil doch auch ein kleines Kind da ist – das kann dann immer gleich herausgetragen werden – meinen Sie nicht, Fräulein Herthing? – und –
Ja, ja, sagte Hertha; das wird wohl das beste sein – vor der Hand. Hans kann dann sagen, wie er es haben will; Hans –
Lieber Gott, Herthing, was ist Ihnen?
Hertha hatte alles nur erst halb träumend gehört, halb träumend beantwortet, bis plötzlich, als sie Hans' Namen zum zweitenmale nannte, das Bewußtsein des Geschehenen voll über sie kam. In der Nacht, ja – heute früh in der Dämmerung – aber jetzt am hellen Tage – verlobt mit Hans! Der im nächsten Augenblick ihn bringen würde, mit ihm vor sie hintreten würde, mit ihm –
Sie saß mit stieren Augen da, während die erschrockene Pahnk immer wieder fragte, was ihr sei? und es sei doch nun einmal nicht mehr zu ändern, obgleich sie es ihrem Gustav nie 119 zugetraut hätte, sie solle es sich doch nicht so zu Herzen nehmen und es um Gotteswillen die Leute nicht merken lassen; die würden auch so schon genug über die Geschichte reden.
Pahnk, sagte Hertha, mit demselben starren Blick; Du mußt es doch einmal erfahren: ich habe mich mit ihm verlobt.
Der Alten stockte der Atem. Was war das? Mit Gustav verlobt? Und das sollte sie erfahren? Sie, die es hatte werden sehen vom ersten Anfange an? Und das stille bleiche Gesicht dazu, die starren Augen und die bange Stimme! Herr Gott, das fehlte noch zu all dem Unglück!
Fräulein Herthing, liebes Herthing, denken Sie doch nicht mehr daran! Er ist ein schlechter Mensch, der mein lieb' süß' Herthing niemals verdient hat. Er soll es von mir zu hören kriegen. Ich bin seine Amme gewesen und seine zweite Mutter; ich will es ihm schon sagen; ich fürchte mich nicht vor ihm.
Sie hatte mit beiden Händen Herthas Hand ergriffen und gestreichelt, wie eines kranken Kindes; Hertha zog dieselbe ungeduldig zurück und sagte schnell und heftig:
Was sprichst Du immer von ihm? was geht er mich noch an? Ich habe mich mit Hans verlobt – gestern Abend! Verstehst Du mich nicht? Ich habe mich gestern Abend mit Hans verlobt! Warum antwortest Du nicht?
Die Pahnk konnte nicht antworten; ihr war, als hätte sie der Schlag getroffen und ihr die Zunge und alle Glieder gelähmt. Da wär' es doch noch nicht so schlimm gewesen, wenn das arme Kind wirklich im Fieber gesprochen hätte! Verlobt mit dem Herrn Baron! dem finstern, schweigsamen Manne mit dem einen Auge! Ihr lachlustiges Herthing, das ihren schönen Gustav, ihr Herzblatt, geliebt hatte und gewiß noch liebte! Wie konnte man aufhören, den zu lieben!
In ihrem vollen Gesichte zuckte es. Sie fühlte, daß sie es nicht sollte, nicht durfte; aber es war zu viel. Sie drückte die fleischigen Hände vor die Augen und brach in lautes Weinen aus.
Hertha hatte es erwartet. In die Kissen zurückgelehnt, nagte sie an den Lippen, von Zeit zu Zeit auf die Weinende blickend. Plötzlich fuhr sie wieder empor und rief:
120 Jetzt habe ich es satt. Wenn Du so unvernünftig bist, ist es aus zwischen uns. Ich bin kein Kind mehr; ich weiß, was ich thue. Ich will hier nichts von Dir vorgeweint haben, als hätte ich ein Verbrechen begangen. Wirst Du aufhören!
Ach, Fräulein Herthing, Fräulein Herthing! schluchzte die Pahnk.
Dann weine draußen, soviel Du willst! Geh'! sage ich, geh'!
Die Pahnk erhob sich schwerfällig und ging weinend und schluchzend zur Thür hinaus.
Die dumme alte Person! murmelte Hertha, nicht einmal versucht hat sie, ihr albernes Weinen zu lassen. Sie ist im stande und läuft so in die Küche und heult Rike und Fike und den anderen vor, was für ein Unglück da geschehen ist. Wundern werden sie sich schon; alle werden sie sich wundern. Desto besser, ich bin kein Kind mehr; ich weiß, was ich thue.
Sie hatte sich angekleidet, nicht ohne geschwankt zu haben, ob sie nicht jenes blaue Kleid anziehen solle, in welchem sie Gustav zum letztenmale damals gesehen, und an das sie gestern Hans durch die Pahnk hatte erinnern lassen. Nicht um Gustavs willen jetzt, wahrhaftig nicht! sondern ihm zu gefallen, dem sie doch in dem Kleide gefallen haben mußte, oder er hätte sich desselben nicht über so lange Zeit hin erinnert. Wie hätte sie je geglaubt, daß er so etwas sähe, beachtete, in so treuem Gedächtnisse behielte! Aber das bescheidene Sommerfähnchen war mittlerweile noch unscheinbarer geworden und gänzlich aus der Mode. Es war unmöglich, so zu erscheinen vor den Augen der griechischen Prinzessin, die in Samt und Seide dahergerauscht kommen würde, behangen mit Ketten, besteckt mit Ringen, das Spitzentaschentuch duftend von Rosenöl. Mochte sie! Hans' Geschmack war es gewiß nicht; und nur für ihn war es, daß sie heute so wählerisch war, bis sie es endlich glücklich getroffen hatte und sich mit einem letzten Blicke in den Spiegel sagen durfte, daß sie trotz der schlechten Nacht ungewöhnlich hübsch aussah.
Dennoch schlug ihr das Herz, als sie jetzt durch die langen Korridore die Treppe hinab nach dem Speisezimmer ging. Sie 121 würde dort die Großeltern treffen; sollte sie es ihnen sagen? sollte sie es Hans überlassen?
Sie stand vor der Thür; drinnen hörte sie das Klappern von Tassen und Löffeln. Es würde eine furchtbare Scene geben. Gleichviel! Einmal mußte es sein und dann lieber auf der Stelle!
Erleichtert atmete sie auf, als sie, die Thür öffnend, nur Wilhelm sah, der von dem schon gedeckten Frühstückstische einen Teil der Sachen abräumte. Die Excellenzen hätten befohlen, oben für sie zu servieren, und ließen dem gnädigen Fräulein sagen, daß sie heute auch nicht zur Tafel kommen würden. Das gnädige Fräulein möchte sich nicht hinauf bemühen; die Excellenzen hätten beide eine schlechte Nacht gehabt und wünschten vorderhand allein zu bleiben. Ob das gnädige Fräulein etwas an die Excellenzen auszurichten habe?
Wilhelm hatte das gegen seine muntere Gewohnheit verlegen und zögernd gesagt. Er wußte natürlich alles – bis auf das eine. Oder hatte er auch das bereits von der Pahnk gehört?
Sie hätte es gern erfahren; aber sie durfte doch nicht danach fragen. So ließ sie denn nur die Excellenzen grüßen und ihnen gute Besserung wünschen.
Sie war wieder allein in dem Zimmer und dachte, während sie mechanisch ihr Frühstück einnahm, an die Scene von gestern Abend. In dem Sonnenlichte, das breit durch die Fenster und die weit offene Thür hereinflutete, hatte sie Mühe, sich die Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Wie war es gewesen? Wie war es so gekommen? Hatte es so kommen können? Da auf dem Divan hatte sie gesessen, dort, ein paar Schritte von ihr entfernt, Hans. Und als er ihr von Gustav erzählte, hatte sie doch nichts als Zorn gegen ihn empfunden, daß er es wagte, ihr das zu erzählen; daß er das Herz hatte, den Meineidigen hierher einzuladen; ihr zuzumuten, mit ihm und der Frau unter einem Dache zu leben, zu verkehren, als verstände es sich von selbst, als sei sie eine Dienstmagd, die man auch nicht fragt, ob ihr die Gesellschaft, die man in das Haus bittet, gefällt oder 122 nicht. So hatte sie in empörter Seele die Demütigungen durchgekostet, die ihr bevorstanden; denen er sie aussetzte, er, der ihr Beschützer und Verteidiger hätte sein sollen in der verzweifelten Lage, in die er sie gebracht. Oder wäre sie ohne seine Dazwischenkunft nicht mit den alten Leuten nach Griebenitz gefahren, hätte sich dort mit Axel verlobt und könnte heute, als Axels Verlobte und zukünftige Gräfin und Majoratsherrin von Grieben, der griechischen Prinzeß und ihrem Galan stolz gegenüber treten? Ja, selbst wenn sie sich nachträglich wegen ihres Nichtkommens bei Axels Eltern und ihm selbst entschuldigt hätte, würden die aus Griebenitz nicht glücklich gewesen sein und sie mit offenen Armen empfangen haben, heute, wie gestern? War doch der alte Graf vollständig in sie verliebt, und konnte sie doch von der pompösen Frau Gräfin verlangen, was sie wollte! Und sie hatte mit dem allen doch nicht nur gespielt, oder den Leuten zeigen wollen, daß, wenn sie auf Gustav wartete, es wahrhaftig nicht aus Verlegenheit sei um eine gute Partie – sie hatte ja in mancher bang verzweifelten Stunde kommen sehen, was jetzt gekommen war, und sich gesagt: der Weg zu seinen ehrgeizigen Zielen geht über dich weg; du willst ihm den Schmerz ersparen, dich zertreten zu müssen. Sie hatte an das alles wieder gedacht, als sie brütend dasaß, während Hans erzählte. Und dann – ja dann hatte doch die fürchterliche Gewißheit, von ihm verlassen und verraten zu sein, den sie so grenzenlos geliebt, sie wie Wahnsinn gepackt, und dann – ja, was war dann, wie war es nur geschehen? Er hatte gesagt, daß er sie liebe, immer geliebt habe. Nein, das nicht! Was war es nur gewesen?
Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt; sie sann und sann; sie konnte die Worte nicht wieder finden, die er gesprochen hatte, und bei denen ein so seltsamer Schauder über sie gekommen, wie sie ihn empfunden, als sie zum erstenmale zur Kommunion ging, und der alte Pastor, der sie eingesegnet, mit vor Rührung zitternder Stimme die Weihworte sprach von dem Leibe, der für uns gebrochen, und dem Blute, das für uns vergossen. Aber dann das Gericht, das der sich ißt und trinkt, der 123 unvorbereitet kommt! Großer Gott, war sie denn nicht auch gestern ganz unvorbereitet gewesen? Und hatte es sie darum nicht gerade so mächtig, so überwältigend getroffen, daß sie ihm um den Hals fallen und danken mußte für seine große, edle Liebe, die er so lange Jahre still in sich getragen? Unvorbereitet! Dafür kann man nichts, wenn der andere so seltsam und verschwiegen, wie er! Aber unvorbereitet bleibt? Sich nicht mit Dankbarkeit erfüllt für so große Liebe? Sich fragt, ob man diese Liebe wohl jemals wird erwidern können?
Sie hatte, den quälenden Gedanken zu entfliehen, mechanisch nach der Sundiner Zeitung gegriffen, die jeden Morgen auf dem Frühstückstische lag, und welche Wilhelm vorhin mit hinauf zu nehmen vergessen hatte. Ohne zu wissen, was sie las, die letzte Seite, welche Annoncen enthielt, mit den Augen überlaufend, fesselte der Name Prebrow ihre Aufmerksamkeit. Es war eine Warnung Karl Adolf Prebrows, seiner Tochter Johanna, die vor zwei Monaten ihren Brotherrn in Sundin gegen seinen Willen verlassen, sich wiederum gegen seinen Willen in der Stadt aufgehalten und seit drei Tagen aus der Wohnung der Witwe Fischer, bei der sie sich in Kost und Logis gegeben, verschwunden sei, auf seinen Namen zu borgen, da er keinesfalls für Bezahlung aufkommen werde. Gleich darunter die Erklärung der verwitweten Schuhmachermeister Fischer, daß sie diejenigen lieben Nachbarn, welche behaupteten, sie habe die J. P. aus W. auf R., die bei ihr, allerdings ohne zu bezahlen, seit zwei Monaten gewohnt, aus dem Hause gejagt und auch sonst mißhandelt, als böswillige Verleumder vor Gericht belangen werde. Hertha legte das Blatt hin mit einer seltsamen Empfindung, die wohl nur in ihrer aufgeregten Stimmung ihren Grund hatte. Draußen in dem sonnigen, morgenfrischen Garten würde ihr besser zu Mute werden.
Sie erhob sich und schritt rasch auf die Thür zu. Aber noch ehe sie dieselbe erreichte, hatten die düsteren Gedanken sie wieder eingeholt und hielten sie auf der Schwelle fest.
Die rote Hanne! wußte sie doch längst durch das Gerede der Pahnk und der Mägde, daß die rote Hanne nicht gutthue; 124 und hatte sie es doch sehr begreiflich gefunden und sich das etwaige traurige Schicksal des Mädchens nicht eben zu Herzen genommen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo Hanne Prebrow oft auf das Schloß kam, um mit ihr zu spielen, wenn jene auch vier bis fünf Jahre älter und also mehr eine Kameradin für Gustav war. Und sie hatten sehr gut miteinander gestanden, Gustav und die Hanne; und sie wollte es nicht leiden, und Hanne sollte nicht wieder aufs Schloß kommen. Da hatte Gustav gelacht und gesagt: ihm könne es gleich sein, er mache sich nichts aus der Roten; aber er kenne einen, der werde sich freuen, wenn sie auf dem Schlosse in Ungnade falle und zu Hause bleiben müsse. Man könne zu Hause eben so hübsch sein, und im Walde schmeckten die Küsse nicht minder süß, als auf dem Schlosse. – Darüber war denn freilich die wunderliche Freundschaft zwischen Hans und dem alten Prebrow in Stücke gegangen. Sie erinnerte sich ganz gut, daß Hans von der Zeit an ein anderer geworden war: still, in sich gekehrt und verschlossen, wie sie ihn seitdem immer gesehen. Aber sie hatte sich, als sie heranwuchs, oft gefragt, ob Hans, wenn er so jedem gesellschaftlichen Umgange und zumal dem mit jungen Mädchen scheu auswich und tage- und wochenlang auf seinem einsamen Hofe saß, nicht heimlich doch mit dem alten Nachbar verkehrte und mit Hanne, die jetzt eben so oft die schöne als die rote genannt wurde und mit ihrer schlankem üppigen Gestalt, den vollen Lippen und begehrlichen Augen auch von gewissen Leuten so genannt werden mochte. Dann war es eine Thatsache, daß Hanne, als sie von der Stiefmutter aus dem Hause getrieben wurde, durch Hans' Vermittelung in Prora bei seinem alten Freunde – Hans hatte immer so sonderbare Freunde! – ein Unterkommen fand. Und Axel Grieben hatte ihr gelegentlich gesagt, auch in Sundin stehe Hanne noch immer unter Hans' Schutz. Axel konnte es wissen, da er, wenn seine Eltern zum Winter in die Stadt zogen, zu Weihnachten nachfolgte und die Gesellschaftsmonate dort verbrachte. Sie erinnerte sich, wann und wo er es ihr gesagt; und sie hatte gethan, als ob sie nicht verstände, was er mit den zweideutigen Worten und dem frechen Lachen, das dabei um 125 seinen Mund zuckte, sagen wollte; aber sie hatte es recht gut verstanden und – sie hatte es geglaubt. Es war das gewiß frivol und unmädchenhaft; aber mit einem hellen Kopfe und klaren Augen kann man nicht immer ein Kind bleiben in der Umgebung von Axel Grieben und seinen Freunden. Und wenn jemand, wie Hans, anders zu sein scheint als andere Menschen, ist er darum auch anders? Oder gibt er sich nur den Schein, um erst recht zu sein, wie alle anderen; ja, und vielleicht noch nicht einmal so gut wie jene, die doch wenigstens den Mut ihrer immerhin nicht schönen Thaten und Meinungen hatten?
Das war damals gewesen – noch vor acht Wochen auf dem Balle bei Salchows – und heute?
Heute durfte sie so nicht mehr denken, durfte sie das nicht mehr glauben, von ihm, der ihr gesagt hatte – in einem Augenblicke der tiefsten Erregung, die das Geheimnis so langer Jahre aus seiner verschwiegenen Seele löste – daß er sie liebe und immer geliebt habe. Und dem sie sich dann versprochen hatte aus freien Stücken und mit einem teuren Schwur zugeschworen, daß sie ihn wieder lieben wolle.
Aber kann man denn lieben wollen? Hatte sie den andern lieben wollen? Oder hatte sie ihn geliebt und lieben müssen, wie sie den Sonnenschein da auf den Blumenbeeten liegen sah und sehen mußte, weil sie Augen, und die Vögel in den Bäumen hörte und hören mußte, weil sie Ohren hatte?
Als könnte sie sich damit auch von den quälenden Gedanken losreißen, richtete sich Hertha von dem Thürpfosten, an dem sie lehnte, auf und schritt die Freitreppe hinab in den Garten. Aus dem Seitenflügel links, den ihr das dichte Buschwerk zum Teil verdeckte, hörte sie die laute ärgerliche Stimme der Pahnk und das Rücken von Möbeln und Klopfen von Decken und Betten. Es war wohl ihre Pflicht, dort nach dem Rechten zu sehen, aber für Gustav und seine Frau ein Heim zu bereiten – das konnte niemand von ihr verlangen. Auch nicht, sie bei ihrer Ankunft in der Thür zu empfangen und willkommen zu heißen. Nun ja, sie hatte ihre Mienen in der Gewalt, wurde unter dem Blicke der jungen Frau nicht den ihren senken, würde –
126 Die abscheulichen Gedanken! Ich will mich nicht länger quälen lassen, ich will nicht.
Sie hatte längst das Rondel vor der Freitreppe hinter sich und schweifte nun weiter durch den Garten, durch den Park, hierhin, dorthin, ziellos, ruhelos, immer bemüht, ihre Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes außer ihr zu lenken: auf die goldenen Sonnenlichter hier zwischen den Stämmen der Buchen, auf das sanfte Murmeln des Quelles dort zwischen den Farrenkräutern, den rastlosen Gesang der Vögel, das Tanzen und Flimmern der Insekten aus Licht in Schatten, aus Schatten in Licht – vergebens! Nach wenigen Minuten schon ertappte sie sich wieder bei den quälenden Gedanken, vielmehr bei einem, in dem sich jetzt die anderen alle konzentriert hatten: wie wird unser Wiedersehen sein?
In dem Banne dieser verhängnisvollen Frage fühlte sich die Umherirrende unwiderstehlich angezogen von dem einen Platze im Parke, den sie bisher sorgfältig vermieden hatte, weil sie wußte, daß sie dort am wenigsten sich selbst würde entrinnen können. Und nun stand sie doch oben auf der zu einer Plattform umgeschaffenen Spitze des Hügels, unter der Rieseneiche, dem Wahrzeichen der Schiffer auf dem Meere, das dort, eingerahmt von den grünen Wänden niedrigerer Buchen, wiederum über Buchenwipfeln herüber blitzte. Da auf der Bank am Stamme der Eiche, dem Einschnitte gegenüber, wie oft, wie oft hatte sie da gesessen und sein gedacht bei jedem weißen Segel, das vorüber glitt, und mit dem sie zog und schweifte in die blaue Ferne – zu ihm, zu ihm!
Noch einmal ihn träumen – ihrer Jugend Traum – zum letztenmale!
Sie blickte empor, erschreckt von dem plötzlichen Klappen der mächtigen Schwingen, mit dem ein Adler, der in dem dürren obersten Geäst des Baumes gesessen, sich erhob, um ein paar Sekunden darauf, schon in Turmeshöhe über ihr, für sie sichtbar zu werden und, steigend und steigend, bis zu halber Größe zusammengeschrumpft, Kreise in Kreise schlingend, sichtbar zu bleiben.
127 Ihr Auge konnte sich nicht losmachen von dem beweglichen Punkte: als habe sich im Sturm von ihr losgerissen und schwebe da oben über ihr, unerreichbar, ihrer spottend, um in der Unendlichkeit zu verschwinden und nimmer wiederzukehren, ihre Jugend, ihr Glück, ihre Liebe – alles, alles, was ihr trotz der Thränen, die es sie gekostet, das Leben doch als ein köstlich Gut hatte erscheinen lassen, wert, daß man dafür klug und schön und anmutig war, und sich am Abende, müde von dem unterhaltenden Spiele, schlafen legte, um es am andern Morgen mit frischen Sinnen wieder zu beginnen. Und es war ihr, als sei, was ihr vom Leben geblieben, eine schwere unbewegliche Last da auf ihrem Herzen und drückte und preßte, daß sie sich hätte tot weinen mögen. Doch keine Thräne kam, wie sie nun auf der Bank, den Kopf in die Hand gestützt, vor sich hin starrte auf den Boden, wo die Schatten mit den Lichtern tanzten zu dem Rauschen des Windes oben in den Wipfeln und dem Murmeln der Wellen unten zwischen den Kieseln des Strandes.
Wie werden wir uns wiedersehen? Wird er den Mut haben, mir in die Augen zu blicken? Hätte er den Mut, er wäre gestern Abend noch gekommen –trotz alledem! hätte gesagt . . .
Hertha!
Sie fuhr mit einem Schrei in die Höhe und starrte auf den Mann, der, durch die Breite des kleinen Platzes von ihr getrennt, wo der Weg von der Strandpforte herauf mündete, zwischen den Büschen stand.
Gustav!
Wie von Geisterhänden getragen, war sie ihm entgegengeflogen, der mit ausgebreiteten Armen ihr entgegen kam. Plötzlich blieb sie stehen und wich zurück, so daß auch er sich ihr nicht mehr zu nähern wagte. Das war nicht Liebe, was aus den Augen blickte, die er groß und fest auf sich gerichtet sah! Die Arme sanken ihm herab; ein bitteres Lächeln der Enttäuschung, dem er den Anstrich der Trauer zu geben versuchte, zuckte um seine Lippen:
So sehen wir uns wieder! murmelte er.
128 Es war die Antwort auf die Frage, an deren vergeblicher Lösung sie ihr Denken erschöpft.
Und jetzt zuckte es auch um ihre bleichen Lippen; aber sie gab sich nicht die Mühe, die Bitterkeit ihres Lächelns abzuschwächen:
Ja, sagte sie. So! Und es ist Deine Schuld, wenn es nicht anders ist.