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Es war um die Mittagsstunde des folgenden Tages. Hans hatte den Bruder bereits am Morgen abgeholt, mit ihm einen Ritt durch die Felder zu machen, von welchem sie längst hätten zurück sein sollen. Hertha und Isäa saßen, der Männer harrend, plaudernd an jener Stelle am Ausgange der Buchenallee, wo sie sich gestern zum erstenmale gesehen hatten, hinter sich den tiefschattigen, kühlen Park, vor sich, jenseits des großen Blumenrondels, das sonneüberstrahlte Schloß mit den herabgelassenen Marquisen und geschlossenen Vorhängen.
An einem Fenster der unbewohnten Gesellschaftszimmer des oberen Stockes waren die Vorhänge gerade so weit auseinander gezogen, daß eine Spalte für den mächtigen Operngucker blieb, durch welchen der Kammerherr seit einer halben Stunde die beiden Damen drüben am Parkesrand beobachtet hatte.
Elle est ravissante! murmelte er, indem er ermüdet das schwere Glas sinken ließ, und wollte es eben wieder vor die Augen nehmen, als er die Thür gehen und das Rauschen eines Seidenkleides hörte. Er wendete sich, indem er zugleich den Operngucker hinter den Schößen des Fracks zu verbergen suchte, und lächelte seine Gemahlin an, die, im Begriffe das Zimmer zu durchschreiten, ihn erst jetzt bemerkte und nun auf ihn zutrat.
Sie hier, mein Freund? Aber ich suche Sie überall. Was thun Sie denn hier? Ah so! Wahrhaftig, Sie sind unverbesserlich.
Sie hatte den Operngucker bemerkt, auf dessen Gebrauch sie aus den verschobenen Falten der Gardine um so leichter einen Schluß machen konnte, als sie selbst, während sie durch das 138 Nebenzimmer kam, ebenfalls hinter einer Gardine mit Hilfe ihrer Lorgnette die Gruppe am Parkrande mehrere Minuten aufmerksam betrachtet hatte. So mußte sie denn, trotzdem ihr nicht danach zu Mute war, lächeln, indem sie mit dem Fächer den Ertappten auf den Arm klopfte. Herr von Lindblad lächelte mehr aus Verlegenheit als aus Höflichkeit ebenfalls, legte aber sofort das Gesicht in ernste Falten und sagte: Es wäre ja zum Lachen, wenn man nur nicht auf seine eigenen Kosten lachen müßte. Aber kommen Sie, meine Liebe; es ist hier eine erstickende Hitze, und ich möchte mit Ihnen in aller Ruhe sprechen.
Er hatte der alten Dame den Arm geboten und führte sie schweigend durch ein paar Gemächer, bis sie in den großen Saal gelangten, der, nach vorne gegen Abend gelegen, für die Stunde eine angenehme Kühlung gewährte. Dort rückte er ihr in einem der tiefen Fenster einen Fauteuil zurecht, nahm ihr gegenüber Platz und sagte mit nachdenklicher Miene:
Wir müssen uns entscheiden, meine Liebe.
Er hatte es auf schwedisch gesagt, was für die alte Dame soviel hieß, als daß er in dem folgenden Disput fürs erste das große Wort zu führen beabsichtige. Sie ihrerseits war um so mehr geneigt, ihm das gern zu gewähren, als sie ein Geheimnis vor ihm hatte, welches sie ihm nur mitzuteilen wagen durfte, wenn er bei bester Laune war. Und mußte sie doch auch dann auf eine schlimme Scene gefaßt sein.
Ich meine, Sie haben sich entschieden, erwiderte sie gezwungen lächelnd.
Woraus schließen Sie das?
Hertha hat uns ebenso wie schon gestern heraufsagen lassen, daß um ein Uhr serviert sein würde. Es ist jetzt zwölf und – Sie sind bereits in großer Toilette.
Nur für Sie, meine Liebe; einzig für Sie.
Er bewegte sich unbehaglich auf seinem Sessel und fuhr nach einer kleinen verlegenen Pause fort:
Nun ja, ich will es nicht leugnen, ich habe einen Augenblick gedacht, die Rolle, die wir seit gestern spielen, zu spielen gezwungen sind – denn man hat uns hineingedrängt – sei auf die 139 Dauer undurchführbar. Sie ist es auch wohl. Die Frage ist nur, sollen, dürfen wir sie so bald aufgeben? Ich habe mich nach reiflicher Ueberlegung, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, für das Nein entschieden.
Und warum, wenn ich fragen darf?
Das ist es, was ich mir verstatten wollte, Ihnen auseinander zu setzen. Um es mit einem Worte zu sagen, weil, wenn wir mit unserer Verzeihung der ungeheuren Rücksichtslosigkeiten, die man sich gegen uns erlaubt, zögern; unsern Konsens zu dem Skandal, den man unter unsern Augen aufzuführen die Keckheit hat, hinaus schieben, wir nichts verlieren und nur gewinnen können.
Aber was, mein Lieber?
Mein Gott, sagte der Kammerherr, sich in einen Aerger hinein redend, den er innerlich keineswegs empfand, mir deucht, das liegt doch auf der Hand. Wer respektiert sein will, muß sich zuerst selber respektieren. Duldet man Despektierliches, nimmt es als etwas hin, was sich von selbst versteht, so beweist man eben dadurch, daß man sich selbst nicht respektiert. Mir deucht, das ist doch klar.
Gewiß, gewiß, murmelte die alte Dame, die kaum ein Wort von dem verstanden, was er mit so großer Selbstzufriedenheit vorgebracht hatte.
Sehr schön, fuhr er fort, indem er die Spitze seines Zeigefingers auf den Tabak in der geöffneten Dose tupfte und vorsichtig gegen die Nase führte. Sie geben mir, wie ich voraussetze, meine Prämissen zu, und werden sich, ich bin davon überzeugt, den Folgerungen, die ich daraus ziehe, nicht verschließen. Konstatieren wir zuerst das Faktum – die Fakta, wenn Sie wollen. Es kommt nach drei Jahren und, nachdem er über ein Jahr uns ohne alle und jede Nachricht gelassen, der Knabe, der junge Mensch, Ihr Enkel – den wir von jeher mit unserer Güte überschüttet, den wir, trotzdem er es nicht um uns verdient, die kostspieligen Tollheiten seiner beiden ersten Reisejahre, sein ungezogenes, völlig unerklärliches Schweigen sodann vergeben; den wir endlich, da dieses Schweigen nur noch die eine 140 schmerzliche Deutung zuließ, als einen Verschollenen, einen Toten zu beweinen uns anschickten – dieser junge Mensch, sage ich, kommt zurück, hierher, wo er seine Großeltern wohnen weiß, ohne vorherige Ankündigung, wie in einen Gasthof, und kommt nicht allein, kommt mit Frau und Kind –
Meinem Urenkelkind, murmelte die alte Dame.
Um so schlimmer! das heißt, natürlich ist es Ihr Urenkelkind, da Sie das fragliche Glück haben, die Großmutter dieses so überaus form- und rücksichtslosen jungen Herrn zu sein. Aber da Sie mich einmal unterbrachen –
Er hatte den Faden verloren und nahm gegen seine Gewohnheit eine volle Prise.
Ich bitte um Entschuldigung, sagte die alte Dame.
Bitte, sich nicht zu genieren! rief er, die Dose zuklappend, weshalb diese Umstände. Was kommt denn darauf an, ob ich etwas entschuldige oder nicht; ein alter Pensionär, der von der Gnade Ihres ältesten Herrn Enkels lebt! Aber das ist mein einziger Trost bei der ganzen Sache, die Verbindung, gegen die er – sagen Sie mir nichts – im stillen immer intriguiert hat – nicht weil er, wie Sie es auslegen, an seinem Herrn Bruder mit solcher Affenliebe hängt, sondern einzig und allein, um uns, wenn Sie wollen, mich zu ärgern – wird nun doch, und nun erst recht zustandekommen, trotz des Affronts von vorgestern Abend. Ich bitte nur unterthänigst, mich völlig gewähren zu lassen, und mir meine diplomatischen Zirkel nicht durch jene übel angebrachte Familien-Sentimentalität zu stören, von der Sie in letzter Zeit in einer für mich ebenso unbegreiflichen wie peinlichen Weise geplagt werden. Dann, aber auch nur dann, mache ich mich anheischig, die Sache trotz alledem glorreich zu Ende zu führen. Ich hatte vorgestern Abend in Griebenitz schon die Klugheit, die einzig mögliche Entschuldigung für Herthas Ausbleiben vorzubringen: die Wirkung des furchtbaren Schreckens, der das arme Mädchen – beachten Sie, Madame, jedes meiner Worte! – der das arme Mädchen befallen mußte bei der Nachricht von der Rückkehr des jungen Menschen, mit dem sie, nach dem Wunsche des älteren Herrn Bruders, sich verlobt wissen sollte, in dem Augenblicke, wo sie sich mit dem Manne ihrer eigenen Wahl verloben wollte. Verstehen Sie, meine Liebe, verstehen Sie, dem Manne ihrer eigenen Wahl! Sie werden mir wiederholen, was bei Ihnen ja leider zur fixen Idee geworden zu sein scheint: Hertha liebe unsern jungen Freund nicht. Mag sein! ich aber sage Ihnen, jetzt wird sie ihn lieben; muß sie ihn lieben, wenn sie noch einen Funken von dem Selbstrespekt hat, den ich vorhin als die Basis desjenigen Respektes zu bezeichnen mir erlaubte, welchen wir bei anderen genießen wollen, und an dem es ihr doch wahrlich sonst nicht fehlt. Jedenfalls – ob mit, ob ohne Liebe – muß sie ihn heiraten und muß mir auf den Knieen danken, wenn ich ihre, allerdings durch die vorgestrige Aufführung etwas verfahrene Sache wieder in das rechte Geleis bringe. Nun aber will ich Ihnen die Bedingung nennen, unter der ich bereit bin, Ihren jüngsten Herrn Enkel zu empfangen, ihm seine Brüskerien zu vergeben und seine junge Gattin, die ja wirklich ihrem Aeußern nach eine Prinzessin zu sein verdient, in meine verzeihenden Arme zu schließen. Diese Bedingung ist, daß Hertha erst einmal selbstverständlich wegen der greulichen Scene, die sie uns vorgestern Abend gespielt hat, Abbitte leistet; sodann mir plein pouvoir gibt, für sie in Griebenitz abzuschließen und den Tag der Verlobung, welche dann nur en petit comité gefeiert werden dürfte, zu fixieren. Um ihr das zu insinuieren, Madame, mögen Sie ihr die erbetene Audienz bewilligen – meinetwegen sofort. Und da ich nicht zweifle, daß sie nichts thun kann, als Ihnen dankbar die Hände küssen, so – so werden wir ja nicht umsonst zu einem Familien-Diner, das wir zum erstenmale mit unserer Gegenwart beehren, die schickliche Toilette gemacht haben.
Er hatte den letzten Teil seiner Rede französisch gesprochen, für die alte Dame ein Beweis, daß er seine Sache gewonnen zu haben glaubte und auf ihre unbedingte Zustimmung rechnete. Und jetzt, während er ihr galant die Hand küßte und sich, wie sie recht gut wußte, im voraus auf die große Rolle freute, die er, als ein Verzeihender, mit allem Aufwande feierlicher Liebenswürdigkeit dem Enkel und seiner schönen jungen Frau 142 gegenüber spielen würde, ihm sagen zu müssen, was doch nicht länger verschwiegen bleiben konnte!
Sie zog die zitternde Hand zurück und sagte, indem sie sich mit dem Fächer Luft zuwehte, an der es ihr plötzlich mangelte:
Hertha ist bereits bei mir gewesen – heute morgen, bevor Sie sich erhoben hatten. Sie –
Nun, sagte der Kammerherr, dem aus der bangen Miene der Gattin und ihrem ängstlichen Tone nichts Gutes ahnte. Nun? – Es war nicht schön von Ihnen, sie gegen mein ausdrückliches Verbot zu empfangen – indessen – werde ich es erfahren?
Sie werden mir zürnen, obgleich ich doch völlig unschuldig bin, obgleich ich doch eben so erschrocken war, wie Sie es sein werden –
Sie will nicht? Selbst jetzt noch nicht? Sprechen Sie es aus, in Teufels–
Sie kann es nicht mehr, nachdem sie sich vorgestern Abend –
Aber ich sage Ihnen, ich werde das wieder in Ordnung bringen –
Mit Hans verlobt hat.
Die alte Dame hatte es mit dem Aufbieten ihrer letzten Kraft nur eben hervorgebracht und sank erschöpft in den Fauteuil zurück. Der Kammerherr, der im ersten Momente, da sie sehr leise gesprochen, sich wirklich verhört zu haben glaubte, aber nach einem zweiten prüfenden Blicke auf das bleiche Gesicht ihm gegenüber an dem Unglaublichen nicht länger zweifeln konnte, wollte höhnisch auflachen, brachte es aber vor der Wut, die ihn erfüllte, nur zu einem greulichen Grinsen.
Bravo! rief er, so ist es recht! Dummheit über Dummheit! Man verpfuscht sich die beste Partie und nimmt den ersten besten, der einem über den Weg läuft! Man kennt das. Man kennt das. Aber diesen! Einen Menschen ohne Manieren, Bildung, Kopf, Herz, – unsern Tyrannen, unsern Kerkermeister! Das ist unerhört, das ist schändlich! Das ist ein Verbrechen! Das ist eine Perfidie, das ist ein Komplott – gegen uns, Madame, gegen uns! Angestiftet von der Schlange, die wir an unserem 143 Busen genährt, und die dafür, wie billig, ihre Wohlthäter sticht, tötet! Das ist mein Tod! Unter der Tyrannei dieses einäugigen Clowns zu stehen, dieses unmanierlichen Tölpels – es war hart. Aber sie zu unserer Herrin haben, die unser Gnadenbrot gegessen, die Tochter eines Trunkenboldes und einer Person, die nichts Besseres war als Ihre Kammerfrau – das überlebe ich nicht. Die ausbündige Kokette! Die falsche Kreatur! Freilich, sie mußte ja jemanden haben, an dem sie mit aller Bequemlichkeit ihre Künste üben konnte. Das ist wenigstens ein Trost. Ich gratuliere im voraus zu den Urenkeln, Madame, sie werden ein wenig bunt ausfallen. Je bunter, je besser! Und da Sie, wie es scheint, mit Ihrer so liebenswürdigen, so rücksichtsvollen Verwandtschaft Frieden gemacht haben, genieren Sie sich meinetwegen nicht, gehen Sie in Gottesnamen zur Tafel – ich bitte um die Erlaubnis, mich in mein Zimmer zurückziehen zu dürfen. Ich war entschlossen, mir die eine Stiefenkelin gefallen zu lassen, aber zwei auf einmal – c'est plus fort que moi! Merci! Adieu, Madame! Adieu!
Er hinkte durch den Saal, und warf, in seinem Zimmer verschwindend, die Thür hinter sich ins Schloß, zum Ueberflusse den Riegel mit Geräusch vorschiebend.
Die alte Dame hatte keinen Versuch gemacht, den Zornigen zurück zu halten; sie wußte, daß es vergeblich sein würde, auch hätten ihr die zitternden Glieder den Dienst versagt.
So war sie denn sitzen geblieben in dem Fauteuil in der Nische am offenen Fenster, durch welches die warme Sommerluft hereinhauchte, den Duft der Lindenblüten mit dem Parfüm ihres Taschentuches mischend, dessen Zipfel sie von Zeit zu Zeit mit zitterndem Finger in die Augen drückte, einer Thräne das Herabrollen auf die geschminkte Wange zu verwehren. Es war so gekommen, wie sie gefürchtet. Sein Haß gegen Hans hatte den Sieg davongetragen, ihn vergessen lassen, daß er schon gestern und ganz gewiß heute entschlossen gewesen war, sich mit Gustav zu versöhnen und der schönen jungen Frau, die er ihnen zugeführt, zu huldigen. Wann hätte er je einer solchen Lockung widerstanden! Noch dann, wenn, wie jetzt, die junge Schöne eine 144 Fürstentochter war. Auch konnte ihm ja diese Verbindung, die Hertha in seinen Augen frei machte, nur gelegen kommen, und Hertha selbst war, seitdem er hoffen durfte, sie werde Axel heiraten, seine verhätschelte Mignon gewesen. Jetzt freilich, da sich das seltsame Mädchen so unerwartet für Hans entschieden, war ihm kein Ausdruck für sie schlimm genug.
Der arme Hans! Er haßte ihn unerbittlich von dem Augenblicke an, als sie einmal von dem Knaben geäußert, er gleiche seinem Großvater, ihrem ersten Gatten, ganz und gar. Das unvorsichtige Wort! Daß es je über ihre Lippen gekommen! Und der arme, verlassene Knabe nun umherwandelte vor den grollenden Augen des Stiefgroßvaters, eine stete Mahnung an einen, den er nie gesehen, und dessen Gedenken ihm doch wie eine verharschte Wunde war, deren leiseste Berührung ihm Qualen verursachte. Der eifersüchtigen Liebe – vielleicht – im Anfang! Aber ach! jetzt gewiß schon längst einzig und allein der Eitelkeit, die sich nicht gefallen lassen wollte, es habe jemals jemanden gegeben, den sie geliebt vor ihm!
Und der doch der Liebe so wert gewesen war, der sie auf seinen breiten starken Händen getragen hatte, wie ein Kind, das sie ja auch damals noch war mit ihren siebzehn Jahren – ein verwöhntes, eitles, putzsüchtiges Kind, dem er jede Unart gutmütig verzieh; dessen verschwenderische Launen er mit königlicher Freigebigkeit befriedigte, ohne je auch nur mit den Wimpern zu zucken, wenn er sah, was er doch sehen mußte, daß ihre Unersättlichkeit sein stattliches Vermögen wie Wasser durch seine allezeit offenen Händen rinnen machte. Und ihr einziges Kind, ihr übermütiger Harold, ganz nach der leichtsinnigen Mutter artete, die ihm jeden unbändigen Willen ließ. Und ihn allein ließ, den kaum dem Jünglingsalter Entwachsenen, als sie nach so kurzer Wittwenschaft dem schönen Schweden folgte, zu dem sie eine Leidenschaft erfaßt hatte, die ihr später oft genug wie ein Wahnsinn erschienen war.
Die alte Dame bewegte sich unruhig auf ihrem Sessel. Was war es nur, daß ihr das alles jetzt zurück kam? Ihr ganzes Leben an ihr vorüber zog wie Bilder einer Zauberlaterne – 145 da am offenen Fenster, wo doch nichts mit leiblichen Augen zu sehen war, als die im Sonnenschein schillernden Insekten, welche herangeschossen kamen, mit zitternden Flügeln ein paar Augenblicke stillstanden und dann weiter schossen; der blaue Himmel mit einer weißen unbeweglichen Wolke und die obersten Wipfel von ein paar Linden, in denen die Vögel jubilierten, daß es über den stillen Hof bis hierher herüber klang.
Gerade so ein Sommertag war es gewesen, als sich durch die Allee der Trauerzug bewegte, der die Leiche von Harolds jungem Weib hinweg trug auf den Kirchhof nach Prora, sie da zu betten an der Seite ihres Gatten, auf dessen Grabe das Gras noch nicht hatte keimen können. Sie hatte in die erkaltenden Hände der Aermsten versprochen, dem kleinen stillen Jungen mit den großen scheuen schwarzen Augen und dem Neugeborenen in der Wiege eine gute Großmutter zu sein, ihnen soweit es in ihren Kräften stand, Vater und Mutter zu ersetzen. Wie hatte sie ihren Schwur gehalten – großer Gott! – und den sie doch mit erschütterter Seele in bester Absicht geschworen und auch gehalten haben würde, wenn –
Ach, sie wollte ihn ja nicht anklagen! Er mußte sie doch geliebt haben – weshalb hätte er sie sonst geheiratet, die um drei Jahre ältere, die nichts besaß, als den stattlichen Witwensitz, den sie der Großmut ihres ersten Gatten verdankte. Und was war die Bagatelle für ihn, der in so mancher Nacht ein größeres Vermögen auf eine Karte gesetzt und gewonnen und verloren hatte. Das unselige Spiel! Dem zu entsagen er ihr hundertmal auf den Knieen gelobt, um hinter ihrem Rücken sofort wieder zu beginnen und das Erbe seiner Enkel zu vergeuden, denen er Vater sein sollte, zu deren Vormund man ihn gemacht hatte, und die er zu Bettlern gemacht hätte, wäre inzwischen Hans nicht zum Manne heran gereift, vor der Zeit, und doch nur eben noch zeitig genug, um die letzten Trümmer des Vermögens zu retten. Nicht für sich: für den verschwenderischen Bruder, das Abbild seines Vaters; für die Großeltern, die er, soweit es noch möglich war, in gewohnter Weise schalten ließ, 146 während er selbst sich jeden Genuß seines Alters, seines Standes versagte und ärmlicher lebte wie der Knechte einer, mit denen er um die Wette arbeitete. Armer Hans! armer, guter, großmütiger, mit Haß und Undank belohnter Hans, dem der grausame Mann selbst jetzt den einzigen Lohn nicht gönnen wollte, nach dem sein treues einsames Herz geschmachtet, und auf den er ebenfalls verzichtet hätte, ohne mit der Wimper zu zucken, wie auf jeden andern, wäre der Bruder seiner Neigung treu geblieben und jetzt zurückgekommen, die Braut heimzuführen.
Nun, der Großvater konnte, wie sehr er ihn haßte, ihm sein Glück nicht vorenthalten, aber würde es wirklich für ihn zum Glück ausschlagen? Sie war ja ein bezauberndes Geschöpf, dem es ein Leichtes war, glücklich zu machen, wenn sie wollte. Würde sie ihn glücklich machen wollen, von dem sie selbst eben erst gesagt, noch liebe sie ihn nicht; sie hoffe, daß sie ihn werde lieben können, wie er es verdiene? Ein vieldeutiges Wort in ihrem Munde, der so erfinderisch war, der Meinung, die dem klugen Kopfe gerade zu haben beliebte, einen schicklichen Ausdruck zu geben. Dazu – von den zahlreichen anderen Bewerbern abgesehen – die Gegenwart Gustavs, den sie doch bis vorgestern Abend geliebt haben mußte, oder warum wäre sie seinethalben zu Hause geblieben? Das konnte schwerlich gut werden, gut enden. Der arme, arme Hans! Und wenn ich ihm helfen wollte, was kann ich thun, ich, die von dem tyrannischen Gatten geknechtete, gebrochene, kranke, siebzigjährige Frau!
Die Thränen hatten, je länger die alte Dame so sann, wieder zu fließen begonnen. Aber sie dachte nicht mehr daran, sie aufzufangen, nicht einmal, sie zu hemmen, sondern saß, die gefalteten Hände im Schoße, mit offenen, weinenden Augen, im Geiste wandernd von einer zur andern Scene ihres Lebens, das so reich begonnen – im Ueberschwang von Jugend, Schönheit, Liebe – um immer ärmer, immer kahler, freudeleerer zu werden; eine schale Komödie zuletzt, in der sie, der Eitelkeit des 147 Gatten zu gefallen, die alte Rolle weiter spielte, ihm von einer der öden Gesellschaften zur andern folgend, knixend, lächelnd, fächernd, Nichtigkeiten hörend, Nichtigkeiten sagend, während der Kopf so hohl, und das Herz so leer, und die steifen Glieder so müde waren, so müde!