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Frau Pahnk hatte Hertha wegen des Mittagstisches sprechen wollen, der bereits gedeckt stand: ob der Herr Graf dableiben würde? und ob die Kouverts für die Excellenzen, die eben hätten herabsagen lassen, daß sie heute so wenig kommen würden wie gestern, wieder fortgenommen werden sollten?
Es war augenscheinlich, daß sie nur nach einem Vorwand gesucht hatte, um sich Hertha zu nähern. Sie wartete auch kaum die Erwiderung derselben ab, es vorläufig zu lassen, wie es sei, und inzwischen einige Erfrischungen in den Garten zu schicken, mit überströmenden Augen rufend: Ich halte es nicht mehr aus, Fräulein Herthing!
Was gibt es schon wieder?
Ach, Fräulein Herthing, die ausländische Person! Da kommt sie eben in die Küche, um nach ihrem Mittag zu sehen – sie will ja nicht mit uns Christenmenschen essen und kocht sich ihr Heidenzeugs allein – und rührt in meinem Feuer, wobei sie mir beinahe meinen Suppentopf umstößt; und als ich sie beim Arm nehme – reden kann man ja mit der ausländischen Person nicht – fährt sie auf mich los – mit der glühenden Feuerzange – in Gegenwart von all den Leuten – in meiner eigenen Küche – Fräulein Herthing, das ist am Ende doch zu viel – auf meine alten Tage – das halte ich nicht aus.
Hertha hatte der Klagenden ungeduldig zugehört.
Ich kann Dir nicht helfen, sagte sie, Du mußt sehen, wie Du mit ihr fertig wirst. Ich kann meine Schwägerin nicht bitten, daß sie die Person fortschickt – das mußt Du doch begreifen.
160 Ja, ja, das begreife ich wohl, erwiderte Frau Pahnk schluchzend; aber dann sollte sie wenigstens das lütte Gör besser in Obacht nehmen – so ein süßes Gör! Aber wenn das bei der Behandlung groß wird, dann, muß ich sagen, ist es Gottes Wille.
Hoffentlich will er es, sagte Hertha, und nun mach', daß Du fortkommst – ich muß wieder in den Garten.
Frau Pahnk ging; Hertha war an dem Tische stehen geblieben. Die verzweifelte Stimmung der alten Vertrauten war nur ein Gegenbild der eigenen. Die Großeltern würden nicht kommen. Die Großmama hatte ihr vorhin schon wenig Hoffnung gelassen; nun hatte sie mit dem Großpapa gesprochen, ihm die Neuigkeit mitgeteilt – er hatte dieselbe aufgenommen, wie vorauszusehen war – sie konnte sich die Scene vorstellen, als wäre sie zugegen gewesen. Die arme alte Frau! Wer hätte denken können, daß sie, die Hans' Namen kaum jemals auf die Lippen nahm, nie ein Wort der Verteidigung für Hans fand, wenn der Großpapa in gewohnter Weise sich in Schmähungen über ihn erging, ihn so lieb hätte. Daß sie sich rührend freuen würde, als sie nun das große Ereignis erfuhr. So gab es doch eine Seele, die sich darüber freute. Und gerade die sollte sie nun entbehren, nicht in ihren Augen lesen, aus ihrem Munde hören: du hast recht gethan, liebe ihn, lerne ihn lieben von ganzer Seele, mit ganzem Herzen; er verdient es. Laß dich nicht beschämen von der da draußen, die ihn erst seit zwei Tagen kennt, keine hundert Worte mit ihm gesprochen hat, und dennoch ihn so beredt zu loben und zu preisen versteht, während du stumm dasitzest wie ein Kind, dem die Lektion vorgesagt wird, die zu lernen es übrig lange Zeit gehabt, und von der es noch das erste Wort nicht weiß. – Gustav.
Sie sah ihn erst jetzt, als sie, im Begriffe, sich zu erheben und wieder in den Garten zu gehen, zufällig nach der offenen Thür blickte. Da war er auch bereits an ihrer Seite und zog sie wieder auf den Divan.
Bleib' noch einen Augenblick! Ich weiß, wer da ist. Er will das Prävenire spielen. Laß ihn! Die beiden werden sich 161 vortrefflich miteinander unterhalten, und – ich habe Dich heute noch nicht gesehen.
Er blickte, ihre Hand festhaltend, sie mit funkelnden Augen an. Die Glut der Sonne, aus der er kam, lag auf seinem Gesichte, das wieder jugendfrisch und schön war, wie je zuvor. Die Jahre der Trennung waren wie weggewischt – als wäre er eben zu Besuche von Grünwald herüber gekommen, auf ein, zwei Tage, mit Hans zu jagen, mit ihr, Arm in Arm, durch die Felder, durch die Wälder zu schweifen. Ein glückseliger Moment, der die Erinnerung von Jahren in sich faßte, dann hatte sie sich wieder auf sich selbst und die Gegenwart besonnen. Aber er hatte, was in diesem Momente durch ihre Seele zuckte, in ihren Augen gelesen.
Hertha, flehte er leise, geh' nicht! Nicht so! Laß mir Deine Hand! Sieh', ich bin gut – ich küsse die liebe Hand nicht – ich falle nicht vor Dir nieder, Deine Füße, den Saum Deines Kleides – ah!
Sie hatte ihre Hand nun doch aus seiner Hand gerissen und war aufgesprungen, ihn anzürnend mit großen Augen, deren tiefes Blau sich fast zum Schwarz verdunkelt hatte.
Dies noch einmal, und – ich bitte Deinen Bruder, daß er Dich wieder fortschickt.
Sie hatte den Ausdruck nicht brauchen wollen, sie hatte nur in der Erregung keinen andern gefunden. Es that ihr leid, als sie sah, daß er, wie wenn ihn ein tödlicher Streich getroffen, einen Schritt zurück taumelte; aber es war nun einmal gesagt, und sie fürchtete sich zu sehr vor sich selber, um es zurückzunehmen.
Eine bange Pause folgte, dann sagte er langsam, während ihm das Blut allmählich in die Wangen zurückkehrte:
Ich verzeihe Dir! Wie glücklos mußt Du sein, daß Du für einen Unglücklichen, der um ein Stückchen Brot fleht, nur einen Stein hast. Sei ruhig, ich will Dich nicht wieder anbetteln, ich habe mittlerweile das Hungern nach Liebe gelernt. Und nun laß uns in den Garten gehen, fein artig und manierlich. Darf ich Dir meinen Arm geben? Nein? Ich dachte, es machte sich besser; aber wie Du willst.
162 Er öffnete ihr die Fensterthür und schritt an ihrer Seite zwischen den Beeten auf das Paar drüben im Schatten zu. Axel, der jetzt wieder durch einen leeren Stuhl von Isäa getrennt saß, wendete sich, blickte, wie jemand, der seinen Augen nicht traut, den Kommenden entgegen, rief erstaunt-zweifelnd: Ist er es? Wahrhaftig, er ist es! und stürzte auf Gustav zu, ihn umarmend und küssend.
Mein lieber Gustav! Nein, wie ich mich freue! Endlich. Du Vagabund! Du hast uns warten lassen. Nein, wie ich mich freue! Und so braun geworden, und der Henriquatre! Wahrhaftig, ich habe Dich im ersten Momente gar nicht wiedererkannt.
Er hatte ihm die beiden Hände auf die Schultern gelegt, die Gustav jetzt mit einem Lachen abschüttelte, das ihm nicht vom Herzen kam.
Mein Gott! rief er, ich bin doch kein halbes Jahrhundert fortgewesen! Aber das kommt davon, wenn man auf Reisen geht. Du hast Dich gar nicht verändert, kann ich Dich versichern: der lange Axel wie er leibt und lebt.
Bitte, ich bin zehn Pfund schwerer geworden – das weiß ich vom letzten Sundiner Herrenreiten – aber wir vergessen ganz die Damen! Gnädiges Fräulein, wollen Sie nicht wieder Ihren alten Platz einnehmen – Madame, vous savez – ce cher Gustave et moi –
Ah was, französisch! rief Gustav. Jetzt sind wir in Deutschland – Isäa versteht uns ganz gut, und was sie nicht versteht, muß sie lernen. Nicht wahr, Schatz?
Schatz! Ist göttlich! Auf Ehre, das ist göttlich! rief Axel. Aber, im Ernst, Gustav, versteht Deine Frau Gemahlin – verstehen Sie wirklich, Madame – gnädige Frau – o, ich sehe es an Ihren Augen! Und Sie haben mich Unglücklichen mein entsetzliches Bonnenfranzösisch radebrechen lassen, während Sie selbst mit dem unnachahmlichsten Pariser Accente – nein! das ist unerhört, das war zu grausam! – wodurch habe ich das verdient!
Offenbar durch Deine Eitelkeit, in fremden Zungen reden 163 zu wollen, während Du Deine eigene so gut gebrauchen kannst, sagte Gustav; sie muß ja ganz trocken geworden sein. Komm'!
Er schenkte von dem Weine ein, welchen Wilhelm eben gebracht hatte, und hielt ihm das volle Glas entgegen.
Von Herzen! rief Axel, auf treue Kameradschaft, wie in den guten alten Zeiten!
Wollen wir nicht die Herren ein wenig bei ihren Erinnerungen lassen? sagte Hertha, zu Isäa gewendet.
Auf keinen Fall! rief Axel. Die Damen dürfen uns nicht verlassen. Das hieße den Zauber abstreifen von unserem Wiedersehensfest. Das Wohl der Damen! Und sie müssen uns Bescheid thun!
Meine Frau trinkt keinen Wein, sagte Gustav, aber Du, Hertha, Du pflegtest doch sonst –
Ich danke, sagte Hertha, ein wenig Fruchtsaft, Isäa – darf ich?
Isäa schüttelte den Kopf und sagte, Hertha täuschend nachahmend, ebenfalls: Ich danke! worüber denn Axel wieder in Entzücken geriet und behauptete, er müsse auf das erste deutsche Wort, das er aus dem Munde der gnädigen Frau gehört, sein Glas leeren. Gustav that ihm Bescheid; auch Hertha hatte jetzt Platz genommen und mischte sich, während Isäa sich nicht aus ihrer anmutig-bequemen Stellung rührte und stumm zuhörte, nun auch ihrerseits in die Unterhaltung, deren sich Gustav immer mehr bemächtigte. Er wollte sich von Axel nicht an Geistesgegenwart und Gewandtheit übertreffen lassen, und die Lustigkeit, in die er sich hineinwarf, war ihm eine Maske, hinter der er am besten die in ihm wühlende Unruhe verbergen zu können glaubte. So erzählte er denn seine Erlebnisse während des Vormittags: wie ihn Hans beim ersten Morgengrauen – so sei es ihm vorgekommen, obgleich immerhin die Sonne schon ein paar Stunden am Himmel gestanden haben könne – aus dem tiefsten Schlafe in den Sattel geholt und drei unbarmherzige Stunden, oder so, über die ganze Feldmark von Alten- und Neuen-Prohnitz gejagt – nein, nicht gejagt, das wäre ihm recht gewesen, schon deshalb, weil es nicht so lange gedauert 164 haben würde – sondern Schritt für Schritt geführt, daß die armen Gäule selbst vor Langerweile und Verzweiflung die Ohren hätten hängen lassen, während der gute Hans unermüdlich den Cicerone machte und ihm dies Stück, das seit Urgroßvaters Zeit Heide gewesen, als Weizenfeld und eine Roggenbreite als eben den Bruch vorstellte, wo sie ehemals die meisten Kiebitzeier gefunden und die meisten Bekassinen geschossen hätten. Du kannst Dir meine Verwunderung vorstellen, Axel, bei dem intensiven Interesse, das ich von jeher für die Landwirtschaft gehabt habe. Und doch war diese Verwunderung noch gar nichts gegen das maßlose Erstaunen, das mich ergriff, als ich in dem vierschrötigen Kerl, der den letzten Heuwagen von den Wiesen hereinfuhr, Jochen Stut erkennen mußte, Statthalter Stuts jüngsten Jungen, der vor drei Jahren eben eingesegnet und so dürr war wie – na, wie Du, Axel! Und dann – wehe mir – sollte ich unter den sechzig oder siebzig Stück Rindvieh auf dem Dresch die Kuh herausfinden, für die ich mich wegen ihrer absonderlichen Hörner interessiert, als sie noch ein Kalb war, die seitdem im vorigen Jahre auf der landwirtschaftlichen Ausstellung in Grünwald den ersten Preis bekommen, und die ich – ich schäme mich es zu sagen – trotz der absonderlichen Hörner zu entdecken nicht im stande war. Das schlug dem Faß den Boden aus. Hans wurde ganz traurig und meinte – der gute Kerl – es käme wohl davon, daß ich seitdem so viel ausländisches Rindvieh gesehen, welches ja allerdings, wie er sich habe sagen lassen und aus Abbildungen wisse, eine ganz andere Rasse sei, die von dem Holsteiner Schlag, den er züchte – notabene gekreuzt mit Oldenburger – in vielen Punkten abweiche. Ich gab das zu, erlaubte mir aber schüchtern zu bemerken, daß mein Mangel an Judizium vielleicht auch zum Teil daher rühre, daß ich den ganzen Morgen noch nicht einen Bissen gegessen und einen Tropfen über die Lippen gebracht habe. Da erfaßte ihn denn ein menschliches Rühren, trotzdem er innerlich sicher die Notwendigkeit davon so wenig einsah, wie Herr von Talleyrand die Existenz jenes Schneiders, und er erlaubte gnädig, daß wir in Neuen-Prohnitz, in dessen Nähe 165 wir glücklicherweise waren, frühstückten. Welch ein Frühstück! Wahrhaftig, Hertha, Du mußt Dich gelegentlich mit Frau Riekmann in Verbindung setzen und ihr sagen, daß man mit Eiern, die zehn Minuten gekocht haben, wohl Elefanten schießen, aber zivilisierte Europäer umbringen kann, und daß Brot aus Roggenkleie nicht nach jedermanns Geschmack ist – von der Butter und dem Schinken zu schweigen, an denen Kritik zu üben mir der Respekt verbietet, welchen man unter allen Umständen dem Alter schuldet. Und dabei das gute Gesicht von Hans und sein: Na Gustav, wie schmeckt Dir das? Lange nur tüchtig zu! Frau Riekmann hat mehr! Wie denkst Du über einen kleinen Richtenberger? – Axel! Erinnerst Du Dich: das grüne Höllenzeug, das die Kerls auf Wache tranken, wenn sie auf dem Posten festgefroren waren. Und noch sitzen wir bei diesem lukullischen Mahl – ich gerade im Hochgenusse eines zweiten Richtenbergers – als ein Wagen vorfährt, und Hans ganz ruhig sagt: Das ist der Fürst. – Wer? – Er wollte mich heute Morgen besuchen, ich hatte es wahrhaftig vergessen. – Dabei war er mit zweien seiner langen Schritte zur Thür hinaus, und bevor ich noch von dem eingesessenen Ledersofa in die Höhe kann, ohne den wackligen Tisch, mitsamt dem Frühstück, inklusive Richtenberger, umzuwerfen – auf geht die Thür, herein tritt der Fürst und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu, während Hans sich die seinen langsam übereinander reibt, was bei ihm bekanntlich das Zeichen ganz besonderer innerer Zufriedenheit ist. Nun, ich hatte meinerseits keinen Grund, mit dem Fürsten unzufrieden zu sein; er war sehr liebenswürdig, sehr teilnehmend; erkundigte sich auch nach Dir, liebe Isäa, und ob unser Sprößling ein Knabe oder ein Mädchen sei; interessierte sich für meine Oldenburger Mission, ließ sich von König Ludwig erzählen und von unserem jungen König Otto – enfin, war so bezaubernd, daß ich die erste Gelegenheit – ich meine die erste Pause im Gespräche – benützte, mich den Herren, die gewiß Geschäftliches zu besprechen hätten, bis auf weiteres ganz gehorsamst zu empfehlen. Ich kann nicht sagen, daß man mich festhielt, was ich aber um so weniger 166 übelnehmen durfte, als der Fürst bereits vorher geäußert hatte, daß er, wenn es seine Zeit erlaube, sich noch das Vergnügen machen werde, hier vorzusprechen, um Deine Bekanntschaft zu machen, liebe Isäa, und sich nach dem Befinden der Großeltern zu erkundigen, von denen er – notabene nicht durch mich – gehört habe, sie hüteten seit vorgestern – seit dem Balle bei Euch, Axel – das Zimmer. So machte ich denn meine Reverenz, drückte mich zum Zimmer hinaus, in dem Augenblicke, wo Hans Durchlaucht einen Richtenberger präsentierte – wohl bekomm' er dem alten Herrn – setzte mich auf den müden Gaul, klapperte durch die Felder hierher, und – entschuldigen die Damen, wenn ich der Flasche so eifrig zuspreche – ich habe es heute Morgen redlich verdient – laß Dir auch einschenken, Axel – verdient oder nicht verdient!
So schwatzte Gustav mit einer Lustigkeit, die Hertha ins Herz schnitt. Wußte sie doch, vor derem geistigen Auge noch sein bleiches, schmerzzuckendes Gesicht von vorhin stand, wie gemacht das alles war: dies Lachen, dies Spielen mit den Worten, mit den Dingen, mit den Gefühlen – wenn es auch noch so gut gemacht war, wenn sie auch die Kraft bewundern mußte, mit welcher er sich zu beherrschen, Miene, Gebärde, Haltung in den Dienst seines Willens zu zwingen vermochte. Großer Gott! Es war nicht ihre Schuld, daß so herrliche Gaben zu nichts Besserem verbraucht werden sollten als zu dieser traurigen Schauspielerei. Er hatte es nicht anders gewollt. Er hatte auch vorhin die häßliche Scene provoziert, er, der es wagte, ihr von Liebe zu sprechen – der verlobten Braut seines Bruders. Was ging es sie an, wenn er nach Liebe hungerte.
Und, indem sie nun verstohlen Isäa beobachtete, glaubte sie freilich erst das klagende Wort zu verstehen. Da saß sie, die ihr jetzt in all ihrer Schönheit häßlich erschien, und träumte wieder mit halbgeschlossenen Augen in die Wipfel hinauf. Es mochte ja sein, daß ihr von Gustavs schnell gesprochener Rede manches entging; aber, wäre es die Hälfte, alles gewesen – es war doch ihr Gatte, der da sprach, den sie den ganzen 167 Vormittag noch nicht gesehen. Empfing man den Heimgekehrten so, wenn man liebte? Ohne ein Lächeln, wenn man so süß zu lächeln verstand? Ohne seine Gegenwart, seine Nähe zu beachten, zu empfinden, wenn man so seine Sinne hatte, so lüstern mit den beweglichen Nasenflügeln den Rosenduft des Taschentuches einsog? Sich so weichlich in das Kissen des Sessels zurück lehnte? Hunger nach Liebe! Ein ausgeträumter süßer Traum, ein trostloses Erwachen in dem Momente, als sie sich wiedersahen, die sich einst so heiß geliebt! Großer Gott! Und heute erst der zweite dieser fürchterlichen Tage! Welche Schrecken barg das Morgen; vielleicht die nächste Stunde!
Sie konnte die Qual nicht länger ertragen. Im Begriffe, sich zu erheben und unter irgend einem Vorwande in das Haus zu gehen, sah sie von dort her Zoë kommen, die das Kind auf den Armen trug. Die Alte, welche jetzt erst die Gesellschaft bemerkte, wollte eiligen Schrittes in einen Heckengang einbiegen; ein paar in griechischer Sprache gerufene Worte Gustavs zwangen sie, heranzukommen. Man war aufgestanden, und Isäa deckte den Schleier von dem kleinen, bleichen Geschöpfe, das mit großen schwarzen Augen die fremden Gesichter anstarrte und dann zu weinen begann. Gustav wurde ärgerlich; Isäa winkte der Alten in den Buchengang, wo sie sich in geringer Entfernung auf eine Bank niederließ und dem Kinde die Brust reichte; Hertha sagte, sie müsse Blumen für den Mittagstisch pflücken, und machte sich zwischen den Beeten zu schaffen; die beiden Herren hatten sich wieder zu dem Weine gesetzt: Axel mit einer halben Wendung nach dem Buchengang, während Gustav, an Axel vorbei, inzwischen jede Bewegung Herthas zwischen den Rosenbüschen verfolgte.
Du machst kein heiteres Gesicht, alter Kamerad, sagte Axel, ihm die Hand aufs Knie legend.
Wüßte nicht, daß ich große Ursache dazu hätte, erwiderte Gustav, sich über die Stirn fahrend und nach dem Glase greifend, aus dem er einen großen Schluck nahm.
Ich sollte doch meinen, Alter, eine solche Frau! Ich will Dir keine Komplimente machen, aber so was ist einfach noch 168 nicht dagewesen, ich bin ganz entzückt; alle Welt wird es sein. Und, wie ich Dich kenne – ganz unter uns, reich? He?
Gewesen, oder wird es doch erst wieder werden. Die Güter – das Vermögen – alles für den Augenblick sequestriert – eine Tochter des Fürsten Kolokotronis, des berühmten griechischen Helden, den die Statthalterschaft im vorigen Jahre hat einkerkern lassen – schändlicherweise – Du wirst davon gehört haben.
Keine Ahnung! das heißt, jawohl – diese griechischen Dinge – man liest ja zuweilen davon – des Fürsten – wie sagtest Du doch? Und das ist ein wirklicher Fürst?
Wie nur einer, und der seine fünf- oder zehntausend Mann auf die Beine bringen kann, und eben deswegen – aber ich erzähle Dir das alles ein andermal –
Gustav hatte es in einem mürrischen Tone gesagt, der halb berechnet und halb natürlich war. In seiner neu aufflammenden Leidenschaft für Hertha waren ihm seine anderen Interessen, um derentwillen er das Märchen erfunden hatte, fast gleichgültig. Aber nachdem er es erst vorhin mit dem besten Erfolge auch dem Fürsten Prora erzählt, mochte es so weiter seine Wirkung thun; und spaßhaft war es denn doch, die zu beobachten, welche es offenbar auf Axel hatte, der ihn jetzt mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Er fuhr lächelnd fort:
Das dachtet Ihr gestern nicht, als Ihr die Flüchtlingsbagage auf den Leiterwagen packen saht? Hans hat mir so etwas angedeutet: Zigeunergesindel? He?
Axel machte ein verlegenes Gesicht. Der Ausdruck war gestern Morgen in der That mehr als einmal zwischen ihm und den anderen Freunden gefallen. An der Richtigkeit seiner ersten Vermutung, daß die schöne Person, der er im Garten so ungeniert den Hof gemacht, »leichte Ware« sei, die der tolle Gustav unterwegs aufgelesen, und die man ihm mit Leichtigkeit würde wegkapern können, waren ihm allerdings bereits gestern nach der Begegnung mit Hans vor der Gasthofsthür und noch mehr im Laufe dieses Morgens starke Zweifel aufgestiegen – das hatte er nicht erwartet! So erklärte sich freilich ihr 169 wundervolles Französisch, ihr lässig-vornehmes Wesen, ihre souveräne Koketterie – Fürstentochter, Prinzessin also, die zu erobern dem mutigen Ritter nicht ganz so einfach, aber auch doppelt rühmlich sein würde.
Ich bitte, mich nicht mit den anderen verwechseln zu wollen, sagte er, ich habe ihnen schon gestern gründlich den Text gelesen, obgleich ich keine Ahnung – das heißt, ich sagte mir gleich, ein Mann wie Du – indessen, ich würde darum doch nicht gewagt haben, mich heute hier zu präsentieren – ich hatte noch einen andern Grund – einen sehr triftigen – darf ich ganz offen sprechen?
Ich wüßte nicht, was Dich daran verhindern sollte, erwiderte Gustav.
Also, sagte Axel, ich weiß nicht, wie weit Du von den Verhältnissen unterrichtet bist, wie sie sich hier, besonders in der letzten Zeit, zwischen mir und Fräulein Hertha –
Ich glaube so ziemlich au courant zu sein.
Desto besser; auch sagte ich es vorhin schon Deiner Frau Gemahlin, die mir ein großes Vertrauen einflößt, nicht ohne den Wunsch, daß sie es Dir wiedererzähle. Ich denke aber so: geschehene Dinge sind nicht zu ändern, und Du und ich, wir sind immer gute Freunde gewesen. Sollen mir deshalb auseinander kommen? Oder uns gar die Hälse brechen? Oder soll ich mit Deinem Bruder anbinden, der doch trotz alledem am Ende an der Sache ganz unschuldig ist –
Wie meinst Du das?
Du nimmst es mir nicht übel?
Ich gebe Dir mein Ehrenwort –
Nun, ich meine, der gute Hans hat sich mit Fräulein Hertha verlobt, weil – ja, mein Gott, weil sie es wollte, weil sie vorgestern Abend ein wenig den Kopf verloren, nachdem sie Deine Großeltern allein hatte fahren lassen, und dachte, einer muß es sein.
Sehr obligiert im Namen meiner Kousine. Und Du denkst, wenn ich Dich recht verstehe, es liegt nur an Dir, den Status quo ante wiederherzustellen, und ich soll Dir dabei helfen?
170 Mein Gott, wenn Du es so nimmst – und noch dazu in dem gereizten Tone – ich versichere Dich auf Ehre, ich denke nicht daran, dazu bin ich denn doch zu stolz. Und wenn sie mit Deinem Bruder glücklich werden kann, was mir allerdings etwas märchenhaft scheint –
Mir auch.
Dir auch? Warum Dir?
Vermutlich aus ähnlichen Gründen wie Dir, erwiderte Gustav, den Aerger, sich verraten zu haben, hinter einem lauten Lachen versteckend.
Nicht wahr? sagte Axel; die Sache ist doch, milde ausgedrückt, ein wenig wunderlich. Das schöne Mädchen – denn das ist und bleibt sie, trotzdem Deine Frau Gemahlin noch schöner ist – und – na, Gustav, Du weißt, wie wir ihn nannten: Uhlenhans! Es ist wirklich ein bißchen ridicule.
Und Du hast allen Ernstes ganz und gar verzichtet?
Ja, mein Gott, rief Axel, das klingt fast, als ob Du es nicht wünschtest.
Wenigstens kann ich Dich versichern, erwiderte Gustav, wenn Hertha heiraten wollte – was ich ihr schließlich nicht verdenke – so wüßte ich niemanden, dem ich sie, alles in allem, lieber gegeben hätte, wie Dir. Aber ein Bruder – weißt Du – das hat etwas so – so – das läßt sich nur fühlen. Es mag Unsinn sein, Unrecht – möglich! Aber es ist. Es sitzt mir manchmal ordentlich in der Kehle – pah! und Gustav schenkte sich den Rest aus der Flasche in sein Glas, das er auf einen Zug leerte.
Axel schien in Nachdenken versunken. Hm, hm! sagte er. Du meinst also wirklich – denn wenn Du es nicht meintest – gut, wir wollen einen Vertrag machen. Ich will mit der Vorsicht, welche die Situation heischt, meine Bewerbungen um Hertha wieder aufnehmen. Ich werde deshalb mit meinen Alten einen furchtbar schweren Stand haben – doch das ist meine Sache. Vorläufig handelt es sich darum, daß ich hier wieder festen Fuß fasse. Dafür mußt Du sorgen; mußt mein Freund wie ehemals sein, mit dem ich täglich beisammen war 171 – verstehst Du? – Und wenn ich leicht an die Damen kommen soll und doch Fräulein Hertha nicht wohl den Hof machen kann –
Willst Du ihn meiner Frau machen dürfen; aber das versteht sich ja von selbst!
Und Du willst nicht eifersüchtig sein?
Wo denkst Du hin?
Abgemacht?
Abgemacht!
Sie schüttelten sich die Hände, die sie plötzlich losließen, als sie den Fürsten Prora und Hans auf dem Seitenpfade, der nach der Parkpforte führte, auf das Rondel heraustreten und auf sie zukommen sahen.
Eiligst erhoben sie sich und gingen den beiden Herren entgegen.