Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18

Zeitig am andern Morgen meldete Murillo, daß der Gang über Nacht freigelegt worden sei.

Paul Noster, mit dem Anziehen bereits halb fertig, nahm einen neuen Anlauf, verwickelte sich auf unbegreifliche Weise in die sonst zugänglichsten Kleidungsstücke und schrie zwischendurch immerfort nach Thea.

»Sie muß dabei sein«, keuchte er in der würgenden Umschlingung seines Hemdes, in das er verkehrt hineingefahren war, »sie muß unseren Sieg miterleben.«

Thea wohnte im ersten Stock unseres Hauses in einer Kammer am Ende einer hölzernen Treppe, und sie antwortete mit beschwingten und fröhlichen Zurufen, sie sei im Augenblick bereit.

Und dann lief sie erstaunlich übermütig für die drückende Schwüle die Treppe hinab, aber sie kam nur bis etwa zur Hälfte. Da gab es unter ihren Füßen einen Krach, und Thea stürzte, das eine Bein weit nach hinten gestreckt, noch einige Stufen kopfüber hinab und blieb dann mit schmerzlich verzerrtem Gesicht liegen. Ein Brett der Treppe war unter ihrem Tritt eingebrochen und hatte ihren Knöchel festgeklemmt.

Es dauerte eine gute Weile, ehe wir sie freigemacht hatten und in ihr Zimmer zurücktragen konnten. Sie war völlig zerschunden und zerschlagen, Schienbeine und Knie an einigen Dutzend Stellen abgeschürft und blutrünstig, vor allem aber machte uns der Knöchel Sorgen. Holzsplitter staken darin, er lief binnen wenigen Minuten zur Größe einer Wassermelone an, und jeder Berührung antwortete trotz aller Selbstbeherrschung ein Wimmern zwischen den zusammengepreßten Zähnen.

Wir hatten zuerst Angst, es könnte etwas gebrochen sein, nachdem Richard jedoch mit unendlicher Behutsamkeit alles abgetastet hatte, glaubte er, als einstiger Badergehilfe bei den Mensuren seines Korps, erklären zu können, es sei nur eine Quetschung oder Zerrung oder Verrenkung oder ein Muskelriß, oder sonst etwas dergleichen zur Auswahl.

Aus den Beständen unseres Arzneikastens machten wir, nachdem wir die Holzsplitter herausgezogen hatten, einen Umschlag und Verband. Und da auf Richards medizinische Kenntnisse doch kein unbedingter Verlaß war, sandten wir einen Boten nach Oaxaca, um einen richtiggehenden Arzt zu holen, soweit ein Arzt in Mexiko überhaupt richtig ging.

Jedenfalls war keine Rede davon, daß Thea uns begleiten konnte, und wir beschlossen, bei ihr zu bleiben. Aber sie war ein zu guter Kamerad, als daß sie das geduldet hätte.

»Was fällt euch ein«, sagte sie ganz beleidigt, »geht nur! Es ist zu dumm, daß mir das geschehen mußte. So ein Pech! Aber könnt ihr mir denn helfen? Vorwärts, geht nur, geht, geht!«

Sie hatte Tränen in den Augen, vielleicht ebensosehr aus Schmerz wie aus Kränkung über den Verzicht, aber uns wollte sie keine Hemmung sein, nein, um keinen Preis, und wir mußten ihr den Willen tun, wenn wir sie nicht offenbar tobsüchtig machen wollten.

Bei dem Loch in der Treppe blieben wir stehen und untersuchten es nach allen Richtungen, aber wir konnten nicht entdecken, daß die Bretter etwa morsch seien, und wir fanden auch sonst keine Erklärung des rätselhaften Unfalles. Es hatte den Anschein, als sei das sonst völlig gesunde Holz gerade an dieser Stelle von einer unvorstellbaren Gewalt durchstoßen, und daß Theas leichter Fuß diese Gewalt nicht besaß, war das einzige, was uns einleuchtete.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Paul kopfschüttelnd, »gestern war die Treppe noch ganz.«

»Ja – gestern«, sagte Richard mit einer besonderen Betonung.

Und während wir zur Arbeitsstelle gingen, hielt mich Richard am Arm zurück und flüsterte mir zu: »Merkst du was?« fragte er. »Thea hat einen Unfall gehabt, der es ihr unmöglich macht, mit dabei zu sein.«

»Wir werden gut tun, doppelt vorsichtig zu sein«, sagte ich. Und dann fügte ich nach einem Überlegen hinzu: »Aber Mister Forst ist schon zwei Tage gar nicht hier.«

»Hat er nicht einen vortrefflichen Vertreter zurückgelassen?«

»Domingo?«

»Ein schlauer Kerl! Er hält es für nötig, durch seine Abwesenheit gewissen Vermutungen vorzubeugen.«

»Du meinst – was man so Alibi nennt?«

»Hm!« machte Richard.

Ich glaube, die drei biblischen Männer im Feuerofen hätten an diesem Tage einen Tausch ihres Aufenthaltsortes mit dem unseren in Mitla abgeschlagen.

Der Himmel hatte sich grau umzogen, vom Kegel des Zempoaltepetl kam ein Glutwind herüber, die Wolke an seiner Spitze hatte sich gelöst und schwebte heran, und heiße Nadeln begannen unsere Gesichter zu zerstechen. Es war eine Polvareda im Anzug, eine Sandtrombe, mit fein zerriebenem vulkanischem Glas und Bimssteinstaub, eine richtige mexikanische Teufelserfindung aus dem Laboratorium der gräßlichen Götzen dieses Landes.

Auf Paul machte das alles keinen Eindruck, er sah nichts als die Öffnung in dem Hügel unter dem Tlaloc, der dort seine mächtigen Steinglieder hinlümmelte. Er war so in Verzückung, daß er schnurstracks hineinkriechen wollte, als sei dieses Loch der Eingang zur ewigen Seligkeit.

»Halt!« sagte ich, indem ich ihn am Ellenbogen packte. »Licht!«

Unsere Leute hatten elektrische Lampen bereitgestellt an langen Rollen von Leitungsdrähten, die zugleich als dreifacher Ariadnefaden in einem etwaigen Labyrinth zu verwenden waren. Im übrigen rissen sie sich keineswegs um die Ehre, die ersten zu sein, und überließen es völlig uns allein, zu entdecken, was etwa zu entdecken war.

Zuerst gingen wir aufrecht zwischen gemauerten Wänden hin, dann hörte das auf, und es kam Sand und Erde, und zugleich wurde der Gang so niedrig, daß wir uns bücken mußten.

»Wäre es nicht doch besser«, meinte Richard, »wenn wir vorher den Gang etwas stützen ließen? Das Zeug da ... ich weiß nicht, ob ihm viel zu trauen ist.«

Aber bei Paul war an kein Halten zu denken. Man hätte ebensogut von einem wildgewordenen Automobil verlangen können, es solle sich in einen Schubkarren verwandeln. Er glich einem dahinstürmenden Pferd, gestachelt von den Stechfliegen des Ehrgeizes. Und er drang uns mit solchem Ungestüm voran, daß wir kaum folgen konnten. Wir kamen an Wegteilungen, Paul witterte kurz und stürzte sich in eine der Mündungen und wir hinterdrein, indem wir den Leitungsdraht unserer Lampen ablaufen ließen.

Es war eine heillose Jagd durch die stickige Luft dieser Unterwelt, in den niedrigen Gängen, an deren Decke wir uns die Köpfe zerstießen.

Und auf einmal standen wir im Dunkeln.

Unsere drei Lampen erloschen gleichzeitig in unseren Händen.

»So, da haben wir die Bescherung«, brummte Richard, »Kurzschluß oder dergleichen ...«

»Wartet hier«, sagte ich, »ich gehe zurück. Ich lasse nachsehen.«

Ich tastete mich an meinem Ariadnefaden, dem Leitungsdraht, entlang, so rasch ich konnte. Nach wenigen Schritten fühlte ich schon, daß der Draht nicht mehr gespannt war, sondern schlaff in meiner Hand lag. Jetzt erst wurde ich mir der Gefahr in ihrem ganzen Umfang bewußt, und ich begann zu laufen, eine schwierige Aufgabe in dieser Dunkelheit, die von allen Seiten mit schwarzen Hämmern gegen meinen Schädel losdrosch. Nach einer Weile, vielleicht waren es nur Minuten, wurde es etwas besser durch einen undeutlichen Schimmer vor mir, wie von einem fernen Licht, und an einer Biegung glaubte ich einen Menschen zu sehen, der vor mir herlief und der mir eine beiläufige Erinnerung an diesen verdammten Gauner Domingo erweckte.

Aber gleich darauf kam's.

Es begann mit einem Knurren im Innern des Berges, dem ein Poltern folgte, Sand, Kies und Erde rieselten mir über Kopf und Schultern, die Wände schienen sich zusammenzudrängen und fielen mir in Trümmern vor die Füße. Und dann packte mich ein Windstoß von hinten und schleuderte mich wie ein Blasrohr mit solcher Gewalt nach vorn, daß mir Hören und Sehen verging. Hinter mir aber war Tumult und Zusammenbruch und Heulen des Abgrundes.

Ich raffte mich auf und sah, daß ich mich zwischen den gemauerten Wänden des Eingangs befand, die dem Einsturz standgehalten hatten. Unweit stand in der Türöffnung ein viereckiges Stück Dämmerung, ein Ausschnitt aus dem rettenden Tag.

Mit wankenden Knien lief ich nach vorn.

Unsere Leute hockten auf dem Boden und hatten die Hemden über den Kopf gezogen. Die Polvareda war losgebrochen, der Staubsturm peitschte die Gesichter mit den glühend heißen Glasnadeln und Bimssteinkörnern.

Ich riß Murillo das Hemd vom Kopf. »Habt ihr Domingo gesehen?« fragte ich.

Nein, sie hatten ihn nicht gesehen.

»Vorwärts«, brüllte ich, »sie sind drinnen verschüttet. Vorwärts, sie ersticken dort drinnen. Die Bagger her. Wo sind die Monteure?«

Die Monteure waren fort. Sie hatten die Maschinen im Stich gelassen, und Murillo hielt sein Hemd wie ein Dach über sich und zwinkerte mich an: »Wir können nicht ... die ganze Nacht gearbeitet, Excelencia ... und bei diesem Sturm.«

Man konnte die Augen kaum offen halten, aber so viel sah ich doch, um Murillo einen so wohlgezielten Tritt zu versehen, daß er in den Sand kollerte.

Von einer fremden Sprache lernt man immer allererst das Fluchen. Ich hatte nicht gewußt, wie weit ich schon über die Anfangsgründe des Spanischen hinaus war. Ich hätte das Blau vom Himmel heruntergeflucht, wenn eines da gewesen wäre.

Was? Sie wollten die Excelencias dort drinnen umkommen lassen?

Ich brüllte wie ein Besessener, um den Sturm zu überschreien, ich fuhr von einem zum andern, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie, bat, beschwor und versprach Extralöhne. Aber sie duckten sich noch mehr zusammen, schauten weg, wickelten sich in ihre Hemden.

»Der Sturm! Der Sturm, Excelencia! ... Keine Möglichkeit.«

Aber mir war klar, es war nicht der Sturm allein, der Sturm war nur eine willkommene Ausrede, sie verweigerten die Rettungsarbeiten, sie streikten im entscheidenden Augenblick aus einen geheimen Befehl, auf das Verbot eines, der über ihre Seelen noch mehr Macht hatte als alle Aussichten auf Geld.

Und dieser Sturm konnte einen wahnsinnig machen. Er füllte Mund, Ohren und Augen mit diesem niederträchtigen Glasstaub, er zerstach mit dem spitzen Hagel seines vulkanischen Sandes die Haut. Er peitschte eine unbändige Wut hoch, die Wut der Machtlosigkeit, ich hätte diese stumpf dahockende Gesellschaft ermorden mögen.

Verzweifelt schaute ich mich um. mit verschwollenen Augenlidern zwinkerte ich den Hügel an, und da merkte ich erst, was geschehen war. Der Tlaloc war fort, die steinerne Riesengestalt, die der Hügel getragen hatte, war verschwunden, eingesunken wie in einen weichen Brei. O Gott, und er hatte mit seinem Gewicht die Erdmassen in die Tiefe gedrückt, und wenn die beiden dort unten nicht schon erstickt und zerquetscht waren, so waren sie lebendig begraben.

Plötzlich hatte ich eine Eingebung.

Ich warf mich dem Sturm entgegen und arbeitete mich, halb blind und halb erstickt, durch die winselnden, von Windhosen zu Säulen zusammengedrehten Staubmassen unserem Haus zu.

Als ich ankam, konnte ich gerade noch zum letztenmal die Augen aufreißen, um den Eingang zu finden. Und da sah ich, gleich nebenan im Schuh der Treppe, einen Kinderwagen stehen, und neben dem Kinderwagen fast ein Mann aus der Erde und nickte mir zu.

Es war gewiß eine Täuschung gewesen, eine blödsinnige Vision, ein toller optischer Einfall meiner zermarterten Augen. Aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken und mich etwa zu fragen, wie Heinrich Schwarz, der Mann ohne Namen, hätte hierherkommen sollen.


 << zurück weiter >>