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Der Arzt aus Oaxaca, ein kleines Männlein, das aussah wie ein Provisionsvertreter des gelben Fiebers, fand statt eines Kranken deren drei. Er behandelte Theas Knöchel, Richards Abschürfungen und Quetschungen und Pauls Riß am Schädel und fand zum Glück an allem nichts Bedenkliches. Ich glaube, er hätte auch einen Blinddarmdurchbruch noch mit der gleichen heiteren Höflichkeit unwichtig genommen.
Er blieb drei Tage bei uns und hielt sich für verpflichtet, uns mit Neuigkeiten aus der großen Welt vollzustopfen. Neuigkeiten waren seine Hauptmedizin; vielleicht gehörte es zu seinen Grundsätzen, den Geist von den körperlichen Beschwerden auf Politik und andere anteilheischende Zeiterscheinungen abzulenken.
Ob wir es schon wüßten, der General Tezozomoc hatte sich von den Regierungstruppen bei Tlaxtaco eine Schlappe geholt und war in den Staat Guerrero abgedrängt worden. In die dortigen Berge – oh, kein schöner Aufenthalt! Aber die Regierung wäre darum doch nicht sehr gut daran. Oh, Tezozomoc hatte einen Bundesgenossen, vielmehr eine Bundesgenossin, Martha Mirar –
»Die Sängerin!«
Ja, Martha Mirar, die große Sängerin, die europäische Nachtigall! Sie sang in Mexiko, in der Hauptstadt selbst, in ihren Konzerten Spottlieder aus die Regierung und Lobgesänge auf Tezozomoc. Und sie sammelte ganz offen Gelder für die Revolution. Und die Regierung wagte nicht einzuschreiten, denn Mexiko lag der Künstlerin zu Füßen, das ganze Land war in einem Taumel der Bewunderung, man wäre über die Regierung hergefallen, wenn sie Martha Mirar ein Haar gekrümmt hätte. Und noch eine Verlegenheit für die Regierung: Señor Quirago hatte gleichfalls eine Revolution angezettelt und strebte die Präsidentschaft an.
»Quiroga? Der Kapitän des Dampfers ›Montezuma‹?«
Ob wir mit ihm bekannt wären? Ach ja, richtig, er erinnere sich. Unsere Rettung – wirklich eine Heldentat dieses Mannes. Ja, dieser selbe Señor Quiroga. Er hatte es verstanden, die Begeisterung über diese Heldentat für sich auszunützen. Er war der Heros der ganzen Nation. Wenn es ihm noch gelänge, Martha Mirar für sich zu gewinnen, so wären beide – die Regierung und Tezozomoc – an die Wand gedrückt.
Und dann gab er eine Darstellung der politischen Beziehungen der Parteien, die so verwickelt war, daß ich lebhaft an die Aufklärungen Paul Nosters über die mexikanische Vorgeschichte erinnert wurde.
Als er uns nach drei Tagen verließ, hatten wir alle auf Jahre hinaus vollkommen genug von mexikanischer Politik.
Seine Abreise fiel mit Mister Forsts Rückkehr zusammen, und unser Freund zeigte sich äußerst bestürzt über das Vorgefallene. Er bedauerte Thea, schüttelte den Kopf über die Einsturzgeschichte, und so einig wir uns über die Zusammenhänge waren, konnten wir doch gar nichts sagen. Sein Alibi war meisterlich angelegt und tadellos gelungen, bis auf den unbedeutenden Umstand, daß er sich auffälligerweise gerade unmittelbar vor der Entscheidung entfernt hatte.
Aber ich meine, ich hätte mir eher die Zunge ausreißen lassen, als die Frage zu unterdrücken: »Was sagen Sie zu dem Schurken Domingo?«
»Sie werden zugeben müssen,« erwiderte Forst sanftmütig, »daß er Sie durch mich von den Mächten der Tiefe hat warnen lassen.«
»O ja«, sagte ich, »aber ich glaube, er wird ihnen schon ein wenig nachgeholfen haben, diesen Mächten, warum wäre er wohl seither verschwunden?«
Mister Forst lehnte die Beantwortung dieser Frage mit einem Achselzucken ab, und ich ließ es vorläufig dabei bewenden.
Übrigens waren unsere Verwundeten nach kurzer Zeit wiederhergestellt. Theas Fuß nahm seine frühere betörende Schlankheit an, und Richard hinkte bald im Hause herum, dessen geringe Erdbebenschäden unter seiner Aufsicht ausgebessert wurden; am längsten dauerte es bei Paul Noster, vielleicht deshalb, weil er sich keine Ruhe gönnte und trotz unserer Einwände, kaum daß seine Wunde notdürftig verheilt war, sich aus den Arbeitsstellen herumtrieb.
Die Regenzeit hatte mit dem Wolkenbruch nach dem Erdbeben begonnen und sandte uns um zehn Uhr vormittags einen täglichen Guß, der bis ein Uhr dauerte. Kaum war die letzte Kanne Wasser heruntergekommen, so war Paul nicht zu halten und lief seine Front ab, von Unrast getrieben und in einer Laune, die uns alle besorgt machte.
Ich benützte die Zeit, um einige Artikel zu schreiben und heimzusenden. Ich hatte den größten Erfolg mit diesen Berichten, die von Sachkenntnissen nur so trieften und wegen ihrer verwegenen Gedankenrösselsprünge Aufsehen erregten. Die Verwirrung, die ich in der mexikanischen Mythologie anrichtete, war ungeheuerlich und hatte den Reiz, von einem gediegenen Gewährsmann zu stammen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe die gelehrte Welt mit den Brocken fertig geworden, die ich ihr hingeworfen hatte. Ferner beschäftigte mich die Entfettungskur von Domingos Masthund, dem ich nicht hatte umhin können, den Namen Tlaloc beizulegen. Ich hatte genaue Diätvorschriften für ihn entworfen, die eine tägliche Herabsetzung seiner Mahlzeiten vorsahen, und lief stundenlang mit ihm spazieren, während er seinen noch immer ansehnlichen Bauch schnaufend auf feinen kurzen Beinchen hinter mir dreinschleppte.
Dabei hatte ich noch einen zweiten Begleiter, der mich nie verließ und mir mit gleicher Hundetreue anhing: den Mann ohne Namen.
Was Herrn Heinrich Schwarz anlangt, so war die Geschichte so einfach wie nur möglich. Er mochte aus unseren Gesprächen auf dem Schiff irgendwann den Namen Mitla aufgeschnappt haben und hatte sich sogleich nach seiner Landung in Vera Cruz auf den Weg gemacht. Er hatte den Kinderwagen vor sich hergeschoben und war hinterdrein gewandert. So langte er wirklich glücklich bei uns an, behütet von der Einfalt seines Gemütes und der Scheu naturnaher Völker vor Menschen beschränkten Geistes. Und nun schien er völlig damit zufrieden, bei uns zu sein, denn als ich ihn einmal fragte, wann er seine Weltwanderung fortzusetzen gedenke, enttäuschte er meine Hoffnung durch die bündige Auskunft: »Angekommen!«
Wir waren auf einen toten Punkt geraten, kein Zweifel, und es war seltsam genug, daß gerade Señor Enrico es sein sollte – die Arbeiter nannten den Fremden so, und auch wir gewöhnten uns daran, ihm diesen Namen zu geben –, der uns weiterbrachte und die Entscheidung herbeiführte.
Eines Tages trafen wir auf unserem Spaziergang beim Los sieben mit Paul zusammen. Er stand am Rande der Grube, in der die Arbeiter die vom Wolkenbruch des Vormittags hereingeschwemmten Erdmassen mit der schönen Gelassenheit von Leuten, die viel Zeit haben, wegschaufelten. Er starrte hinein, erschöpft, zermürbt von der Ergebnislosigkeit seines Suchens und doch verhext von seinem wahnsinnigen Verlangen, endlich die Beweise für seine Behauptungen zu finden.
Als ich zu ihm trat, schaute er auf, ganz verstört, mit dem Ausdruck eines Besessenen.
»Frag mich nicht«, schrie er mich an, obzwar ich mich wohl gehütet hatte, ihn zu fragen, »nichts ... nichts ... nur diesen Kram da.« Und er stieß mit dem Fuß in einen Haufen Scherben, die da herumlagen, Reste von Tongefäßen, zerbrochenen Klingen aus Obsidian, Zeug, das wie Fragmente von Weiberkämmen aussah, kleine steinerne Hausgötter.
Es war bedenklich, daß Paul dies tat. Denn wenn es auch Scherben waren, so waren es immerhin Scherben von zapotekischen Altertümern, und es ist gewiß, daß Paul sie in normaler Geistesverfassung mit der größten Hochachtung behandelt hätte.
»Es muß etwas geschehen«, murmelte Paul, »es muß etwas geschehen.«
Ja, so viel stand fest, daß etwas geschehen mußte. Und wenn auch nichts sonst, so doch dies, daß wir, sofern es nicht anders ging, Paul in eine Zwangsjacke steckten und gewaltsam heimverfrachteten, wie ich es Thea schon einmal heimlich anzudeuten gewagt hatte, ohne viel Widerspruch zu finden.
»Armer Mann traurig!« sagte Enrico, als wir unseren Spaziergang fortsetzten.
Ich weiß nicht, wieweit sich der Mann ohne Namen klar darüber war, welchen Sinn die ganze Graberei hier hatte, aber vielleicht genügte ihm die Witterung für verborgene Dinge, die er damals vor dem Erdbeben bewiesen hatte, um ihm auch die unterirdischen Vorgänge im Menschen begreiflich zu machen.
Am Abend brachte ich alle Karten herbei, die wir von Mitla ausgenommen hatten. Es waren sehr genaue Karten, das Ergebnis langer Arbeit, Pläne in ganz großem Maßstab, und es waren darin die geringsten topographischen Einzelheiten eingezeichnet, die überhaupt in Betracht kommen konnten, die Baulose und die Mauerreste und die Fundstellen des unbedeutendsten Gerümpels. Thea, deren Aufgabe dies war, hatte sich ihr mit der größten Sorgfalt gewidmet.
Diese Karten breitete ich auf dem Tisch aus, und dann begann ich eine Ansprache: »Meine lieben Freunde, es muß etwas geschehen, hat heute unser Paul gesagt. Jawohl, das ist die Wahrheit. So geht es nämlich nicht weiter. Wir verpulvern hier Zeit, Kraft und Geld offenbar umsonst. Ich will nicht sagen, daß Pauls Hypothese falsch ist ...«
Paul ließ die Faust auf den Tisch fallen und funkelte mich zornig an.
»Gewiß ist sie vollkommen richtig. Aber vielleicht suchen wir am falschen Ort. Vielleicht ist das Grab, um das es sich handelt, gar nicht in Mitla zu finden. Diese Ruinen sind wohl schon nach allen Richtungen durchforscht worden, die Bedeutungslosigkeit der bisherigen Funde läßt es vermuten. Wenn sich dies bestätigen sollte, so tun wir wohl am besten, unsere Arbeit hier aufzugeben.«
»Aufgeben?« schrie Paul, indem er aufsprang, »aufgeben? Niemals!«
»Darum habe ich ja die Karten geholt«, beschwichtigte ich ihn, »damit wir die Möglichkeiten noch einmal überprüfen, die uns übrigbleiben. Wir haben es bisher auf praktischem Weg versucht, nun meine ich, sollten wir es auf dem Weg der Schlußfolgerungen unternehmen. Fünf erleuchtete Köpfe wie wir« – ich sah Mister Forst an, er war der fünfte Kopf – »sollten doch wohl imstande sein, so viel Scharfsinn aufzubringen. Wenn aber auch dabei nichts herauskommt ...«
Es war ein Rückzugsgefecht, und ich versprach mir etwas davon, daß es uns in seinem Verlauf gelingen würde, Paul zu überzeugen, besagte Möglichkeiten seien erschöpft.
Er packte mit zitternden Händen eines der Blätter und zog es zu sich heran. Und wir anderen nahmen auch jeder eines und stürzten uns mit Eifer auf das Studium. Eine Weile sprach ein jeder, ohne dem anderen zuzuhören, es waren lauter Selbstgespräche, Ausrufe, Fragen an sich selbst, Antworten darauf, und noch war niemand so weit, daß er den anderen hätte mitteilen können, was ihm sein Scharfsinn eingegeben habe.
Plötzlich kam zwischen meiner Nachbarin Thea und mir eine Hand hindurch, und der Mann ohne Namen sagte: »Das da – wird finden!«
Thea hatte sich mit beiden Armen auf den Tischrand gestützt und betrachtete weit vorgebeugt mit brennenden Augen den Plan, der vor ihr lag. Die Halskette der Königin Tamara baumelte gerade über dem Kartenblatt. Und der etwas schmutzige ausgestreckte Finger der zwischen uns erschienenen Hand deutete auf die kleine Steinkugel mit dem verwischten Bild einer Eidechse, die in der Mitte der Kette befestigt war.
Es war Richard, der zuerst verstand: »Er meint ...«, sagte er halblaut, »das siderische Pendel. Wir sollten diese Kugel dazu benützen.«
Ich ahnte neue Verwicklungen, die meine Absichten stören könnten. »Lächerlich«, sagte ich mit tunlichster Verachtung, »hast du nicht genug an der Geschichte mit Domingos Köpfen?«
»Das war eine Irreführung«, beharrte Richard, »wir sind unter fremden Gedanken gestanden. Wir sollten auf eine falsche Fährte gebracht werden. Aber wenn Fräulein Thea selbst wollte ... ihre Aura ist wohl stark genug, sich von feindlichen Gegenwirkungen nicht durchdringen zu lassen.«
»Ich sehe nicht ein«, sagte Thea, »warum wir den Versuch nicht machen sollten?« Damit hatte sie schon die Kette vom Hals genommen. Meine Ansprache, die Einwände des gesunden Menschenverstandes, die ich vorbrachte, wurden einfach hinweggefegt, mit solcher Leidenschaft hatten sich alle, mit Ausnahme Mister Forsts, der Anregung bemächtigt.
Er sagte, er wüßte nicht, wozu dieses kindliche Pendelspiel gut wäre, und man sollte lieber die Hände davon lassen.
Richard aber hatte das Taschenmesser gezückt und die Kette der Königin Tamara zu bearbeiten begonnen. Er bog mit Leichtigkeit die Glieder der kleinen Goldskorpione auseinander und ließ den graugrünen Stein in die Hand Theas gleiten.
»Ein Haar!« jagte er mit einer demütigen Verzücktheit, als bäte er um eine unerhörte Gunst, »jetzt brauchen wir noch ein Haar von Ihnen.«
Thea griff lächelnd in ihren Lockenkopf und zog einen der goldschimmernden Fäden hervor.
Richard nahm ihn mit zitternden Händen in Empfang und befestigte ihn an der Kugel. »Und nun halten Sie es so ... die Ellenbogen müssen Sie auf den Tisch stützen ... so ... gut, daß die Kugel frei zwischen Ihren Fingern schwebt. Und nun wollen wir die Blätter der Reihe nach durchnehmen.« Er schien sich schon früher mit dergleichen Dingen beschäftigt zu haben, vielleicht hatte er bei den Buddhisten ähnliche Versuche vorgenommen.
Für uns alle war nun die kleine graugrüne Kugel der Mittelpunkt gespanntester Aufmerksamkeit. Aber sie hing, leise bebend, zwischen Theas Fingern herab, ohne eine stärkere Erregung zu zeigen. Richard schob ihr ein Kartenblatt nach dem anderen unter, sie rührte sich nicht mehr, als dem Pulsen des Blutes und dem Atmen der Frau entsprach, das in sie überging.
Ich begann mir schon zurechtzulegen, wie ich das Mißlingen des Versuches für meine Absichten ausnützen sollte, als die Kugel plötzlich in Unruhe geriet. Sie schwankte über dem Papier hin und her und machte einige unschlüssige Bewegungen. Es war das Blatt, das die Umgebung der kleineren Stufenpyramide darstellte, über dem die Kugel lebendig geworden war.
»Suchen Sie! Suchen Sie!« drängte Richard.
Thea nahm den Plan Stück für Stück vor. Die Kugel fuhr fort zu zittern und zu schwanken, pendelte erregt herum, und auf einmal rundeten sich ihre Bewegungen zu einem Kreisen ab. Die Kreise wurden immer deutlicher und enger, und nun schwang sie in vollkommener Klarheit wie erlöst über einer bestimmten Stelle der Karte.
»Es ist der Wasserfall!« sagte Richard, indem er uns überrascht ansah.
Ja, es war die Stelle, wo der Wasserfall eingezeichnet war, der über die Felswand hinter der Pyramide herabstürzte und unsere Dynamomaschine trieb.
»Wünschen die Herrschaften noch weitere Beweise?« sagte ich. »Der Wasserfall! Man könnte ebensogut behaupten, dieser Quetzalcoatl liege in Enricos Kinderwagen.«
Ich schaute mich triumphierend um, sie machten alle verdutzte Gesichter, bis auf Mister Forst, der seine Meinung hinter seiner steinernen Maske verbarg. Und noch ein Gesicht war da, das ich erst jetzt bemerkte, das unserer Köchin, die, ich weiß nicht wann, hinzugekommen war und nun mit dem ungebändigten Ausdruck wilder Gehässigkeit aus die schlanken Finger starrte, die das kreisende Kügelchen hielten.