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23

Und nun setzte jene Reihe seltsamer Begebenheiten ein, die meine Bekehrung zur Folge hatten.

Ihre genaue, aktenmäßige Beschreibung auf Grund meines Tagebuches hat mir die Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft für psychische Forschungen in London, des Vereins »Neues Licht« in Hamburg, der Berliner Okkultistengesellschaft, des magischen Klubs in Wien und einer Anzahl anderer ähnlicher Verbände und Brüderschaften verschafft und mir den Ruf einer Autorität auf dem Gebiet des Übersinnlichen eingetragen.

Jene seltsamen Begebenheiten begannen am selben Tage, an dem die Eröffnung der Grabkammer in Angriff genommen wurde.

Ich hatte auf einem Spaziergang die Grundzüge des neuen Artikels für meine Zeitung entworfen und kehrte in der Dämmerung heim, voll des Verlangens, gleich mit der Niederschrift anfangen zu können, ehe sich meine Einfälle wieder verliefen. Als ich ins Haus kam, hörte ich das Geklapper der Schreibmaschine im gemeinsamen Arbeitsraum zur ebenen Erde neben dem Wohnzimmer.

Ich trat ganz unbefangen ein, um Thea, die ich bei der Arbeit wähnte, zu fragen, wann die Maschine für mich frei würde.

Aber ich blieb erstaunt an der Tür stehen. Kein Mensch war im Zimmer, niemand saß an der Maschine, und dennoch klapperte sie; ich sah, wie die Taster niedergedrückt wurden und wie die Typen gegen einen Bogen weißen Papieres schlugen, der ganz ordentlich über die Walze gespannt war. Dann gab es einen Ruck, und der Hebel führte die Walze zu neuer Zeile herüber. Es waren unsichtbare Hände, die da schrieben.

Ich stand eine ganze Weile wie betäubt, und auch, als die Maschine verstummt war, wagte ich mich nicht gleich heran. Dann aber kam ich vorsichtig näher und las im letzten Schein des Tageslichtes die Worte, die auf dem Bogen standen. Es waren zwei Zeilen in spanischer Sprache, und sie lauteten: »Noch einmal in letzter Stunde. Ich warne euch. Laßt die Hände von dem Grab des weißen Königs, denn sonst entbindet ihr das Verderben.«

Zitternd nahm ich das Papier aus der Maschine und steckte es zu mir, und ich sprach zu keinem Menschen von dieser Sache, noch immer bereit, eher meinen Sinnen zu mißtrauen, als meine Überzeugungen aufzugeben.

Aber noch am selben Abend ereignete sich die Geschichte mit Theas Strumpf.

Wir saßen alle beisammen, mit Ausnahme von Mister Forst, der sich jetzt selten in unserer Gesellschaft aufhielt, in der er immerwährenden Angriffen Richards ausgesetzt war. Thea hatte ihre Strümpfe vorgenommen, um einige Schäden auszubessern, eine hausfrauliche Betätigung, die sonst immer nicht wenig zum Behagen unserer Abende beitrug, und Paul spann einen sagengeschichtlichen Vergleich zwischen Quetzalcoatl und dem Kaiser Barbarossa aus, der ja auch nur in einem Berg schlief, um dereinst wiederzukehren.

Theas Pensum an löcherigen Strümpfen lag auf einem Stuhl am Rand der beschränkten Reichweite der Azetylenlampe, die nun das elektrische Licht ersetzen mußte.

Mir ging die Sache mit der Schreibmaschine im Kopf herum, und ich hörte kaum auf Pauls umständliche Darlegungen hin. Plötzlich, wie es bei solchem Dahindämmern der Gedanken zu gehen pflegt, zog eine unbedeutende Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war mir, als rühre sich etwas auf dem Haufen der Strümpfe. Einer von ihnen richtete sich auf, glitt vom Stuhl herunter und schwebte frei in der Luft. Und dann füllte sich die schlaffe, blasse seidige Schlangenhaut, rundete sich, wurde Körper, als schmiege sie sich einem Bein an, das niemand sah. Und im gleichen Augenblick packte mich Richard am Arm und keuchte: »Es ist Anita ... Anita ... sie zieht Theas Strumpf an.«

Von einer Anita konnte keiner von uns etwas wahrnehmen, aber das sah ich, das sahen wir alle, daß der Strumpf über ein unsichtbares Bein gezogen und sodann auf den Boden niedergelassen wurde. Da stand er etwa zwei Minuten lang, zwei Schritte von unserem Tisch, und dann wurde er wieder abgestreift und schwebte leer und schlaff auf seinen Platz zurück.

Wir waren längere Zeit unfähig, zu sprechen. Grauen hatte uns angerührt. Aber dann, da nun Zeugen eines ähnlichen Vorganges zugegen gewesen waren, zog ich das beschriebene Papier hervor und ließ sie die Warnung lesen. Man kann sich schwer ausmalen, wie solche Ereignungen auf eine Gesellschaft sonst ganz vernünftiger Menschen wirken, die aus einmal die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung unterbrochen und durch Unerklärliches ersetzt sehen. Und ich gestehe, ich hätte jeden für einen Lügner und Betrüger erklärt, der mir vierundzwanzig Stunden vorher etwas dergleichen erzählt hätte.

Wir schwiegen, und nur unsere bebenden Seelen drängten sich, gegenseitig Schutz suchend, aneinander.

»Paul«, sagte Thea, und es schwang eine Unendlichkeit von Hingabe und Besorgnis in dem einen Wort.

Paul starrte den schlaffen Strumpf an und dann das Papier, das ich ihm hingelegt hatte. »Nein«, sagte er, »nichts soll mich abhalten. Morgen ... spätestens übermorgen ...«

Am nächsten Abend beschlossen wir, nicht daheim zu bleiben, sondern die Stunden vor dem Schlafengehen auf der Plattform der Pyramide zu verbringen. Nach den täglichen Regengüssen waren die Nächte immer klar und kühl. Wir rechneten auf die erhabene Unendlichkeit des südlichen Sternenhimmels, und überdies hatten wir auch irdische Bundesgenossen gegen Gespensterfurcht dort oben: die Antenne und den Lautsprecher. Und als weitere Hilfstruppe hatte ich einen ganzen Korb mit Wein hinaufschaffen lassen.

Wir waren an diesem Abend krampfhaft aufgeräumt, Richard trank unglaubliche Mengen, ich blieb nicht weit hinter ihm zurück und erzählte Witze von einer Ehrwürdigkeit, die den Ruinen von Mitla wenig nachgab.

Aber dessenungeachtet warteten wir. Wir warteten.

Als mir endlich die Witze ausgingen und die Aufgeräumtheit in sich zusammensank, schaltete ich den Radioapparat ein, und wir kamen mitten in eine Kundgebung der Regierung, zu deren Verbreitung sie sich des Funksenders bediente. Sie benützte ihn als eine Art Nürnberger Trichter für Politik und goß durch ihn in die Gehirne der Bevölkerung eine Fülle von Lobeserhebungen ihrer eigenen Weisheit, Klugheit, Mäßigung, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Tatkraft. Die Revolution Tezozomocs war vollständig niedergeschlagen und im Erlöschen, und was das Pronunciamiento Señor Quirogas betraf, so war er an die Küste zurückgedrängt und werde demnächst aus seinen Stützpunkten Tampico und Vera Cruz ohne Gnade und Barmherzigkeit ins Meer geschmissen werden.

Plötzlich brach der Herold der Regierung mitten im Satz ab, und es gab eine Zeitlang nichts als ein verworrenes Getöse vor dem Sender, in das einige scharfe Knalle hineinschlugen.

»Schüsse!« sagte Richard, »es hört sich an wie Schüsse!«

Und dann trug die Welle eine andere Stimme heran, die den Bürgern und Bürgerinnen des glorreichen Landes Mexiko die freudige Mitteilung machte, daß die Freiheit gesiegt habe. Die Truppen der Ciudadela von Mexiko hätten sich gegen die unerträgliche, lügnerische und verräterische Regierung erhoben und diese Bande unfähiger Idioten, die Feinde des Vaterlandes, verjagt, und General Treviño habe sich für den Don Quiroga erklärt. Einige seiner Regimenter würden in den nächsten Stunden in der Stadt Mexiko einziehen, während Excelencia Quiroga selbst sich gegen den Volksbetrüger Tezozomoc gewendet habe und schon im Begriff sei, ihm den Garaus zu machen.

Hierauf brach aus dem Lautsprecher ein musikalischer Höllenlärm hervor, offenbar ein Siegesmarsch der Aktiengesellschaft Quiroga und Treviño, bis auch dieser plötzlich abbrach.

»Gott mag wissen«, sagte Richard, »wer jetzt eben wieder gesiegt hat.« Er stand auf und versuchte die Welle wieder einzufangen, aber es kam nichts mehr, der Lautsprecher blieb stumm.

In dieses Schweigen drang ein Geräusch, ein Knarren, Quieken und Poltern, das aus der Dunkelheit herankam und an der Flanke der Pyramide immer höher hinanstieg. wir wußten keine Erklärung dafür, aber es steigerte sich sogleich jene Vorahnung eines sich nähernden Unheimlichen, die wir den ganzen Abend über inmitten der politischen Tragikomödie im Rundfunk nicht losgeworden waren.

Richard, der an den Rand der Plattform getreten war und hinabgespäht hatte, wandte sich um und sagte verstört: »Es ist der Kinderwagen ... Enricos Kinderwagen.«

Ja, es war Enricos Kinderwagen, der da herankam, das konnten wir nun alle deutlich sehen. Er fuhr bergan, fuhr über die Trümmerhalde der zerstörten Treppenstufen, polternd und knarrend, er kletterte ganz gegen alle Gesetze der Physik über diese schiefe Ebene hinauf, über Steine und Schutt, geschoben von einer unsichtbaren Kraft. Als er etwa einen Meter unterhalb der Plattform angekommen war, unweit der Stelle, wo wir alle zusammengedrängt standen, machte er halt, schwankte, und dann setzte er sich zögernd nach rückwärts in Bewegung, als sei er nun wieder sich selber und der Wirkung der Schwerkraft überlassen. Er rollte bergab, immer schneller, hüpfte ächzend über die Trümmer und verschwand in der Dunkelheit.

Das Geräusch seiner Talfahrt war noch nicht verklungen, als sich das begab, was mir unter all den unheimlichen Erscheinungen dieses Tages am tiefsten und schmerzlichsten ans Herz griff. Mein Hund Tlaloc, der zuerst zusammengerollt neben uns gelegen hatte, war beim Herannahen des Kinderwagens aufgestanden und hatte sich zitternd und wie hilfesuchend an meine Füße gedrängt.

Auf einmal wurde er von mir weggezogen und bewegte sich nach rückwärts. Er stemmte widerstrebend die Pfoten ein, und seine Augen waren in maßlosem Entsetzen auf mich gerichtet, aber es war, als hätten die unsichtbaren Hände, die den Kinderwagen bergauf geschoben, diesen nur losgelassen, um sich des armen Hundes zu bemächtigen. Ich stand völlig erstarrt und konnte nichts dagegen tun, daß er vor unseren Augen entführt wurde, über die verschütteten Treppenstufen hinab, denselben Weg, den der Kinderwagen genommen hatte, bis auch über ihn die Dunkelheit zusammenschlug.

Und dann hörte ich seinen Aufschrei, einen kläglichen, verzweifelten Schrei, der rasch in ein Röcheln endete.

Jetzt war mir der Gebrauch meiner Glieder wiedergegeben, ich warf die Lähmung von mir ab und raste die Leiter hinunter, den Revolver in der Hand. Unten stolperte ich über etwas und fiel hin, und als ich den Strahl meiner Taschenlampe auf das Ding richtete, das mich zum Sturz gebracht hatte, sah ich, daß es die Trümmer des Kinderwagens waren, der am Fuß der Pyramiden zerschellt war.

Ich raffte mich auf und drang gegen das Kakteengestrüpp vor, aus dem mir der Aufschrei meines Hundes gekommen zu sein schien. Es waren altersgraue, mächtige Pflanzen von Manneshöhe, mit abscheulichen sichel- und hakenförmigen Dornen und messerlangen spitzen Stacheln bewehrt.

Ich brauchte nicht lange zu suchen.

An einem der graugrünen Säulenschäfte hing hoch über meinem Kopf ein weißes Bündel. Es war die kleine Leiche meines Hundes Tlaloc. Er war mit dem Genick an einen der Stacheln aufgespießt, und quer über seine Brust ging eine klaffende Wunde, derselbe Opferschnitt wie der über die Brust der Steinfigur des Geopferten in Quetzalcoatls Grab. Und ich sah, daß man dem Hund das Herz ausgerissen hatte, wie es alter heiliger Brauch der Opferpriester dieses verdammten Landes gewesen war.

Plötzlich stand jemand neben mir. Es war Enrico, der mir gefolgt war und sagte: »Domingo!«

»Meinst du, daß es Domingo gewesen ist?«

Enrico deutete mit dem Finger nach der Leiche meines Hundes und sagte noch einmal und mit Nachdruck: »Domingo!«


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